Am Sonntag wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Zugewinne des rechten bis rechtsextremen Lagers sind ausgemacht. Dagegen braucht es langfristige Selbstorganisierung. Die Forschungsgruppe Contestations of ‚the Social‘ berichtet von eindrucksvollen Beispielen, die Hoffnung in düsteren Zeiten geben.
Während sich angesichts des gesellschaftlichen Rechtsrucks ein Gefühl der Ohnmacht über weite Teile emanzipatorischer Bewegungen legt, fand im Studierendenhaus des AStA der Uni Frankfurt am ersten Wochenende im Dezember eine große Feier statt: Die lokale Basisgruppe Project Shelter wurde 10 Jahre alt. Auf drei Stockwerken wurden Strategien diskutiert und einander zugehört, gemeinsam gegessen, gefeiert und ausgelassen getanzt, gelacht und geweint, aufeinander aufgepasst und praktische Solidarität gezeigt. Alles gleichzeitig. Wir waren als Forschungsgruppe Contestations of ‚the Social‘ dabei. Wir möchten Eindrücke und Inhalte von einem Wochenende teilen, bei dem nicht nur das Project Shelter dabei war. Auch die Berliner Erwerbslosengruppe BASTA! und die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) stellten ihre Arbeit vor. Gemeinsam vermittelten sie vor allem eine zentrale Erkenntnis: Unabhängig davon, wer antisoziale und rassistische Politik betreibt – das wirksamste Mittel dagegen ist langfristige Selbstorganisierung.
Das Project Shelter
Der Freitag startete mit einer Podiumsdiskussion. Es ging um die Frage, wie der ungleichen Verteilung von städtischem Raum in Frankfurt selbstorganisiert, anti-rassistisch und anti-kapitalistisch begegnet werden kann. Außerdem gab es ein Filmprogramm und einen Barabend. Am Samstag ging es mit einem Workshop zur Geschichte von Project Shelter schon früh weiter. Müde Gesichter – im Nebenraum schlugen Kinder Purzelbäume. Eine Teilnehmende erklärt in der Vorstellungsrunde, sie sei als alleinerziehende Mutter in erster Linie hier, weil der Kid’s Space ihr Kind betreut. Das Programm hätte sie auch interessiert.
Dann berichteten Ibrahim und Selin von der Geschichte der Geburtstagsgruppe. Alles fing an, als 38 obdachlose Migrant*innen im Jahr 2014 die Frankfurter Gutleutkirche besetzten. Nach der Besetzung riefen die Beteiligten eine eigene Organisation ins Leben: Project Shelter. Von Anfang an verfolgte die Graswurzelgruppe drei zentrale Ziele: Sie traten für ein selbstorganisiertes migrantisches Zentrum ein, machten (migrantische) Obdachlosigkeit in Frankfurt zum politischen Thema und leisteten zugleich konkrete Unterstützung für obdachlose Menschen – unabhängig von Aufenthaltsstatus oder staatlichen Zuschreibungen.
Bis heute organisiert die Initiative Schlafplätze. Sie begleitet bei Behördengängen, unterstützt ihre Mitglieder finanziell und durch Übersetzungen, bietet regelmäßig eine „Küche für alle“ an und vieles mehr. Die Aktionsformen der Gruppe sind vielschichtig: Petitionen, Demonstrationen, Sit-ins, Kundgebungen, Bildungsarbeit und eben Hausbesetzungen. Insgesamt fünf Mal hat die Gruppe versucht, sich ein Haus anzueignen. Mehrere der Besetzungen wurden von der Polizei geräumt. Einige der Gebäude stehen bis heute leer. 2016 gelang es Project Shelter, das Erdgeschoss eines Hauses im Stadtteil Bornheim für ein Jahr als Café und Anlaufstelle zu nutzen.
Die konkrete Solidarität hat die Gruppe dazu bewegt, ihr Themenspektrum beständig auszubauen: Anfangs ging es vor allem um das Thema Wohnen. Bald rückten die prekären Arbeitsverhältnisse in der Hotelreinigung und Gastronomie und Konflikte mit der Ausländerbehörde um die Vergabe von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen in den Fokus. Gerade diese Verbindung der Themen, so Project Shelter, macht die Gruppe aus. Am wichtigsten sei jedoch, dass alle, die zur Gruppe kommen, sich mit ihren Problemen ernst genommen und auf Augenhöhe unterstützt fühlen.
„Together we stand, together we move“
Gleichzeitig betonen die Mitglieder von Project Shelter im Workshop auch, wie schwierig der Weg in den letzten zehn Jahren war. Einige aus der Gruppe wurden abgeschoben, verhaftet oder starben aufgrund fehlenden Zugangs zur Gesundheitsversorgung. Nicht ohne Grund steht das Jubiläum unter dem Motto: „Together we stand, together we move“. Ibrahim betont, dass es vor allem das Gemeinschaftsgefühl in und um die Gruppe war, das es ermöglichte, auch schwere Krisen zu überstehen.
Nach acht Jahren der Auseinandersetzung war auch die Hoffnung auf ein eigenes Haus schon fast aufgegeben. Die städtischen Politiker*innen schienen von ihrem Standpunkt nicht abzurücken. Menschen ohne rechtliche Ansprüche auf sozialstaatliche Leistungen dürften auch kein eigenes Zentrum erhalten. Seit zwei Jahren ist Project Shelter nun aber doch Teil eines aus einer Besetzung hervorgegangenen Wohnprojekts. Es ist bis Ende 2025 geduldet und beherbergt aktuell 40 Personen.
Im Anschluss an die Präsentation kam schnell die Frage auf: Was hat sich geändert, wieso konnte das selbstverwaltete Zentrum auf einmal Wirklichkeit werden? Die Erfolge seien ein Beweis dafür, dass Beharrlichkeit und konkrete Solidaritätsarbeit sich auszahlen, so Selin. Die Realität (migrantischer) Obdachlosigkeit würde zwar weiterhin von manchen Stadtpolitiker*innen kleingeredet werden, aber niemand könne mehr behaupten, dieses strukturelle Problem existiere nicht.
Erwerbslosen Gruppe BASTA! – „Ich tu, was ich tu“
Zur Mittagspause hat die ada-kantine eine reich bestückte Sandwichbar aufgebaut. Es ist ein kalter Wintertag. Viele frösteln trotz warmer Getränke in dem wenig geheizten selbstverwalteten Studierendenhaus. Max Horkheimer eröffnete es im Jahr 1953. Er wollte einen Raum für Austausch und nicht-kommerzielles Miteinander zwischen Universitätsangehörigen und der Stadtgesellschaft schaffen. Im nächsten Workshop stellen die Berliner Erwerbslosengruppe BASTA! und die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) ihre Arbeit vor. Wie der vorherige Workshop, findet auch dieser zweisprachig statt. Das dauert zwar etwas länger, aber alle kommen gut mit.
Die Geschichten der drei Gruppen nebeneinander zu hören, gibt Einblick in die unterschiedlichen Formen, die lokale Basisarbeit annehmen kann. BASTA! lädt seit etwas mehr als zehn Jahren ein- bis dreimal die Woche zu einem offenen Beratungstreffen ein. Die Treffen finden im Erdgeschoss eines selbstverwalteten Hauses im Berliner Wedding statt. Im Kiez wohnen laut der anwesenden BASTA!-Aktivstin „viele arme Leute“ und es gibt ein großes Jobcenter. Eine ihrer bekanntesten Aktionen war die Besetzung einer leerstehenden Airbnb-Wohnung als Protest gegen den prekären Wohnungsmarkt. Bald erweiterten sich die Gruppe und ihre Aktionen auf weitere Stadtteile. Notwendige Ausgaben und gemeinsame Ausflüge werden durch Spenden finanziert. Ihre Arbeit ist unbezahlt: „Es gibt bei uns kein Ehrenamt, kein Hauptamt, ich tu, was ich tu”, so eine Aktive.
Arbeitslosenselbsthilfe seit 1982 in Oldenburg
Als eine der ältesten Basisorganisationen in Deutschland begann die ALSO im Jahr 1982 als eine Gruppe von Erwerbslosen. Sie entschieden sich, sich über ihre Betroffenheit schlau zu machen und dieses Wissen an andere weiterzugeben. Die ALSO arbeitet als Verein, der ein eigenes Haus besitzt und bezahlte Stellen durch kommunale Fördergelder finanziert. Der Einsatz um die Finanzierung ihrer Arbeit durch die Kommune ist Teil ihres politischen Kampfes. Die Gruppe wollte von Anfang an materielle Bedingungen für ihre Tätigkeiten schaffen, die Aktiven auch erlauben, dabei zu bleiben, wenn es finanziell prekär wird.
Mit anderen Erwerbslosenorganisationen in West- und Ostdeutschland hat die ALSO nach 1989 ein viel beachtetes Papier erarbeitet. Das Thema: Existenzgeld als Mittel zur Entfaltung besserer Lebensverhältnisse im Rahmen grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen. Ihre Arbeit erstreckt sich über die Stadt Oldenburg hinaus in benachbarte Regionen, die von Großkonzernen geprägt sind. Dazu gehört etwa die Fleischindustrie, in der vor allem migrantisierte Menschen beschäftigt sind. In den Netzwerken „AufrechtBestehen“ und „Europa in Bewegung“ besteht auch eine Zusammenarbeit mit BASTA!.
Während Project Shelter als Basisgruppe von Migrant*innen im Laufe der Zeit immer mehr soziale Fragen mit aufgenommen hat, starteten die ALSO und BASTA! beide mit einem Fokus auf das Jobcenter und die Agentur für Arbeit bzw. ihre Vorgänger. Durch die alltägliche Unterstützungs- und Beratungsarbeit angeregt, öffneten sie sich dann immer weiter für die spezifischen Belange von Migrant*innen. Eine Aktivistin aus Berlin formuliert das treffend: „Es ist unsinnig, sich auf eine Behörde zu konzentrieren. Wenn man arm ist, hat man auch andere Probleme. Wir orientieren unsere Arbeit an den Menschen, die wir sind und die zu uns kommen“.
„Organize Like Our Lives Depend on It Because They Do“
Alle berichten, dass gerade in migrantischen Communities nicht nur die Armut besonders schwer, die Ausbeutung besonders hart und die Schikanen der Ämter besonders dreist sind. Auch die Angst vor dem weiteren Erstarken rechter und rassistischer Kräfte greift um sich. Wieso seien sie hier nicht gewollt? Würden sie nun abgeschoben werden? Das sind Fragen, die immer öfter gestellt werden.
Nach dem letzten Wahlsieg von Trump rief der befreundete Aktivist Pete White vom Los Angeles Community Action Network (LA CAN) zur Organisierung als notwendiger Selbstverteidigung auf: „Organize Like Our Lives Depend on It Because They Do“. In Frankfurt stimmen die migrantischen, erwerbslosen und prekär beschäftigten Aktivist*innen überein, dass dies auch in Deutschland bittere Realität (geworden) ist – in der Arbeit von Project Shelter, ALSO und BASTA! geht es nicht selten ums Überleben.
Fast alle Parteien, die vermutlich in den neuen Bundestag einziehen werden, wollen Migrationskontrollen weiter verschärfen, soziale Rechte einschränken und kollektive Infrastrukturen abbauen. So erschreckend das ist, der Austausch in Frankfurt zeigte: Es gibt viele Menschen, die die Gewalttätigkeit und Tristesse dieser Tage nicht einfach hinnehmen wollen. Sondern durch ganz konkrete gemeinsame Kämpfe gegen Rechtsruck und Zumutungen im kapitalistischen Alltag eintreten.
*** Dieser Artikel basiert auf einem Text, der zuerst in der Februarausgabe der Graswurzelrevolution (Ausgabe 496) erschienen ist. ***
Foto: Project Shelter