100 Jahre Republik Österreich: Der stille Bruch

Heute vor 100 Jahren wurde die Republik Österreich gegründet. Mit diesem tiefen Einschnitt in der österreichischen Geschichte legte die ArbeiterInnenbewegung die Fundamente für eine solidarische Gesellschaft. Hundert Jahre später scheint uns erneut ein massiver Bruch bevorzustehen.

Es war ein lauter und heftiger Bruch in einer Phase der europäischen Geschichte, in der der halbe Kontinent auf dem Kopf stand. Das Ende des Ersten Weltkrieges läutete das Ende der jahrhundertealten Herrschaft der Habsburger ein. Die neu gegründete Republik Österreich hatte dann gleich zu Beginn eine Reihe von Herausforderungen zu bewältigen. Die dramatische Versorgungslage der Bevölkerung, die Errichtung neuer Grenzen zwischen den ehemaligen Kronländern der Monarchie, sowie die Migrationsbewegungen von heimkehrenden Soldaten und verschiedenen Bevölkerungsgruppen machten rasches Handeln notwendig.

Umbrüche überall

Vor diesem Hintergrund brachte die Ausrufung der Ersten Republik massive demokratie- und sozialpolitische Umbrüche, die von einer revolutionären Stimmung und einer starken ArbeiterInnenbewegung getragen wurden. Der jahrzehntelange Kampf zur Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für Frauen fand ebenso sein erfolgreiches Ende wie langjährige Forderungen auf dem Gebiet der Sozialgesetzgebung. Die Sozialdemokratie erreichte die gesetzliche Verankerung des Urlaubs für ArbeiterInnen, die Einbeziehung aller Beschäftigten in das System der Krankenversicherung, sowie die Etablierung einer Altersversorgung und Arbeitslosenversicherung. Darüber hinaus erkämpfte die ArbeiterInnenbewegung eine weitreichende institutionelle Anerkennung in Form von Betriebsräten und der Arbeiterkammern.

Ein weiterer prestigeträchtiger Durchbruch stellte die gesetzliche Regelung zum Acht-Stunden-Tag dar. Durch die Reduzierung des Arbeitstages von neun bis elf Stunden Lohnarbeit auf acht Stunden täglich, konnte die Sozialdemokratie eine alte Forderung endlich einlösen. Die Parole lautete „8-8-8“ – acht Stunden Lohnarbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden Erholung. Die junge österreichische Republik zählte somit zu den sozialpolitischen Vorreiterinnen in Europa.

Der stille Bruch

Gerade jetzt sollte das 100-Jahr-Jubiläum der Republik Österreich als Mahnung dienen. Denn wie vor einem Jahrhundert erleben wir zurzeit einen bedeutsamen politischen Bruch. Dieses Mal spielt er sich jedoch leise ab – und reaktionär. Bemerkenswerterweise sind es genau jene sozialpolitischen Fundamente, die die ArbeiterInnenbewegung in der ersten Republik erkämpft hat, die nun in Frage gestellt und attackiert werden.

Die amtierende österreichische Bundesregierung ist im Begriff den Sozialstaat, wie wir ihn kennen, systematisch zu demontieren und die Interessensvertretungen der lohnabhängigen Bevölkerung massiv zu schwächen. Ausdruck dessen sind bereits jetzt die geplante Abschaffung der Jugendvertrauensräte in den Betrieben, sowie die drohende finanzielle Beschneidung der Arbeiterkammern.

Zurück ins 19. Jahrhundert

Im Jubiläumsjahr 2018 können wir beobachten, wie sich unsere Republik auf den Weg zurück ins 19. Jahrhundert macht. Die Einsparungspläne der schwarz-blauen Bundesregierung bei den Kranken- und Unfallversicherungen laufen letztendlich auf eine tiefere Spaltung der Gesellschaft hinaus. Vermögende Menschen können sich also PrivatärztInnen und -behandlungen leisten, der Rest sieht durch die Finger. Die Ausweitung der gesetzlichen Arbeitszeit auf den 12-Stunden-Tag und die 60-Stunden-Woche dient letztlich nur der Steigerung der Unternehmensprofite.

Die Interessen des Großkapitals bestimmen die schwarz-blaue Koalition. Daraus macht sie auch kein Geheimnis. Sie übernimmt wortgleich Vorschläge von der Industriellenvereinigung oder dem neoliberalen Hayek-Institut. Diese Regierung betreibt offen Klassenkampf. Anders sind die Angriffe auf soziale und politische Rechte der Lohnabhängigen zugunsten des Kapitals, nicht zu verstehen.

Begleitet wird dieser Bruch durch eine Normalisierung von Rassismus, die an eine längst vergangen geglaubte Zeit erinnert. Also kultivieren die blau-braunen VerführerInnen Ängste und vertiefen nur die bestehenden Spaltungen innerhalb der Gesellschaft. Sie projizieren die materiellen Sorgen vieler Lohnabhängiger auf immigrierte Bevölkerungsgruppen. Sündenböcke werden konstruiert, um über die menschenverachtende und krisenhafte neoliberal-kapitalistische Wirtschaftsweise hinwegzutäuschen.

100 Jahre danach

Der 12. November 1918 war ein Tag voller Unsicherheiten, aber auch ein Tag voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Der 12. November 2018 stellt sich uns anders dar. So erscheint er eher als ein Schritt in Richtung postmoderner 1930er Jahre. Der Umbau unserer Republik zu einem autoritär-neoliberalen Staat hat begonnen. Die Spaltung der Lohnabhängigen auf Grund von Herkunft, Hautfarbe und Religion begleitet ihn.

Nun gilt es dieser reaktionären Entwicklung entschieden entgegenzutreten. In der politischen Auseinandersetzung müssen die soziale Frage und die gesellschaftlichen Machtverhältnisse in den Mittelpunkt rücken. Anstatt eine Ausweitung des Arbeitstages zu beschließen, müssen wir im Gegenteil eine Verkürzung erkämpfen. Anstatt uns dem Diktat eines freien Marktes zu unterwerfen, haben wir dafür zu sorgen, grundlegende Versorgungsgüter bedarfsdeckend und nachhaltig zu produzieren. Anstatt ein national-chauvinistisches Klima der Abschottung zuzulassen, gilt es für ein offenes Österreich in einem offenen Europa einzutreten. Hundert Jahre nach der Gründung unserer Republik, befindet sie sich auf einem gefährlichen Irrweg. Lasst uns die Richtung gemeinsam korrigieren und endlich einen neuen Kurs einschlagen. Ziel muss es sein, allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen und nicht den Interessen von Banken und Konzernen zu dienen.

Oliver Piller ist Politikwissenschaftler und Historiker in Wien.

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