Durch rassistische Polizeikontrollen wird Rassismus gerade wieder verstärkt diskutiert. Doch das Thema ist komplexer, als es oft den Anschein hat. Rassismus ist ein kompliziertes Phänomen, das auf mehreren Ebenen greift. Ebenso vielseitig müssen unsere Solidarität und unser Kampf dagegen sein, meint Rami Ali.
Was in unseren Breitengraden als normal gilt, ist klar definiert: Weiß, christlich, hetero. Je mehr du von dieser Norm abweichst, umso eher wirst du Erfahrungen mit Diskriminierung machen. Im Umkehrschluss bist du umso privilegierter, je näher du an eben dieser Norm bist.
1. Rassismus hat eine längere Tradition, als du denkst
In Europa hat diese spezifische Art der Identitätsfindung eine lange Geschichte. Sie etabliert sich durch die ständige Abgrenzung von jenen, die als „Andere“ markiert werden. Anders ausgedrückt: Rassismus hat in Europa eine lange Tradition. Sie reicht bis in die Antike zurück, wo man etwa SklavInnen als „von Natur aus“ unterlegen darstellte. Später kommen religiöse Erklärungen für die vermeintliche Unterlegenheit der „Anderen“ dazu, die in der Regel Schwarz waren. Der europäische Kolonialismus, der auf Basis der „zivilisatorischen Mission“ andere (ebenso schwarze) Völker für minderwertig und rückständig erklärte, war demnach nicht der Beginn des Rassismus, sondern nur die konsequente Fortführung einer jahrhundertealten Tradition, die bis heute andauert.
Dabei war und ist Rassismus nie ein Phänomen der „Unterschicht“ gewesen. Im Gegenteil waren es gerade „große Denker“, die die rassistische Menschenverachtung zum System machten. Ein „Aufklärer“ wie Immanuel Kant ließ sich auf abscheulichste Weise über schwarze Menschen aus und schrieb: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weissen. Die Gelben haben schon ein geringeres Talent. Die [N…] sind weit tiefer. Und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften.“
2. Beim Thema Islam wird kultureller Rassismus besonders sichtbar
Im Laufe der Jahrhunderte erfanden RassistInnen immer neue Legitimationen für die Abwertung der „Anderen“. Im heutigen Europa ist vor allem der kulturelle Rassismus stark. Nirgends ist der besser zu beobachten als beim Thema Islam. Dieser wird nicht nur als vermeintlich einheitlicher Block mit einheitlicher Kultur und homogenen AnhängerInnen betrachtet (eine Sicht, die auch religiöse Fundamentalisten teilen), sondern auch als Gegenpol zum „Eigenen“ genutzt, als Abgrenzungsmarker. „Ihre Kultur ist so“, „Der Islam hat keine Aufklärung erlebt und ist deshalb rückständig“.
So wird „der Islam“ als Gegenpol zum Modernen gesehen. Und modern, das sind natürlich „wir“ auch wenn konservative Rollen,- und Familienbilder sowie ein intensiveres Verlangen nach Rückbesinnung auf alte Traditionen, Werte und Religiosität überall in Europa zu beobachten sind.
3. Rassismus hat konkrete Auswirkung auf unser Leben
Diese Diffamierung hat für jene von uns, die von der Norm abweichen, ganz konkrete Auswirkungen. Wer Ali mit Nachnamen heißt, hat es statistisch gesehen acht mal schwerer, einen Job zu bekommen, als jemand mit deutschem Namen. Mit Kopftuch einen Arbeitsplatz zu finden, ist mittlerweile eine große Schwierigkeit. Ohnehin ist das Leben für sichtbare Musliminnen in Europa um ein Vielfaches schwieriger geworden. Für People of Color (PoC) ist es fast unmöglich, rassistischen Polizeikontrollen zu entgehen. Als Mensch aus einer türkischen Einwandererfamilie ist es fast selbstverständlich, aufgrund der Herkunft diskriminiert zu werden. Die Liste könnte man noch lange weiterführen.
Fest steht, je sichtbarer diese Abweichung von der historisch gewachsenen und gegenwärtig befeuerten christlich-weißen Identität, umso eher macht man Erfahrungen mit Rassismus. Eine schwarze, sichtbare Muslimin ist nicht nur dem Rassismus aufgrund ihrer Hautfarbe ausgesetzt (sowohl unter Muslimen als auch in der Mehrheitsgesellschaft), sondern erlebt diesen auch um ein Vielfaches intensiver, weil sie aufgrund ihrer Kopfbedeckung als „anders“, nämlich als rückständig und fundamentalistisch, markiert wird. Demnach bin ich als Österreicher mit nordafrikanischen Wurzeln nicht nur hinsichtlich meiner Staatsbürgerschaft und meines Geschlechts privilegiert. Ich bin, selbst als jemand, der aufgrund von Hautfarbe und Glauben schon mehrfach Diskriminierung erlebt hat, immer noch privilegierter, als etwa schwarze MuslimInnen oder sichtbare Musliminnen per se.
4. Auch Linke sind nicht immer solidarisch mit rassistisch Diskriminierten
Aber ich bin auch in einer anderen Hinsicht privilegiert. Nämlich in Bezug auf die Solidarität, die ich als PoC bei rassistischer Diskriminierung erfahre. Ich habe das Gefühl, dass sich viele weiße Menschen leichter tun, Solidarität mit PoC zu formulieren, die von Rassismus betroffen sind. Bei sichtbaren Musliminnen fällt ihnen das schwerer. Das haben mir auch PoC bestätigt, die ebenso das Gefühl haben, nicht mehr das erste Feindbild zu sein.
Für diese These gibt es etliche Indizien. Es gibt keine liberalen und/oder linken Kreise, in denen man etwa hören würde, dass Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe akzeptabel ist. Wenn sichtbare Musliminnen aufgrund ihres Kopftuchs verbal und/oder physisch angegriffen werden, wird man aber relativ rasch merken, dass sich die Solidarität mit den Betroffenen in Grenzen hält. Stattdessen werden Debatten darüber geführt, ob das Kopftuch ein Symbol der Unterdrückung ist oder nicht.
Das alles, während die Islamfeindlichkeit in Westeuropa – gemessen an Hass im Netz und Übergriffen auf offener Straße – explodiert. Videos, in denen muslimische Frauen als „Kopftuchschlampe“ oder „stinkende Türkin“ beschimpft werden, werden zwar in den muslimischen Social Media-Bubbles geteilt, darüber hinaus – wie etwa das Video vom racial Profiling der Polizei vergangene Woche – schaffen sie es kaum.
5. Die Deutungshoheit muss bei den Betroffenen liegen
Ich kann verstehen, dass es unterschiedliche Meinungen zum Kopftuch gibt. Das ist berechtigt und legitim. Es kann und soll auch feministische Kritik am Kopftuch geben. Was aber weit über diese Kritik hinausgeht, ist der Versuch, im Namen der Aufklärung (als Gegenpol zum islamischen Kopftuch) einen Anspruch auf Deutungshoheit über das Kopftuch zu erheben. Da stelle ich mich dagegen, so wie ich mich gegen weiße Menschen stelle, die PoC erklären möchten, was diese rassistisch nennen dürfen und was nicht. Es ist ebenso abzulehnen, wie klerikal-fundamentalistische Staaten, die Frauen zum Tragen des Kopftuchs zwingen.
Frauen mit Kopftuch sind keine „Sklavinnen, die nicht wissen dass sie Sklavinnen sind“ (wie etwa die Gruppe Femen behauptet). Sie sind keine autonomielosen, unterdrückten Opfer, die auf ihrem Kopf ein „Symbol des politischen Islam“ (Alice Schwarzer) tragen. Mehr als erzwungene Deutungshoheit ist auch das eine Verengung einer ohnehin einseitigen Debatte, in der Betroffene kaum selbst zu Wort kommen. Denn die Motive von muslimischen Frauen, ein Kopftuch zu tragen, sind vielfältig. Nicht wir bestimmen, was das Kopftuch ist und was nicht, sondern jene, die eines tragen und mit den unangenehmen Konsequenzen im heutigen Europa leben – sie tun das für sich selbst.
6. Solidarität ist unteilbar
Es gibt unterschiedliche Gründe, warum jemand das Tragen eines Kopftuchs kritisiert. Solange das nicht diffamierend und pauschalisierend passiert und somit ohnehin von Rassismus betroffene Menschen noch mehr marginalisiert, ist das völlig legitim.
Zugleich müssen wir aber bedingungslos solidarisch mit Betroffenen von rassistischer Diskriminierung sein. Und zwar unabhängig von religiösen und/oder ideologischen Unterschieden, die zwischen uns und den Betroffenen existieren. Denn Solidarität und die Fähigkeit, andere Lebensrealitäten zu sehen, sind das Fundament linker Bewegungen und sollten auch das Fundament einer offenen, gerechten Gesellschaft sein.