Minimalismus mit Sprengkraft – Die Protestwelle in Serbien

Serbische Demonstrierende auf einem Traktor bei einem Protest

Seit Monaten hält eine beispiellose Protestwelle Serbien in Atem. Studierende fordern wenig – und erschüttern doch das System. Was treibt sie an? Und welche Zukunft eröffnet ihr Widerstand? Dejan Aleksić wirft für mosaik einen Blick auf die Bewegung, die Politik neu definiert.

Nach vier Monaten Massendemonstrationen in mehr als 400 Orten ebbt die Protestwelle in Serbien nicht ab. Im Gegenteil, am 15. März erreichte sie ihren bisherigen Höhenpunkt. Mehr als 300.000 Menschen aus dem ganzen Land versammelten sich friedlich in Belgrad. Doch diese Proteste sind mehr als ein symbolisches Zeichen des Unmuts – sie entfalteten eine einzigartige Dynamik. Ihre Stärke liegt nicht nur in der Masse, sondern in ihrer dezentralen Organisation, ihrem basisdemokratischen Charakter und der überraschenden Sprengkraft ihrer einfachen Forderungen.

Ausgelöst wurde die Mobilisierung durch Universitätsblockaden serbischer Studierender – eine Reaktion auf die fehlende Aufarbeitung des Dacheinsturzes am Bahnhof von Novi Sad, bei dem 16 Menschen ums Leben kamen. Die Reaktion der Regierung auf diese in der modernen serbischen wie auch europäischen Geschichte beispiellose Protestbewegung bleibt autokratisch: Diffamierung der Protestierenden und ein erbittertes Festhalten an der Macht. Doch was lehren uns die Entwicklungen der Proteste – und wie geht es weiter? Nicht nur für Serbien, sondern auch mit Blick auf einen breiteren anitkapitalistischen Kampf.

Demokratie neu entdeckt

Auch wenn der Erfolg einer Protestbewegung schwer zu messen ist, sind die Studierendenproteste in Serbien ein lang ersehnter Hoffnungsschimmer. Nicht nur wegen der Massenmobilisierung in einem noch nie da gewesenen Ausmaß und der entfesselten Energie. Auch nicht durch ihre basisdemokratische Selbstorganisation und die souveräne Kontrolle über ihre öffentliche Artikulierung. Einzigartig sind sie vor allem, weil sie der politischen Teilhabe eine neue Bedeutung verliehen haben. Sie erweiterten das Feld des Politischen zugunsten gemeinschaftlicher Organisierungsformen und machten Politik durch die Institution des Plenums – wie sie es selbst ausdrückten – greifbar und unmittelbar erlebbar.

Diese neu geschaffenen Räume werden nun landesweit genutzt: Bürger*innen organisieren basisdemokratische Foren – nachbarschaftliche Versammlungen, in denen sie kollektiv nach Ausdrucksformen eines „guten Lebens für alle“ jenseits etablierter politischer Strukturen suchen. Die Idee alternativer politischer Teilhabe erreichte inzwischen auch Nordmazedonien, wo Studierende nach der Tragödie in Kočani erste Plenarsitzungen ankündigten. In seinem Brief der Unterstützung an die Studierenden in Serbien, betont der französische Philosoph Jacques Rancière zwei wichtige Lektionen. Zum einen, dass es möglich sei, sich gegen Unterdrückung zu erheben, selbst in Zeiten weitverbreiteter Resignation. Und zum anderen, dass Revolte kein unüberlegter Akt sei, der Expert*innen zur Organisation benötige, sondern dass Selbstorganisation und Gleichheit innerhalb der Bewegung entscheidend seien. Rancière bezeichnete die serbische Studierendembewegung als Vorbild für heutige Proteste weltweit.

Minimale Forderungen, maximaler Effekt

Die Forderungen der Studierenden wirken auf den ersten Blick nicht revolutionär. Sie verlangen nichts weiter, als dass die bestehenden liberal-demokratischen Institutionen korrekt und unbeeinflusst arbeiten. Konkret fordern sie eine transparente Aufarbeitung des Dacheinsturzes von Novi Sad, sowie die konsequente juristische Verfolgung der Verantwortlichen. Minimalistisch gelesen kommt aber der emanzipatorische Charakter der Forderungen nicht zum Ausdruck. Sie hinterfragen die Gesetze nicht, sondern fordern lediglich deren konsequente Anwendung.

Doch gerade die gewaltige Mobilisierungswelle, die auf diesen Minimalismus folgte, macht das entscheidende Paradox sichtbar: Nicht trotz, sondern weil sie so „wenig“ verlangen, erschüttern sie die politischen Machtstrukturen. Das Rezept scheint simpel: minimale Forderungen, maximale Kompromisslosigkeit. In den Worten des österreichischen Philosophen Boris Buden: „Sie taten, was sie nicht durften – sie nahmen die liberale Demokratie beim Wort“. Daher sind sie – in seiner Paraphrase des Slogans aus der Pariser Studierendenbewegung von 1968 – „unrealistisch, weil sie das Mögliche verlangen“.

Protest als Klassenkampf

Die Aktionen der Studierenden – getragen von einer immer breiteren gesellschaftlichen Unterstützung durch verschiedenste Protestbewegungen – lassen sich daher auch als Klassenkampf im weitesten Sinne und durchaus revolutionär lesen. Spontane Zusammenschlüsse streikender Schulen, Informelle Elternverbände, neue Gewerkschaftsallianzen, Bauernproteste, Boykotte von Supermärkten und der Widerstand gegen den Lithiumabbau zeigen, wie sich unterschiedliche Kämpfe auf verschiedenen Ebenen verbinden und gegenseitig verstärken. Die serbische Politologin Saša Savanović erkennt darin – wenn auch nur implizit – einen deutlichen Wunsch nach einem Wandel des neoliberalen Wirtschaftsparadigmas.

Was all diese Protestbewegungen eint, ist die Einsicht, dass Globalisierung und neoliberale Transformation nicht das versprochene Wohlergehen brachten, sondern vielmehr zu wachsender Verelendung führten. Die korrupte politische Elite in Serbien ist kein Einzelfall – sie ist nur ein lokaler Ausdruck eines weltweiten Systems. Weder die Studierenden noch andere Akteur*innen sprechen es offen aus, doch ihr Handeln zeugt von einer intuitiven Gewissheit: Die unglückliche Ehe zwischen liberaler Demokratie und Kapitalismus wird kein Ende der Geschichte sein.

Zwischen Konsens und Konfrontation

Die Studierenden eröffneten eine neue Front im Kampf um Veränderung. Die konkrete Ausgestaltung dieser Veränderung bleibt aber umkämpft. Das zeigt sich in einem zentralen Widerspruch: Die Minimalforderungen schufen einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Gleichzeitig bieten sie Raum für unterschiedlichste realpolitische Deutungen entlang des ideologischen Spektrums. Zunehmend zeichnen sich zwei gegensätzliche Pole ab. Auf der einen Seite finden sich ethno-nationalistische Narrative, die „das gute Leben für alle“ nur ausgrenzend und unsolidarisch denken. Auf der anderen liberale Plädoyers für eine Expert*innenregierung, die die strukturellen Probleme des aktuellen wirtschaftspolitischen Modells ausblenden. Keine von den beiden Seiten setzt sich derzeit durch. Die Proteste bleiben in ihrem Kern dezentral, solidarisch, antiautoritär und systemkritisch – ohne in nationalistische oder technokratische Denkmuster zu verfallen.

Immer lauter werden auch Stimmen, die die fehlende ideologische Ausformulierung der studentischen Proteste als Schwäche kritisieren und eine klarere politische Sprache fordern. Ein ideologisches Minimum, das die Studierenden unmissverständlich formulierten, scheint jedoch die Stärke der Protestbewegung hinreichend zu untermauern: Die Plena als basisdemokratische Grundlage und die konkreten, vermeintlich bescheidenen, aber grundlegend revolutionären Forderungen. „Sie beweisen, dass ein einfacher, direkter Ruf nach Recht und Ordnung subversiver sein kann als anarchistische Gewalt,“ wie es der slowenische Philosoph Slavoj Žižek ausdrückt. Geht es nach den Studierenden, liegt der nächste Schritt nicht in inhaltlichen Forderungen, sondern in der Neugestaltung der politischen Form. Sie wollen den Ausbau von Bürger*innen-Foren und die weitere radikale Demokratisierung der Gesellschaft. Gefragt sind Mut, Fantasie und Kreativität, um das Politische neu zu denken und auszuleben. Denn für sie ist Demokratie nicht nur ein Ziel, sondern vor allem eine gelebte Praxis.

Foto: Bartholomäus Laffert

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