Warum die Rätedemokratie auch heute noch aktuell ist

Knapp 100 Jahre nach Ausrufung der Republik Österreich bringt der Mandelbaum-Verlag einen Sammelband heraus, der eine politische Leerstelle dokumentiert: Die österreichische Rätebewegung. Auch heute lassen sich daraus noch Schlüsse für linke politische Praxis ziehen. Mosaik-Autor Benjamin Herr traf zwei der Herausgeber_innen.

Das Ziel von Räten ist die Selbstverwaltung von Gesellschaft und Ökonomie. Das heißt, dass Menschen über ihre Lebens- und Produktionsbedingungen selbst entscheiden. Historisch waren Räte in Betrieben und Kasernen vertreten. Das waren die Einheiten in denen Beschlüsse gefasst und über gewählte Delegierte an die nächsthöhere Instanz weitergetragen wurden. In Wien gab es Bezirksarbeiter_innenräte, die jeweils Mandatar_innen nach festgelegtem Schlüssel in den Kreisarbeiter_innenrat wählten. Die Delegierten hatten ein imperatives Mandat. „Das heißt, sie sind an Beschlüsse gebunden. Als Delegierte werden sie vom Rat gewählt und tragen den entsprechenden Beschluss in die nächst höhere Ebene“, sagt Mario Memoli, einer der Herausgeber des Buches.

Betriebs- statt Arbeiter_innenräte

Ausgangspunkt der Rätebewegung war der Jännerstreik 1918. Nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie organisierten sich hunderttausende Arbeiter_innen und Soldaten in Räten. „Das war keine Kleinigkeit. Das war eine Massenbewegung, in der große Teile eine antikapitalistischen Alternative zu einer bürgerlichen Demokratie zumindest anvisiert haben“, sagt Herausgeberin Anna Leder. Doch daraus wurde nichts.

Denn im Mai 1919 errang die Sozialdemokratische Arbeiterpartei die Mehrheit. Und ebenso mehrheitlich war sie gegen den Rätesozialismus eingestellt. Gegen die Selbstverwaltung der Gesellschaft brachten sie eine repräsentative Demokratie in Stellung. „Verschiedenste Maßnahmen haben der Rätebewegung den Wind aus den Segeln genommen. Beispielsweise das Betriebsrätegesetz 1919, sozusagen als sozialpartnerschaftlicher Ersatz für die Arbeiter_innenräte“, kommentiert Leder das Abflauen der revolutionären Phase in der noch jungen Ersten Republik. Die Zerschlagung der Räte in Bayern und Ungarn trug ebenso zum Ende der politischen Relevanz im Laufe des Jahres 1920 bei, wie der Sammelband dokumentiert.

Ähnliches bei den Gelbwesten

Räte sind eine politische Form der Organisierung. Sie probieren dabei eine befreite Gesellschaft schon in ihrer Organisationsform aus. Die Herausgeber_innen wollen deshalb nicht nur diese Bewegung aus der Vergessenheit der Geschichtsschreibung ziehen, sondern auch auf Dinge verweisen, die für aktuelle Diskussionen noch spannend sein können.

Zum einen ist da der Umgang mit Entscheidungsfindungen. „Jede und jeder, die oder der schon einmal in linken Gruppen unterwegs war, kennt das Mühsal zu einer Entscheidung zu kommen. Räte haben dabei mit einfachen Mehrheiten einen pragmatischen Zugang gewählt. Sie haben sich dadurch nicht in endlose Debatten verstrickt“, sagt Mario Memoli.

Zum anderen ist es der Umstand, dass in den verschiedensten sozialen Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte Versatzstücke des Rätekommunismus zu finden waren. „Das Konzept ploppt immer wieder auf“, sagt Leder. Jüngstes Beispiel ist die Versammlung der Versammlungen der Gelbwesten, mit dem Ziel, die soziale Macht in der Bewegung zu halten und eine Organisation von Gesellschaft jenseits des bürgerlichen Staates voranzutreiben. Mittels Delegierten aus ganz Frankreich sollen sogenannte Beschwerdebücher gesammelt werden und eine kollektive, basisdemokratische Organisationsform, die das Delegiertensystem respektiert, diskutiert werden. Wie einst bei den Räten lautet die Idee, Lösungen für die alltäglichen Probleme der Menschen in der Bewegung zu finden und sich dabei nicht auf politische Eliten zu verlassen.

Theater, Tagung, Buch

Der Sammelband markiert die vorerst letzte Station eines umfassenderen Projekts zur österreichischen Rätebewegung. Die theoretische Vorarbeit leistete Peter Haumer mit seinen ebenso im Mandelbaum-Verlag erschienen Büchern zum Thema.

Darauf folgte das „Herzstück des Projekts“ (Leder), das Papiertheaterstück „Pannekoeks Katze“. Der 1960 verstorbene Niederländer Anton Pannekoek war einer der bedeutendsten Theoretiker_innen der Rätebewegung. Die Katze steht gemeinhin für den wilden, also von Gewerkschaften unabhängigen Streik, den ‚wildcat strike‘. Papiertheater war das Fernsehen im Biedermeier. „Das haben wir vom Kopf auf die Füße gestellt, haben uns dieses Format, das für die Privatheit bestimmt ist, genommen und sind damit raus gegangen“, sagt Leder.

Im Oktober 2018 folgte eine Tagung, deren Dokumentation der vorliegende Sammelband ist – ein Produkt „rätepositiver Menschen“ (Leder), die verschiedene Aspekte dieses antikapitalistischen Projekts beleuchten. Überblicksartikel erleichtern die Orientierung in dieser turbulenten Phase. In elf Beiträgen wird beispielsweise der unterdrückten Bedeutung von Frauen in der männlich dominierten Rätebewegung ebenso ein Beitrag gewidmet wie der Rolle des revolutionären jüdischen Proletariats, der sogenannten Arbeiterzionist_innen. Die knapp 240 Seiten bieten Leser_innen einen umfangreichen Einblick in die Thematik.

Was wir von den Räten heute haben

Was bleibt, sind die Ausgangspunkte, die auch heute für eine linke Praxis relevant sind. „Eine Spezialisierung zu vermeiden, auf dass wieder eine Politiker_innenkaste herauskommt“, sagt Leder. Gesellschaftliche Emanzipation von kapitalistischer Ausbeutung und Herrschaft braucht eine innere Emanzipation, „dass ich nicht immer jemanden über mir brauche, um meine Lebensbedingungen zu gestalten.“

Hinweis: Die Herausgeber_innen (Leder, Memoli und Andreas Pavlic) stellen das Buch am 1. März in der Libreria Utopia vor. Ende März kann man mit ihnen im Forum Stadtpark im Rahmen der Konferenz für praktische Kritik diskutieren.

Anna Leder/Mario Memoli/Andreas Pavlic (2019): Die Rätebewegung in Österreich. Wien/Berlin: Mandelbaum

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