Regierungsprogramm: Grüner Anstrich für’s türkise „Weiter so“

In der Klimapolitik setzt das türkis-grüne Regierungsprogramm erste Schritte, die leider viel zu wenig sind. In anderen Schlüsselbereichen geht der türkis-blaue Kurs weiter, analysieren Martin Konecny, Lukas Oberndorfer, Benjamin Opratko, Teresa Petrik, Melanie Pichler, Valentin Schwarz und Franziska Wallner.

„Null Prozent Chance auf eine Koalition mit der ÖVP“ sah Werner Kogler noch im Juli. Ein halbes Jahr später präsentiert er mit Sebastian Kurz ein Regierungsprogramm, welches die Industriellenvereinigung lobt, Liberale auf der ganzen Welt zum Jubeln bringt – und von zivilgesellschaftlichen Organisationen herbe Kritik einstecken muss.

„Klima und Grenzen schützen“: Mit diesem Motto der Klima-Apartheid fasst Kurz das Programm treffend zusammen. Der rassistische und ausgrenzende Kurs im Bereich Migration geht weiter, die autoritäre Wende schreitet in vielen Bereichen voran – und bekommt im Bereich Klima und Umwelt einen grünen Anstrich. Unsere Analyse zu vier Kernbereichen des Regierungsprogramms von Türkis-Grün.

1. Klima: Es geht um das, was fehlt

Bis 2040 soll Österreich klimaneutral sein. Das ist ein ambitioniertes Ziel – mit den im Regierungsprogramm vorgesehenen Maßnahmen aber nicht zu erreichen. Die fehlende soziale Abfederung droht den Klimaschutz außerdem zu einem elitären Projekt zu machen. Entscheidender als die Maßnahmen im Programm sind jene, die fehlen.

In einem ersten Schritt will die Regierung den Kauf von CO2-intensiven Autos durch eine höhere Normverbrauchsabgabe verteuern. Die neue Flugticketabgabe macht zwar Kurz- und Mittelstreckenflüge um ein paar Euro teurer, die Langstrecke aber sogar billiger. Wie damit der nötige Lenkungseffekt erreicht werden soll, ist schleierhaft.

Grüne fallen bei Dritte Piste & Co. um

Monsterprojekte, die das fossile System einzementieren, werden nicht erwähnt – also auch nicht gestoppt. Der Kampf gegen die dritte Piste am Flughafen Wien, den Lobautunnel und die Waldviertel-Autobahn war für die österreichische Umweltbewegung in den letzten Jahren zentral. Die Grünen wollten sie aufhalten, ja sogar einen generellen Planungsstopp für Straßen-Neubauten. All das haben sie nun aufgegeben.

Überhaupt fehlt jede Maßnahme, um den Autoverkehr zu reduzieren – obwohl er die wichtigste Ursache für die Klimakrise ist, die wir in Österreich beheben können. Nicht einmal das schrittweise Aus für Verbrennungsmotoren konnten die Grünen durchsetzen.

Öko-Steuerreform mit unmöglichen Zielen

Auch fehlt jede Verbindung von Klimapolitik und sozialer Frage. Die Arbeitsgruppe für die um Jahre verschobene Öko-Steuerreform bekommt de facto unmögliche Ziele: Die Reform soll niemandem weh tun, aber dennoch einen deutlichen Lenkungseffekt haben. Perfide: Während Unternehmen und mittlere bis große Einkommen Steuersenkungen erhalten (siehe Abschnitt 2), bekommen Menschen mit wenig Einkommen nichts. Maßnahmen zur „sozialen Abfederung“ von CO2-Steuern, beispielsweise durch einen „Ökobonus“, kommen nur vage vor. Auch die ökologische Gebäudesanierung ist so schwammig formuliert, dass zu befürchten ist, dass ihre Kosten zumindest teilweise auf die Mieter*innen abgewälzt werden.

Die von den Grünen geforderte und klimaschonende Arbeitszeitverkürzung kommt nicht vor. Im Gegenteil: Der 12-Stunden-Tag bleibt bestehen.

Positiv: Strom, Öffis, Heizungen

Eine echte Verbesserung ist das konkrete Ziel, bis 2030 die gesamte Stromversorgung auf erneuerbare Energien umzustellen. Auch das 1-2-3 Öffi-Ticket ist eine gute Maßnahme. Wichtige Investitionen von jeweils 1 Milliarde fließen in den Nah- und Regionalverkehr, auch wenn ersteres bereits unter Türkis-Blau beschlossen wurde. Ein Erfolg ist der Ausstieg aus Öl und Kohle bei Heizungen. Dieser soll konkret in einem Bundesgesetz geregelt werden. Ähnliches ist für den Ersatz von Gasthermen geplant.

Ein Schritt ist zu wenig

Das Regierungsprogramm hat dennoch einen fundamentalen Mangel: Es geht selbst in seinen stärksten Passagen nur einen Schritt, wo zwei das Mindeste wären. Mehr öffentlicher Verkehr führt nicht automatisch zu weniger Autos. Der Ausbau erneuerbarer Energien bedeutet nicht den Rückgang fossilen Verbrauchs. Treibhausgase verlässlich verringern kann nur, wer sich mit den mächtigen fossilen Interessen anlegt, etwa in der Auto-, Stahl- und Ölindustrie. Das will diese Regierung nicht. Im Gegenteil lockt sie privates Kapital in möglichst profitable, „grüne“ Investitionen.

2. Wirtschaft und Soziales: Geschenke für Reiche, Knüppel für Arme

Die ÖVP schreibt und die Grünen lesen nicht einmal gegen: So wirkt die Wirtschafts- und Sozialpolitik der neuen Regierung, mit Ausnahme der fragwürdigen Öko-Steuerreform. In den meisten Punkten setzt Türkis-Grün die Linie von Türkis-Blau nahtlos fort.

Bei der Präsentation bekannte sich Werner Kogler explizit dazu, gleichzeitig die Steuern zu senken und kein Defizit zu machen, ja sogar den Gesamtschuldenstand rasant zu senken. Der Staat soll also gleichzeitig mehr für Klimaschutz ausgeben, die eigenen Einnahmen kürzen UND höhere Überschüsse erzielen. Früher hat Werner Kogler sowas ökonomischen „Schwindel“ oder „Voodoo“ genannt.

Milliardengeschenk für Konzerne

Die geplanten Steuersenkungen stammen direkt aus der Agenda von Türkis-Blau – und sie haben es in sich. Die Kürzung der Steuer auf Unternehmensprofite (Körperschaftssteuer) auf 21 Prozent planten Kurz und Strache schon im Frühling. 1,5 Milliarden Euro jährlich schenkt der Staat damit den großen Unternehmen. Fast die gesamte Summe streichen die profitabelsten 5 Prozent ein. Entsprechend erfreut sind ihre Lobbyist*innen bereits. Außerdem heizt Österreich mit der Senkung die globale Abwärtsspirale bei Konzernsteuern weiter an.

Ein noch größerer Brocken ist die geplante Senkung der Einkommensteuer. Auch sie war 1 zu 1 bereits von Türkis-Blau geplant und kostet sagenhafte 3,9 Milliarden Euro jährlich. Das ist mehr, als der Staat für Polizei und Gerichte zusammen ausgibt. Von dieser Steuersenkung – ebenso wie vom Papabonus („Familienbonus“) – profitieren neben Großverdiener*innen auch weite Teile der Mittelschicht. Das ärmste Drittel geht aber leer aus: also Menschen mit Einkommen unter der Steuergrenze, die das Geld am dringendsten bräuchten. Überhaupt enthält das Programm keinerlei Maßnahmen gegen die krasse Ungleichheit von Einkommen und Vermögen, etwa Vermögens- und Erbschaftssteuern.

Mehr Druck auf Arbeitssuchende

Für Arme sieht die Regierung in erster Linie den Knüppel vor. Sie übernimmt den Orwell’schen ÖVP-Sprech von der „neuen Gerechtigkeit“ – und so sieht das Programm auch aus.

Die Formulierungen zum AMS, das zu einem ÖVP-Ministerium wandert, sind vage und blumig. Doch wer die türkis-blauen Pläne kannte, muss Böses erwarten. Arbeitssuchende müssen künftig mehr Stunden in der Woche zur Verfügung stehen. Die Zumutbarkeitsbestimmungen werden „reformiert“, also wohl verschärft. Hinter der „Weiterentwicklung“ des AMS-Geldes „mit Anreizen“ könnte sich der alte türkis-blaue Plan verbergen, die ausbezahlte Summe Monat für Monat sinken zu lassen, um den Druck zu erhöhen. Einziger Pluspunkt: Das von Türkis-Blau geplante Hartz IV kommt nicht.

Armutsbekämpfung? Nicht vorhanden

Der Kampf gegen Armut, den die Grünen stets betonten, ist im Regierungsprogramm schlicht nicht vorhanden. Die vom Verfassungsgerichtshof aufgehobene Sozialhilfe, die die neue Regierung reparieren muss, kommt mit keinem Wort vor. Das „Paket zur Armutsbekämpfung“ enthält keine wirksamen Schritte gegen soziale Ungleichheit. Angesichts dessen erscheinen geplante Maßnahmen wie ein „Kältetelefon“ oder eine „Sensibilisierungsstrategie“ im Umgang mit Ausgegrenzten schlicht zynisch.

Auch auf EU-Ebene unterstützt die Regierung eine desaströse Wirtschaftspolitik: Sie bekennt sich zur Verarmungspolitik gegenüber Ländern wie Griechenland, zu Handelsabkommen nach Konzernwünschen (mit Ausnahme von Mercosur, das auch der ÖVP-Bauernbund fürchtet) und dem Export-Wahn, der zu Lohndumping und Klimaschäden führt. Insgesamt hält die Regierung eindeutig am Neoliberalismus fest, der die wiederkehrenden Wirtschaftskrisen verschärft und die Gesellschaft ungleicher macht.

3. Asyl, Islam und Repression: Die autoritäre Wende geht weiter

Herbert Kickl kann zufrieden sein: Türkis-Grün macht in vielen Punkten dort weiter, wo er aufgehört hat. Zurückgenommen wird nichts. Positive Einzelmaßnahmen wie der Ausbau des Sprachkursangebots oder die Integrationsförderung speziell für Frauen sind noch keine Trendwende. Im Gegenteil: Auch die neue Regierung macht Geflüchtete und Muslim*innen zu ihren Lieblings-Feindbildern – Menschenrechte hin, Rechtsstaat her.

Rechtswidrige Asyl-Agentur kommt

Nicht nur die von Kickl erfundene Verdachtshaft („Sicherungshaft“) kommt, sondern auch seine Asyl-Agentur. Mit ihr kontrolliert das Innenministerium künftig in Asylverfahren beide Seiten: die Rechtsberatung für Schutzsuchende und die Behörde, die über ihren Antrag entscheidet und in zweiter Instanz gegen sie auftritt. Türkis-Grün setzt das ziemlich sicher rechtswidrige Vorhaben fort. Auf EU-Ebene bekennt sich die Regierung zur Aufstockung der EU-Grenzagentur Frontex – also jener Behörde, die schwere Menschenrechtsverletzungen deckt und selbst begeht.

Damit unterwerfen sich die Grünen dem menschenverachtenden Asylpolitik-Mainstream, der in Österreich und der EU herrscht. Sollten sie doch einmal Widerstand leisten, kann die ÖVP ihre gewünschten Verschärfungen mit der FPÖ beschließen. Das Programm sieht dafür eigens einen „koalitionsfreien Raum“ vor.

Mehr Militarismus und Überwachung

Stärken will Türkis-Grün auch das Militär. Die Mittel dafür sollen in Österreich wie auf EU-Ebene steigen. Die Regierung bekennt sich zu PESCO, dem neuen EU-Militärbündnis. Seine Mitglieder verpflichten sich, regelmäßig ihre Rüstungsausgaben zu erhöhen und an gemeinsamen Kampfeinsätzen teilzunehmen. Die Grünen hatten das Glück, dass sie beim (einstimmigen) PESCO-Beschluss Ende 2017 nicht im Nationalrat saßen. Nun sind sie Teil des Allparteien-Bündnisses, das das angebliche Friedensprojekt EU zur Kriegsunion machen will.

Im Landesinneren soll das Bundesheer künftig verstärkt „zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit“ eingesetzt werden. Damit könnten Einsätze gegen Demos und Streiks gemeint sein, die das Heer bereits übt. Etwas versteckt steht im Programm, dass die Regierung verschlüsselte Online-Kommunikation überwachen will – „unter Berücksichtigung des VfGH-Entscheids vom Dezember 2019“. Mit anderen Worten: Türkis-Grün will wie schon Türkis-Blau den verfassungswidrigen Bundestrojaner einführen.

Muslim*innen als Zielscheibe

Musliminnen und Muslime sind für Türkis-Grün keine von Rassismus und Diskriminierung betroffene Gruppe, sondern eine Gefahr. Gewalt in der Familie und der Schule, Antisemitismus, Bildungsferne, Autoritarismus – all das gibt es für Türkis-Grün nur bei Muslim*innen. Teils geschieht das frontal, wenn etwa der „politische Islam“, das Lieblingsfeindbild von Rechtsaußen bis Linksliberal, überwacht und kriminalisiert werden soll. Teils zeigt sich die antimuslimische Einstellung indirekt: Warum sonst stehen Maßnahmen gegen gewaltbereite Schüler*innen oder Sanktionen bei Nicht-Teilnahme an Elternabenden ausgerechnet im Integrations-Kapitel?

Die „grüne Handschrift“ besteht offenkundig darin, diskriminierende Maßnahmen noch stärker als bisher im Stil selbstgerechter Missionare durchzusetzen. Das Kopftuchverbot für Schülerinnen bis 14 Jahren soll eingeführt werden, um „Mädchen und junge Frauen zu stärken und in ihrer Selbstentfaltung zu unterstützen“. Das Gegenteil ist der Fall, wie Studien aus Frankreich zeigen. Das Kleidungsverbot sorgt dafür, dass muslimische Mädchen sich als fremd markiert fühlen und der Mehrheitsgesellschaft weniger Vertrauen entgegenbringen – eine wahre „Desintegrationsmaßnahme“. Dasselbe gilt für das diskriminierende Islamgesetz. Es soll weiter verschärft werden, um die rassistische Showpolitik der Moscheeschließungen zu erleichtern.

4. Bildung: Grüne opfern (fast) alles

Bildung war den Grünen stets wichtig – und ihre Linie fast immer fortschrittlich. Ihre Forderungen reichten vom kostenlosen Kindergarten über die Gesamtschule bis zur fundierten Sprachförderung auch der Erstsprache von Kindern. Umso schmerzhafter ist der Blick ins Regierungsprogramm: Die Grünen haben in diesem Bereich fast alles geopfert.

Ausgrenzung von Schüler*innen bleibt

Die türkis-blauen Desintegrationsklassen („Deutschförderklassen“) bleiben. Schüler*innen, die über „nicht ausreichende“ Deutschkenntnisse verfügen, werden in eigene Klassen gezwungen. Dort haben sie fast nur Deutschunterricht. Ein Jahr nach ihrer Einführung ist diese Maßnahme bereits gescheitert. Das Ziel der Sprachförderung wird nicht erreicht, die Kinder stigmatisiert und in ihrer Bildungslaufbahn behindert, weil viele Betroffene ein Schuljahr wiederholen müssen. Die Grünen tragen also das exakte Gegenteil ihrer Forderung nach „Integration statt Ausgrenzung“ mit.

Trotz Verbündeten keine Gesamtschule

Lobenswert ist der geplante Ausbau ganztägiger Schulen. Doch eine zweite zentrale grüne Forderung wird mit keinem Wort erwähnt: die gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen („Gesamtschule“). Obwohl Wirtschaftskammer, Industriellenvereinigung und sogar die Tiroler und Vorarlberger ÖVP dafür sind, konnten die Grünen sie nicht durchsetzen. Die soziale Selektion von Kindern und Jugendlichen, die zu einer enormen Ungleichheit im Bildungssystem führt, bleibt also.

Im Hochschulbereich spricht das Regierungsprogramm eine klare Sprache: Wissenschaft soll noch intensiver den Anforderungen der Unternehmen unterworfen werden. Zwar gibt es ein Bekenntnis zur Grundlagenforschung, die nicht direkt wirtschaftlich verwertbar sein muss, eine konkrete Finanzierung fehlt aber.

Druck auf Unis und Studierende steigt

„Mehr soziale Durchlässigkeit“: Diese grüne Forderung hat es nur als Phrase ins Programm geschafft. Die tatsächlichen Maßnahmen bewirken oftmals das Gegenteil. Statt möglichst allen den Zugang zu einem Studium zu ermöglichen, sollen Zugangsbeschränkungen „qualitätsvoll und fair“ weiterentwickelt werden. Studieren soll „verbindlicher“, die Studiendauer verkürzt werden: Das spricht für eine Fortsetzung des Kurses, das Universitätssystem weiter zu verschulen und den Druck auf Studierende zu erhöhen.

Dazu passt die Fortsetzung der „Universitätsfinanzierung Neu“. Das Uni-Budget hängt damit von der Zahl „prüfungsaktiver“ Studierender und abgeschlossener Studien ab. Übersetzt heißt das: Wer nicht effizient und schnell genug studiert, fliegt raus. Was sich zumindest findet, sind einzelne finanzielle Zugeständnisse an Studierende: Die von Türkis-Blau angekündigte Erhöhung der Studienbeiträge dürfte nicht umgesetzt werden.

Fazit: Bessere Verwaltung des alten Elends

Die neue Regierung wird in einigen Punkten weniger schlimm als Türkis-Blau. Das ist schon das Beste, was sich über Türkis-Grün sagen lässt – und das ist schlimm genug. Eine rechtsextreme Regierung darf nie der Maßstab für gute Politik sein, auch wenn die grüne Parteiführung genau diese Botschaft trommelt und Kritik vorab als „Denunziation“ bezeichnet.

Die Logik des „kleineren Übels“ kennen wir bereits aus der Zeit der SPÖ-ÖVP-Koalitionen. Sie trägt dazu bei, Verschlechterungen Schritt für Schritt zu legitimieren. Wie wir in den letzten Jahren eindrücklich gesehen haben, rutscht so das gesamte politische Feld nach rechts.

Bleiben wir bei der Bewertung des Regierungsprogramms also beim Wesentlichen: Türkis-Grün setzt die autoritäre Wende fort, vertieft die Verwerfungen des Neoliberalismus und wagt keine ausreichenden Maßnahmen, um die Klimakrise rasch und umfassend zu bekämpfen.

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