Der Fall Relotius: Symptom eines bankrotten Journalismus

Der Fall Relotius hat in der Medienlandschaft für helle Aufregung gesorgt. Doch während der Spiegel der Causa sogar das aktuelle Cover widmet, bleiben die wahren Gründe verborgen. Der liberale Journalismus kann sich nicht mehr erklären, wieso Menschen unzufrieden sind. Marcel Andreu schreibt über Geschichten, die falsch sind – und manchmal auch erfunden.

Der Spiegel ist im Krisenmodus. Seit Mitte Dezember bekannt wurde, dass Claas Relotius seine preisgekrönten Reportagen weitgehend gefälscht hatte, berichtet das Magazin fast Non-Stop zum Thema. Dabei lohnt es sich besonders, einen Blick auf die erste Stellungnahme von Ulrich Fichtner zu werfen – in mehrfacher Hinsicht. Es ist ein Stück von groteskem Pathos, das wohl von einem verhinderten deutschen Bestseller-Romancier (von der Sorte, die 800 Seiten Dystopie darüber schreiben, dass die Familie beim Abendessen wegen Facebook nicht mehr miteinander spricht) oder Pastor geschrieben worden sein muss. Die Reportage ist aber, wenn man sich einmal durchgekämpft hat, äußerst vielsagend.

Das Talent im Spiegel

Relotius war nicht irgendeiner, der gelegentlich Reportagen über die Landesgartenschau in Bad Schwalbach abgeliefert hat. Ihm hat man die großen Kaliber überlassen: Er berichtet über einen Häftling in Guantanamo, der sich so an seine Haft gewöhnt hat, dass er gar nicht mehr nach draußen will (erfunden). Über ein syrisches Geschwisterpaar im Volksschulalter, im Krieg zu Waisen geworden, das sich in der Türkei durchkämpft und nachts von Angela Merkel träumt (erfunden). Über eine typische amerikanische Kleinstadt, deren Bewohner*innen Waffen tragen, ihre Zeit auf örtlichen Western-Festivals verbringen und „sonntags für Donald Trump beten“ (man ahnt es: erfunden). Die „kruden Potpourris“, wie sie Fichtner nun nannte, waren natürlich von Anfang an solche. Es waren Märchen, die geglaubt wurden, weil sie perfekt in das Weltbild und Selbstverständnis eines bankrotten, bürgerlichen Journalismus passten.

Relotius’ Talent als Reporter war offenkundig begrenzt. Oft stimmten nicht einmal die simpelsten Fakten. Vielleicht wollte er Dinge nicht herausfinden, weil sein Job ein anderer war. Er verstand es zur Perfektion, die Fantasien, die Gedankenwelt und das Selbstbild des zeitgenössischen Journalismus, in dem er kometenhaft aufstieg, zu bedienen. Seine Reportagen waren Fake News für eine ganz spezielle Filterblase. Besonders aufschlussreich ist dabei die genannte Reportage über die amerikanische Kleinstadt Fergus Falls. Michele Anderson und Jake Crohn, zwei Bewohner*innen des Ortes und ihrerseits kunstschaffende Clinton-Wähler*innen, haben Relotius’ Lügen minutiös auseinandergepickt. Das Panorama, das sich daraus ergibt, ist traurig und zugleich wenig überraschend: Relotius’ Dichtungen bedienen jedes einzelne Klischee, das sich ein entsetzter Journalist über die Trump-wählende amerikanische Kleinstadt bilden mag.

Mythische Unzufriedenheit

Relotius entwarf geschickt die perfekte Karikatur des Trump-wählenden amerikanischen Hillbillys: Entweder taten sie es aus bedauernswerter Dummheit, oder aufgrund ihrer eigenen Abgründe. Warum Menschen sich tatsächlich für Trump entschieden, darunter auch viele frühere Obama-Wähler*innen, interessiert diesen Journalismus nicht. Ihm geht es nicht um Ungerechtigkeit oder Ungleichheit. Wer unzufrieden ist mit unserer Demokratie und der neoliberalen Ordnung, muss ein*e Hinterwäldler*in sein.

Dabei geht es nicht darum, Trump-Wähler*innen oder ihre Entscheidung zu verteidigen. Rassismus war ein wichtiges Wahlmotiv vieler seiner Unterstützer*innen. Und ja, „Fake News“ spielen eine wachsende und negative Rolle in der politischen Auseinandersetzung. Aber der Grund, warum so viele Menschen heute jeden Unsinn glauben, ist dass die etablierten Medien seit langer Zeit selbst jeden Unsinn berichten.

Relotius’ Märchen von Fergus Falls ist ein Beispiel für eine Methode, die auch jene Abteilung des bürgerlichen Journalismus bestens drauf hat, die üblicherweise weniger frei mit der Faktenlage umgeht: Das Beobachtete mit allen Mitteln in die vorgefasste Schablone zwingen. Und wer nicht reinpasst, den macht dieser Journalismus zu mythischen, anachronistischen Gestalten. Opfer dieser Methode sind nicht bloß Trump-Wähler*innen, sondern erst unlängst unverfrorene und gierige Streikende oder auf Krawall gebürstete Gelbwestenträger*innen.

Überall Manipulation

Ein besonders anschauliches Beispiel für diese Berufsblindheit ist die jüngste „Enthüllung“ des US-Senats über russische Einmischung im Präsidentschaftswahlkampf 2016. Offenbar wurden Afroamerikaner*innen gezielt zum Gegenstand der russischen propagandistischen Bemühungen. Die New York Times springt dem Senat zur Seite, indem sie diese Bemühungen als Teil von „russischen Einflussoperationen in anderen Ländern“ interpretiert, „die ethnische Konflikte schüren wollten“. Ein Skandal: Die Russen wollen der schwarzen US-Bevölkerung glatt einreden, es gäbe ein Problem mit Rassismus in ihrem Land – und zwar schon vor Trump, selbst unter Obama!

Der Aufruhr um russische „Manipulation“, der längst auch auf Europa übergegriffen hat, offenbart eine ganz bestimmte Geisteshaltung. Wer sich Sorge um Manipulation macht, unterstellt bei den Empfänger*innen Manipulierbarkeit. Als gäbe es ohne diese „Manipulation“ keine Unzufriedenheit mit dem neoliberalen Regime, keine Vertrauenskrise in das Establishment. Es ist für weite Teile des bürgerlichen Journalismus schlicht nicht vorstellbar, dass es eine grundlegende Unzufriedenheit mit einem System geben könnte, in dem seine Vertreter*innen es sich so gemütlich gemacht haben.

Mehr als das i-Tüpfelchen

Für die Glaubwürdigkeitskrise des modernen Journalismus ist Relotius nur das Tüpfelchen auf dem i. Der Fall wurde nur durch ein journalistisches Selbstverständnis möglich, das sein Geschäft im Schönreden und Stabilisieren von Verhältnissen sieht, die längst diskreditiert sind. Um Fake News, ob auf Facebook oder in der Spiegel-Redaktion, wirklich Einhalt zu gebieten,  braucht es Medien, die bereit sind, wirklich zu „sagen, was ist“.

Wir befinden uns in einer tiefe Krise des politischen und wirtschaftlichen Systems, die immer mehr Menschen desillusioniert und abgehängt zurücklässt. Eine Krise, die sich nicht mehr einfangen lässt, indem man umso beharrlicher auf die naturgegebene Überlegenheit und Alternativlosigkeit einer überkommenen neoliberalen Ordnung pocht. In dieser Hinsicht, und nur in dieser, unterscheiden sich Relotius’ Geschichten vom Normalzustand in bürgerlichen Redaktionen: Sie waren nicht nur falsch, sondern noch dazu erfunden.

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