Proteste in Frankreich: “Die Polizei verbreitet Chaos und Angst”

Martin Barzilai arbeitet als Lehrer und aktivistischer Fotograf in Paris. Mosaik-Redakteur*innen Klaudia Wieser und Martin Konecny sprachen mit ihm über Frankreich im Ausnahmezustand, ängstliche MachthaberInnen und eine neue Dimension der Polizeigewalt.

Mosaik: Die Gelbwesten-Bewegung erschüttert Frankreich seit mehr als einem Jahr. Jetzt erleben wir eine der größten Streikbewegungen in Frankreichs Geschichte. Wie sieht die aktuelle Situation aus?

Martin Barzilai: Im Dezember kündigte die Regierung eine Pensionsreform an, mit dem Ziel Kürzungen und ein höheres Pensionsalter einzuführen. Die Menschen streikten für 45 Tage. Man muss sich das vorstellen, 45 Tage lang fuhren in Paris weder Züge noch U-Bahnen. Menschen, die am Rand der Stadt leben, mussten bis zu drei Stunden zu Fuß in die Arbeit gehen. Studierende, die in den Weihnachtsferien ihre Familien besuchen wollten, saßen fest. Die Stadt stand still und gleichzeitig demonstrierten bis zu 800.000 Menschen in den Straßen von Paris.

Die Gelbwesten entstanden außerhalb der Zentren, wo Menschen darum kämpfen, ihre Miete zu zahlen oder ihre sozialen Unterstützungsnetzwerke aufrecht zu halten. Dort fühlen sich viele alleine, sind wütend und kämpfen um ihre Existenz. Das war der Ausgangspunkt der Bewegung.

Für mich war es interessant zu sehen, wie die Gelbwesten bei den ersten Massenprotesten nach Paris strömten. Es war eine ältere, vielleicht naivere Generation, die sich verloren fühlte. Manche waren davor noch nie in der Hauptstadt gewesen. Sie hatten das Gefühl, ihre Forderungen am besten durch direkte Aktionen zum Ausdruck bringen zu können. Die Stadt brannte und die Polizei war hilflos. Das ist auch der Grund, warum wir so viel Polizeibrutalität erlebt haben. Im Dezember 2018 und Jänner 2019 war die Polizei gerade noch in der Lage, die Ministerien zu verteidigen, aber nicht viel mehr.

16. März 2019 während einer Gelbwestendemonstration, FOTO: Martin Barzilai
19. Dezember 2019 während einer Demonstration gegen die Pensionsreform, FOTO: Martin Barzilai

Wie haben die Menschen auf die Ankündigung der Pensionsreform im Dezember reagiert?

Fast alle sind von den Maßnahmen betroffen. Eine große Mehrheit der Menschen unterstützt die Streiks, weil sie wissen, dass es auch um ihre Zukunft geht. Es war interessant, die etablierten Medien zu verfolgen. Sie haben sich bemüht, Menschen vor die Kamera zu bekommen, die die Streiks ablehnen, aber sie haben kaum welche gefunden. Natürlich gab es kleine Geschäftsbetreiber*innen oder Restaurantbesitzer*innen, die sich beschwerten. Aber die große Mehrheit begreift; Die Regierung will das Pensionssystem, eines der letzten Dinge, auf die die Menschen noch vertrauen, privatisieren.

In Frankreich ist es für viele Menschen normal zu demonstrieren. Man geht auf die Straße, man kann die Kinder mitnehmen und ruft seine Sprüche. So war das früher, aber etwas hat sich verändert. Heute funktioniert das nicht mehr. Die Polizei wird immer brutaler.

4. Jänner 2020, Gelbwesten-Demonstration, FOTO: Martin Barzilai

Was wäre ein Erfolg für die Streikbewegung?

Ein Sieg wäre die Rücknahme der ganzen Reform. Aber ich befürchte, dass die Regierung sie durchkriegt. Im Moment ist der groß angelegte Streik zu Ende. In Paris fährt der öffentliche Verkehr wieder. Das ist nur verständlich, die streikenden Arbeiter*innen werden schließlich während des Streiks nicht bezahlt.

Was aber schon jetzt ein Erfolg ist: Auch Anwält*innen, Ärzt*innen und der öffentliche Dienst, wie Bibliotheken und Museen, beteiligen sich an weiter gehenden Streiks. Unterschiedliche Teile der Gesellschaft haben sich dem Streik angeschlossen, sie organisieren und radikalisieren sich immer mehr. Ich erwarte, dass es auch weiterhin kleinere Aktionen geben wird. Im März sind Lokalwahlen. Macrons Partei La République En Marche wird verlieren. Aber was kommt danach? Die Proteste werden weitergehen.


11. Jänner 2020, Demonstration gegen die Pensionsreform, FOTO: Martin Barzilai

Warum ignorieren die europäischen Medien die Proteste in Frankreich?

In Frankreich selbst können die Massenmedien die Proteste nicht ignorieren. Aber umgekehrt haben wir hier auch kaum etwas über die Massenproteste in Katalonien gehört. Ich denke, die Massenmedien in Europa haben Angst und versuchen, diese wichtigen sozialen Bewegungen herunterzuspielen.

Wie kannst du als Aktivist durch deine Bilder den Mainstream-Medien etwas entgegen setzen?

Ich mache nichts anderes als eine Person, die mit ihrem iPhone fotografiert. Vielleicht mache ich bessere Fotos, weil ich eine gute Kamera besitze und das Privileg habe, meinen Fokus auf einen spezifischen Blickwinkel zu richten. Ich mache zum Beispiel keine Fotos von direkten Aktionen, sondern dokumentiere vor allem Polizeigewalt.

Vor einigen Tagen konnte ich die Polizei dabei fotografieren, wie sie einen Demonstranten brutal verprügelte. Es war überall Blut und die am Boden liegende Person wurde schwer verletzt. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie und welches Foto ich davon veröffentliche. Am Ende habe ich es an eine große Zeitung gespielt. Ich hatte Glück und auch die gewissen Beziehungen, um es an die Öffentlichkeit zu bringen. In den meisten Fällen berichten die Massenmedien nicht über solche Fälle. Der Demonstrant wurde mehr als 24 Stunden von der Polizei festgehalten und muss jetzt vor Gericht. Die Polizei beschuldigt ihn, dass er sie attackiert hätte. Nachdem ich das Foto veröffentlicht habe, baten mich seine Anwälte, als Zeuge aufzutreten. Sie verwenden meine Fotos als Beweismittel.

18. Jänner 2020, Demonstration in Paris, FOTO: Martin Barzilai

Was kann man dieser Polizeigewalt entgegensetzen?

Es gibt leider wenig Möglichkeiten, etwas dagegen zu tun. Die Institution Polizei an sich ist in Frankreich sehr stark im Staatsapparat verankert. Es gibt linke Anwält*innen, die sich in Kollektiven zusammenschließen und Verteidigungen für Demonstrant*innen leisten. Seit Jahren haben wir aber kaum Fälle gesehen, wo sie vor Gericht Siege erzielten.

Die Polizei hält sich an keine Regeln. Seit 2014 sollten eigentlich alle Polizisten ihre Dienstnummern sichtbar tragen. Aber nur vielleicht ein Fünftel macht das auch. Ihre Strategie ist die Verbreitung von Chaos und Angst. Ich würde sagen, dass du bei einer Demonstration in Frankreich vielleicht nicht getötet werden kannst, aber du kannst ein Auge oder einen Arm verlieren und andere schwerwiegende Verletzungen davon tragen.

Bei Demonstrationen verwenden sie zwei Arten von Waffen, die in den meisten europäischen Ländern verboten sind. Zum einen sind das sogenannte Flashballs, die aussehen wie große Gummigeschoße.  Zum anderen schießen sie mit einer Art Schockgranaten. Sie erzeugen großen Lärm, sind aber zusätzlich mit einer kleinen Menge Sprengstoff gefüllt. Demonstrant*innen können bei den Explosionen schwer verletzt werden.

Wir müssen uns daran erinnern, dass diese brutale Art von „Aufstandsbekämpfung“ in den migrantischen Vorstädten und Arbeiter*innenbezirken am Rande von Paris getestet und präzisiert wurde, bevor sie heute an weißen Demonstrant*innen angewandt wird.

5. Dezember 2019, Demonstration gegen die Pensionsreform, FOTO: Martin Barzilai

Wie geht es jetzt weiter?

Die Machthaber*innen haben Angst. Der massive Anstieg an Polizeigewalt ist die Folge davon. Das ist nicht nur in Frankreich der Fall. Ich denke es ist wichtig, global zu denken und lokal zu handeln. Diese Gewalt ist eine direkte Auswirkung des Kapitalismus und des Rassismus und dagegen müssen wir alle gemeinsam eintreten. Es ist wichtig, verschiedene gesellschaftliche Gruppen zu vernetzen, die wütend, allein und in ihrer Existenz bedroht sind. Das ist eine komplex Herausforderung, bleibt aber die einzige Chance, weitere Erfolge zu erzielen.

19. März 2019, Paris, älterer Mann im Tränengasnebel, FOTO: Martin Barzilai

Martin Barzilai ist auf Instagram, tumblr und auf seiner Homepage aktiv.

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