Seenotrettung der Iuventa: „Die Aussicht in Libyen irgendwo verscharrt zu werden, ist Antrieb genug“

Über eine Crowdfunding-Kampagne kauften eine Hand voll junger Menschen 2016 einen umgebauten Fischkutter und taufen ihn auf den Namen „Iuventa“. Nach fast zwei Jahren Einsatz im Mittelmeer und ca. 14.000 geretteter Menschen wurde das Schiff im August 2017 beschlagnahmt und vom italienischen Staat Ermittlungen gegen die Crew um Kapitänin Pia Klemp eingeleitet.

Nach Schätzungen des Projekts The Migrants Files starben seit dem Jahr 2000 ungefähr 23.000 Personen bei dem Versuch, Europa zu erreichen – davon 3.800 im Mittelmeer. Die Route über das Mittelmeer gilt laut IOM als die gefährlichste Fluchtroute der Welt. Rainer Hackauf hat für mosaik mit Florian Stadler gesprochen. Der „Head of Mission“ der Iuventamos ist im Rahmen des diesjährigen Crossroads-Festival in Graz zu Gast.

Mosaik: Im Juni 2018 gab die italienische Staatsanwaltschaft bekannt, dass sie gegen zehn Besatzungsmitglieder der Iuventa wegen Schlepperei ermittelt. Es drohen bis zu 20 Jahre Haft. Was ist aktueller Stand der Dinge?

Florian Stadler: Es gibt nach wie vor noch keine Anklage gegen die Leute von der Iuventa. Das hat damit zu tun, dass die Beweisaufnahme immer noch nicht abgeschlossen ist, also immer noch ermittelt wird. Es ist also offen, ob es zu einer Anklage kommt oder nicht. Nachdem der Ermittlungsdruck aber so hoch ist und auch die bisherigen Kosten dafür immens sind, gehen wir eher davon aus, dass es zu einer Anklage kommt. Wenngleich unklar ist, wer von den zehn Leuten schlussendlich angeklagt wird oder auch weswegen genau.

Eure NGO Jugend Rettet, die hinter der Iuventa steht, wurde 2015 gegründet. Die aktuelle Situation auf dem Mittelmeer hat sich seitdem – durch das „Schließen“ der Balkanroute sowie das EU-Türkei-Migrationsabkommen – stark verändert. Wie sieht sie aktuell aus?

Die Situation hat sich massiv verändert und ist so schlimm wie kaum zuvor. Die Fluchtroute über das Mittelmeer hat sich weg von der türkisch-griechischen Küste hin in Richtung zentrales Mittelmeer verlagert. Im Schnitt war die Strecke vorher acht Meilen, nun reden wir von 360 Meilen, die Geflüchtete hinter sich bringen müssen. Das ganze auf Schlauchbooten, die nicht für diese Anzahl an Personen und vor allem solche Strecken geeignet sind. Dadurch sind die Todeszahlen wahnsinnig in die Höhe gegangen.

Um die Rettungskapazitäten zu steigern sind in der Folge immer mehr NGOs aber auch Militärschiffe eingesetzt worden. Durch den politischen Umschwung in Italien ist es jedoch nicht nur zu massiven Anfeindungen gegen NGOs gekommen, auch die Rettungsmissionen sind fast gänzlich zum erliegen gekommen. Viele der ehrenamtlichen Retter sind nicht mehr in der Lage auf See zu fahren. Schiffe wurden konfisziert oder mit fadenscheinigen Ausreden – wie falscher Beflaggung, fehlender Registrierungen oder Dokumenten – an der Ausfahrt gehindert. Wenn Schiffe ihr Auslaufen rechtlich doch durchsetzen können, hindert man sie dafür an der Einfahrt in einen Hafen, bis klar ist, an welche Länder die Geflüchteten auf einem Schiff aufgeteilt werden.

Und welche Rolle spielt Libyen dabei?

Europa hat auf zweierlei Maßnahmen gesetzt. Einerseits hindert man Seenotretter an ihrer Arbeit, andererseits hat man Libyen massiv aufgerüstet. Die libysche Küstenwache sollte einen Großteil der Aufgaben der EU übernehmen. Dazu wurden so genannte Rettungszonen vor Libyen geschaffen. Auch eine Rettungsleitstelle in Libyen wurde eingerichtet. Diese Rettungsleitstelle funktioniert jedoch nicht wie international üblich. Sie ist nicht rund um die Uhr besetzt, kaum zu erreichen und wenn doch, kommt man in der Regel an eine Person, die kein Englisch spricht. Damit wird eine Koordination von Rettungseinsätzen natürlich unmöglich. Stattdessen hat man eine schwer bewaffnete Miliz durch europäische Sicherheitskräfte ausgebildet. Diese ist auf aus Europa gesponserten Schiffen unterwegs. Nicht, um Geflüchtete zu retten, sondern um sie an der Weiterfahrt nach Italien zu hindern. Es handelt sich dabei also um illegale Push-Backs. Man fängt Leute ein, bringt sie nach Libyen zurück und sperrt sie dort in eine Art von Konzentrationslagern ein.

In Italien hat es einen Regierungswechsel gegeben, Salvini ist nicht mehr Innenminister. Welche Auswirkungen hat das auf eure Arbeit bzw. Seenotretter_innen vor Ort?

Die Kommunikationskanäle zwischen NGOs und Salvini sind komplett zum erliegen gekommen. Salvini ist bekanntlich ein rassistischer Hardliner. Die Situation hat sich nach seinem Abgang zumindest in der Kommunikation etwas entspannt. Konkret betrifft das die Verteilung von geretteten Flüchtlingen. Hier werden nun schneller Lösungen gefunden. Einfach in Häfen einlaufen und gerettete Geflüchtete an staatliche Einrichtungen übergeben, wie das lange üblich war, können die Schiffe aber immer noch nicht wieder. Italien hält sich mit der Aufnahme von Geflüchteten immer noch extrem zurück. Die Hoffnung ist natürlich, dass es in Zukunft eine bessere Lösung gibt und man gerettete Menschen nicht auf See warten lässt.

Hat der Angriff der Türkei auf Nordsyrien eine Auswirkung auf die Fluchtrouten über das Mittelmeer?

Der Angriff hat vorletzte Woche begonnen, so schnell verlagern sich Fluchtrouten in der Regel nicht. Daher kann ich da keine eindeutigen Aussagen treffen. Die Gebiete, die in Nordsyrien betroffen sind, sind zudem Regionen in denen Menschen leben, die selber am Aufbau in den letzten Jahren beteiligt waren. Die Menschen dort werden die Region daher wohl auch nicht einfach verlassen, sondern eher innerhalb des Landes und der Region flüchten.

Was natürlich schon sein kann, ist dass Erdoğan den EU-Türkei-Flüchtlingsdeal als Druckmittel einsetzen wird, falls EU- oder NATO-Staaten Sanktionen verhängen oder Waffenlieferungen stoppen. Das heißt, dieses Abkommen hängt massiv von der politischen Situation in und um Syrien ab.

Seenotrettung wird oft mit dem Argument delegitimiert, dass sie die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer indirekt befördern würde. Sebastian Kurz meint etwa, dass dadurch „falsche Hoffnungen“ bei Migrant_innen geweckt würden. Was sagt ihr zu diesem Vorwurf?

Das Argument ist nicht neu. Wenn ich mich richtig erinnere, kam diese Argumentation 2016 auf und ist das Werk eines rechten holländischen Think Tanks. In Folge wurde das von allen rechten Akteuren in Europa übernommen – von rechtsextremen Initiativen bis zu etablierten Politikern. Mittlerweile hat auch eine Oxford-Studie nachgewiesen, das Seenotrettung kein Pull-Faktor ist.

Wenn man zudem mit geretteten Menschen spricht, dann hört man nie, dass sie geflüchtet sind, weil es Seenotrettung gibt. Alle wissen, wie gefährlich die Überfahrt über das Mittelmeer ist. Aber die Aussicht, darauf in Libyen irgendwo ermordet und verscharrt zu werden, ist Antrieb genug, die Gefahren in Kauf zu nehmen. Die Situation Libyen ist so unaushaltbar, den Menschen bleibt ja gar keine andere Wahl.

Eine andere europäische Migrationspolitik ist notwendig. Was ist von der EU zu fordern?

Zum einen gilt es die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache sofort zu beenden. Es dürfen keine kriminellen Strukturen mehr unterstützt werden, denen es nicht darum geht Menschenleben zu retten, sondern Waffen und Geld anzuhäufen.

Zum zweiten gilt es ein staatliches Seenotrettungsprogramm, bei Bedarf mit Unterstützung von NGOs, zu starten, um eine Situation zu schaffen, die es 2015 eigentlich schon einmal gegeben hat. Wir hatten ja nie die Idee eine jahrzehntelange Rettungsmission zu starten, sondern kurzfristig einzuspringen, bis staatliche Akteure Verantwortung übernehmen. Das Gegenteil ist passiert. Das Rettungsprogramm Mare Nostrum wurde abgebrochen und Seenotrettung Schritt für Schritt kriminalisiert.

Zum dritten gilt es sichere Fluchtwege zu schaffen. Das Geschäftsmodell von Schleppern basiert ja darauf, das Leute von einen Ort an den anderen wollen, das aber nicht dürfen. Schlepper profitieren also davon, dass es keine sicheren Fluchtwege gibt. Wenn man Schlepperei hingegen wirklich bekämpfen mag, dann muss man sichere und legale Möglichkeiten schaffen, Krisenregionen zu verlassen. Das bedeutet natürlich auch andere Einwanderungsgesetze bei uns zu verabschieden.

Viertens gilt es natürlich Fluchtursachen zu bekämpfen. Ein Stehsatz, der in jeder Diskussion zum Thema vorkommt. Das ist eine sehr komplexe Sache. Denn die Ursachen sind in einzelnen Regionen mitunter sehr unterschiedlich. Da muss man also sehr genau hinschauen.

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