Der 1. Mai hat als historischer Kampftag der Arbeiter*innenbewegung vielerorts seine Schlagkraft verloren. Das liegt unter anderem an einem veralteten Klassenverständnis. Denn auch wer für reproduktive Gerechtigkeit, saubere Luft, günstige Mieten und Bildung kämpft, kämpft für die Klasse. Ein Pladöyer von mosaik-Redakteur Dejan Aleksić.
Der 1. Mai erscheint heute oft wie ein fröhlicher Feiertag. Doch ursprünglich wurde dieser Tag im Zeichen harter und blutiger Kämpfe der Arbeiter*innenklasse erstritten. Vom seinem kämpferischen Geist ist kaum mehr als Symbolik geblieben. Angesichts zahlreicher Niederlagen der vergangenen Jahrzehnte – sei es der Abbau von Arbeitsrechten, der Niedergang einst mächtiger Gewerkschaften oder aber der Angriff auf den Sozialstaat – fehlt es an der früheren Schlagkraft. Auch die Linke, traditionell ein Ausdruck der Politik aus Klassenperspektive, zeigt sich an diesem Tag oft zersplittert.
Angesichts dieser Entwicklungen ist es strategisch notwendig, die Arbeiter*innenklasse heute neu zu denken. Dies erfordert ein erweitertes Verständnis von Klasse, aber auch der Orte, an denen ihre Kämpfe stattfinden. Dazu gehört, breit gestreute Anliegen einzubeziehen: von sauberer Luft und leistbaren Mieten bis hin zum gerechten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Kindergartenplätzen und gebührenfreien Unis. Hinter all diesen Forderungen steht eine vielfältige und oft unsichtbare Klasse von Arbeiter*innen – alleinerziehend und pflegend, vergeschlechtlicht und rassifiziert, erwerbslos und dennoch Teil des kollektiven Kampfes.
Care-Arbeit als Grundlage der kapitalistischen Produktion
Immer mehr Stimmen fordern, unbezahlte Care-Arbeit im Kontext von Arbeitskämpfen mitzudenken. Dahinter steht die Notwendigkeit, ein überholtes Bild der Arbeiter*innenklasse zu überwinden – eines, das auf maskulinen, erstarrten Vorstellungen vom Proletariat als revolutionärem Subjekt beruht. Denn Care-Arbeit ist nicht einfach eine dem kapitalistischen Produktionsprozess äußerliche Sphäre, die eine Ergänzung zur Sphäre der ‚produktiven‘ Lohnarbeit darstellt. Diese unbezahlte Arbeit – strukturell Frauen* zugeschrieben – bildet vielmehr die zentrale Voraussetzung für die kapitalistische Produktion. Auch wenn Care-Arbeit scheinbar strikt von der bezahlten Lohnarbeit getrennt ist, stellt sie im Kern ihre anhaltende Ermöglichung dar. Das betonen unter anderem feministische Theoretiker*innen der Theorie der sozialen Reproduktion.
Was soziale Reproduktion bedeutet, lässt sich am Konzept der Arbeitskraft erklären: Arbeitskraft bildet im Kapitalismus den Kern der Mehrwertschöpfung. Kapitalistische Verhältnisse behandeln sie wie eine Ware. Sie wird gekauft und eingesetzt, um Produkte oder Dienstleistungen herzustellen, deren Wert höher ist als die ursprüngliche Investition. Doch Arbeitskraft ist keine unerschöpfliche Ressource: Die tägliche Lohnarbeit verbraucht die körperlichen und psychischen Energien der Arbeiter*innen. Damit diese überhaupt weiterhin arbeiten können, müssen ihre Kräfte regelmäßig erneuert werden. Dies umfasst Ernährung, Pflege, Erholung, Bildung und soziale Fürsorge. Anders gesagt: Reproduktive Arbeit produziert und erhält die Ware Arbeitskraft Tag für Tag aufs Neue.
Wo Reproduktion zur Klassenfrage wird
Die entscheidende (Klassen-)Frage angesichts dieser Schlüsselrolle der sozialen Reproduktion ist: Unter welchen Bedingungen wird die Arbeiter*innenklasse (re)produziert? Und von wem? Natürlich muss jeder Mensch, auch in nicht-kapitalistischen Gesellschaften, seine Kräfte regelmäßig erneuern. Das ist so selbstverständlich, dass es oft gar nicht als Arbeit wahrgenommen wird. Physiologische, soziale und kulturelle Bedürfnisse wurden in allen Gesellschaften durch soziale Gefüge gestillt – in Form von Stämmen, Klans oder, heute, vor allem der Familie.
Diese sozialen Gefüge fungierten historisch meist als zentrale Orte der sozialen Reproduktion. Einen Teil der reproduktiven Arbeit kann auch der Staat übernehmen – und gerechter verteilen. Heute aber gewinnt der Markt zunehmend an Einfluss: Care-Arbeit wird dort als privatisierte Dienstleistung angeboten. Wer sie sich nicht leisten kann, ist weiterhin auf eigene oder familiäre Kräfte angewiesen. Ob als unbezahlte Arbeit zuhause oder als bezahlte Dienstleistung – Care-Arbeit wird dabei patriarchal vermittelt: als gesellschaftlich zugeschriebene Rolle von Frauen*. Gleichzeitig wird Care-Arbeit im Zuge sogenannter transnationaler Sorgeketten zunehmend migrantisiert und rassifiziert. Das verleiht den Klassenkämpfen neben der queerfeministischen auch eine zentrale antirassistische Dimension.
Das Private politisieren
Dass reproduktive Arbeit immer zugleich Beziehungsarbeit ist, ist an sich nicht problematisch. Zum Problem wird es dann, wenn kapitalistische Verhältnisse diesen besonderen Charakter ausnutzen: Wenn unbezahlte Beziehungsarbeit im Privaten dafür sorgt, dass am nächsten Tag Arbeitskraft wieder für den Markt bereitsteht. Weil Arbeit offiziell nur dann als solche auftreten darf, wenn sie im Prozess der Wertproduktion gegen Lohn getauscht wird, bleibt der immense Anteil reproduktiver Arbeiten unsichtbar. Sie ist verschleiert als ‚Familie‘, als ‚Liebe‘, oder bloß als ‚privates Leben‘.
An diesem Punkt zeigt sich, dass sich die Arbeiter*innenklasse nicht nur über den (fehlenden) Zugang zu Produktionsmitteln definiert. Sie tut das auch über den Zugang zu Mitteln der Reproduktion – zu Wohnraum, Erholung, Bildung, Pflege und Gesundheitsversorgung. Und weil die Reproduktion des Kapitalismus auf ein vermeintlich ‚privates‘ Außen angewiesen ist, wird es überfällig, genau dieses Private zu politisieren.
Grenzkämpfe um Arbeit und Leben
Dass soziale Reproduktion auch heute noch überwiegend im privaten Zuhause stattfindet, ist kein naturgegebener Zustand, sondern Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Frage danach, wer für die Erneuerung der Arbeitskraft aufkommt, ist somit stets das Ergebnis von Klassenkämpfen. Mit dem Aufstieg des Neoliberalismus wurde die soziale Reproduktion massiv umgestaltet. Privatisierung – das Kernmerkmal neoliberaler Politik – zeigt sich nicht nur im Abbau staatlicher Versorgungsnetzwerke, sondern auch in der gleichzeitigen Verlagerung reproduktiver Arbeit auf Einzelne und ihre Familien. Vor diesem Hintergrund lässt sich das neoliberale Diktum der ehemaligen Premierministerin Großbritanniens Margaret Thatcher – „Es gibt keine Gesellschaft, nur Individuen und deren Familien“ – ganz wörtlich lesen. Entscheidend ist jedoch: Klassenkämpfe betreffen nicht nur die Bedingungen von Produktion und Reproduktion, sondern auch die damit verbundenen ‚Grenzkämpfe‘ – die Auseinandersetzungen um die Trennlinien zwischen diesen Sphären.
Dabei geht es nicht nur darum, welche Arbeit als produktiv und lohnwürdig gilt. Es geht auch darum, welche Dienste dem Markt überlassen werden – und welche allen Menschen als universelles Recht zustehen. Wenn der Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung oder Pflege vom Geldbeutel abhängt, liegt das Problem auf der Hand. Doch auch Fragen nach einem allgemeinen Recht auf Wohnen, Mobilität, gesunde Ernährung oder saubere Umwelt sind Ausdruck dieser Grenzkämpfe.
Dabei darf es aber nicht bleiben: Soziale Reproduktion – verstanden als Erneuerung körperlicher und psychischer Energien – schließt ebenso soziale und kulturelle Bedürfnisse ein. In diesem Sinne stellt sich auch die Frage nach dem Recht auf objektive Informationen, auf kulturelle Teilhabe und intellektuelle Entwicklung. Weil Grenzkämpfe immer auch Klassenkämpfe sind, geht es hier um nichts weniger als um zentrale Klassenfragen.
Weitere Schauplätze für Klassenkämpfe
Trotz massiver Niederlagen bleiben Arbeitskämpfe im Betrieb ein zentraler Hebel zur Veränderung. Die Produktionsstätte ist nach wie vor der empfindlichste Nerv des Kapitals. Doch die Trennlinien zwischen traditionellen Arbeiter*innenkämpfen und neuen sozialen Bewegungen müssen durchbrochen werden. Dass sich die Auseinandersetzungen nicht mehr ausschließlich um Lohnarbeit drehen, bedeutet nicht, dass Klassenkämpfe verschwunden sind – oder dass es sich nicht mehr um Klassenfragen handelt. Vielmehr haben sich die Kämpfe auf andere Schauplätze verlagert. Denn keines dieser Anliegen ist losgelöst von den tief verwurzelten Strukturen eines kapitalistisch organisierten Klassensystems.
Die wichtigsten Kämpfe der letzten Jahrzehnte – um Frieden, Klimagerechtigkeit oder Menschenrechte – sind jenseits der klassischen Arbeiter*innenorganisationen entstanden. Wenn Produktion und Reproduktion als Einheit verstanden werden, dann erscheinen all diese Arenen als Teil eines gemeinsamen Klassenkampfes. Diese Arenen stehen für den Versuch der Arbeiter*innenklasse, ihre eigenen Bedürfnisse durchzusetzen – und diese Bedürfnisse gehen längst über Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhung hinaus. Sie betreffen ebenso die Frage, wie Menschen ihre Zeit nach der Arbeit verbringen können – und was ihnen der Lohn tatsächlich an Teilhabe, Sicherheit und Lebensqualität ermöglicht.
Mit neuer Schlagkraft auf die Straße
Zu dieser breiter gedachten Klasse zählen alle, die am gesamtgesellschaftlichen Arbeits- und (Re-)Produktionsprozess teilnehmen oder teilgenommen haben – unabhängig davon, ob ihre Arbeit bezahlt oder anerkannt wurde. Erst durch die Perspektive der sozialen Reproduktion rücken jene Verhältnisse in den Blick, die diese Prozesse bedingen und aufrechterhalten. Weil dabei geschlechtliche und rassifizierende Zuschreibungen eine zentrale Rolle spielen, gehören (queer-)feministische und antirassistische Bewegungen untrennbar zu einer erweiterten Perspektive von Klassenkämpfen.
Gerade am 1. Mai, dem traditionellen Kampftag der Arbeiter*innenklasse, sollte sichtbar werden: Klassenkämpfe sind vielfältiger geworden. Wenn wir die oft übersehene, teils widersprüchliche und diverse Klasse aller Arbeiter*innen als Einheit begreifen, verschiebt sich auch der Rahmen, in dem wir ihre Kämpfe verorten. Das zeigen konkrete Beispiele wie die Bewegung Deutsche Wohnen & Co. Enteignen, die Mietproteste in Spanien, die Debatten um Leihmutterschaft, Preisboykotte gegen Supermärkte oder Unibesetzungen in Serbien. Wer all diese Kämpfe zusammendenkt – im Betrieb, in der Pflege, im Wohnraum, im Bildungsbereich –, macht den ersten Schritt zu einer neuen, gemeinsamen Kraft, die solidarisch handelt, politisch wirksam wird – und mit neuer Schlagkraft auf die Straße geht.
Foto: KOMintern

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