Pedro Castillo Terrones, Ex-Präsident von Peru, ist Symbol für das „Perú profundo“ – die marginalisierten Bevölkerungsmehrheiten. Seine Absetzung führte zu landesweiten Protesten. Magdalena Kraus berichtet über die Forderungen, die die Proteste aktuell antreiben.
Der Wahlsieg Pedro Castillos bei den Präsidentschaftswahlen im Juli 2021 gab den marginalisierten Bevölkerungsmehrheiten in den Anden und im Amazonas endlich das Gefühl, vom Zentrum im Lima gehört zu werden. Erstmal gelang es ihnen sich mit ihrer Stimme an der Wahlurne durchzusetzen. Doch am siebten Dezember 2022 wurde Pedro Castillo des Amtes enthoben, nachdem er angekündigt hatte, den Kongress aufzulösen, um Neuwahlen auszurufen und vorerst per Dekret zu regieren. Dieses Vorgehen wird als autogolpe – „Selbst-Putsch“ – kritisiert. Seitdem befindet er sich in Untersuchungshaft.
„Diktatur des Kongresses“
Vorausgegangen waren 16 turbulente Monate des Regierens mit 48 wechselnden Minister*innen. Castillo war nach internen Auseinandersetzungen im vergangenen Juli aus seiner Partei „Perú libre“ ausgetreten. Er regierte oftmals gegen den Kongress, in dem er keine Mehrheit hatte und der bereits zweimal versuchte ihn abzusetzen – nicht zuletzt aufgrund von Korruptionsvorwürfen.
Auf die Amtsenthebung von Castillo haben große Teile der Bevölkerung in den Provinzen (Anden und Regenwald) mit Protesten und Straßenblockaden reagiert. Die Übergangsregierung unter der Präsidentin Dina Boluarte antwortete mit der Verhängung des Ausnahmezustandes und Ausgangssperren. Das heizte die Stimmung im Land weiter an. Die Protestierenden sprechen wegen der Einschränkung der Versammlungsfreiheit und der Grundrechte auch von einem Putsch und einer „Diktatur des Kongresses“.
Historische Kontinuität in Peru
Bisher sind 45 Menschen (aktualisiert, Stand: 21.1.) bei den Protesten gestorben – der Großteil durch Gewalt von Polizei und Streitkräften. Insbesondere junge Erwachsene, die aufgrund der historisch gewachsenen Ungleichheiten im Land, der Diskriminierung und Exklusion, scheinbar nichts mehr zu verlieren hatten. Der Großteil davon im Süden Perus (Ayacucho und Apurímac). Es betrifft somit dieselben Regionen, die bereits in den 80er und 90er Jahren im internen bewaffneten Konflikt zwischen Staat und der terroristischen Organisation „Leuchtender Pfad“ aufgerieben wurden.
Sowohl Medien als auch rechte Politiker*innen instrumentalisieren die Proteste und stellen die Demonstrierenden als „linke Terrorist*innen“ dar. Indem sie das Narrativ verdrehen, kreieren sie eine vermeintliche Nähe der gegenwärtigen Mobilisierungen zur Zeit des Terrorismus („terruqueo“). Damit werden die Proteste und Forderungen delegitimiert und kriminalisiert, jegliche Repression und Gewalt sowie der Tod der Demonstrierenden gerechtfertigt.
Die Forderungen der Protestierenden
Neben den Mobilisierungen auf der Straße versuchen Intellektuelle nun auch diskursiv Druck auf den Kongress aufzubauen, indem sie die Anliegen der Protestierenden thematisieren. Am 15. Dezember veröffentlichten fast 300 Schriftsteller*innen, Verleger*innen, indigene Intellektuelle, Übersetzer*innen und Lesevermittler*innen aus Peru eine Stellungnahme, in der sie sich mit den Protesten solidarisieren. Die nationalen Reaktionen darauf sind geteilt: Kritische Medien veröffentlichten die Stellungnahme, andere Schriftsteller:innen positionierten sich ablehnend dazu. Die Stellungnahme, die hier in gekürzter Form wiedergegeben wird, ermöglicht einen Einblick in die Forderungen und Treiber der aktuellen Proteste.
- Wir verurteilen die Gewalt des peruanischen Staates gegen Bürger*innen, die ihr Recht auf Protest wahrnehmen. Die Regierung, die heute von Dina Boluarte angeführt wird, ist verantwortlich für den Tod von einundzwanzig Peruaner*innen sowie für Dutzende Schwerverletzte […]. Die peruanische Polizei (PNP), eine Institution, die seit den 1980er Jahren mit denselben repressiven Methoden gegen die Zivilbevölkerung vorgeht, agiert ungestraft gegen die Grundrechte. Dabei geht sie besonders brutal gegen Demonstrierende aus den benachteiligten Regionen, den Anden und dem Amazonasgebiet, vor […]. Deshalb fordern wir Gerechtigkeit für die Opfer der staatlichen Gewalt der letzten Tage. Und eine echte Reform der Polizei, die die strafrechtliche und administrative Verfolgung der Verantwortlichen für diese Todesfälle und Übergriffe beinhaltet.
- Wir lehnen die Verhängung des Ausnahmezustands ab. Dieser wurde von einer Exekutive ausgerufen, die im Dienste eines delegitimierten Kongresses steht. Wir lehnen auch die Gewährung von Ausnahmebefugnissen ab. Sie erlauben der Polizei und den Streitkräften Gewalt anzuwenden und setzen verfassungsmäßige Rechte außer Kraft . Auf die Forderungen der peruanischen Gesellschaft, die Krise umgehend zu lösen, hat der peruanische Staat mit Repression und Tod reagiert. Wir bedauern die mangelnde Bereitschaft, einen nationalen Dialog einzuleiten. Der Staat, die Konzerne und die Medien ignorieren die Äußerungen der bäuerlichen Gemeinschaften (comunidades campesinas), der Regierungen indigener Territorien, der regionalen Regierungen, sozialer Organisationen und Kollektive im ganzen Land. Sie versuchen, sich mit einem unerträglichen Rassismus, Klassismus und Zentralismus gewaltsam durchzusetzen.
- Wir unterstützen die landesweiten Proteste, die Unmut über historische Ungleichheiten zum Ausdruck bringen. Sie richten sich gegen eine politische Klasse, die mit Verachtung für die eigene Bevölkerung regiert. Wir sind solidarisch mit allen Verletzten und Festgenommenen. Wir stehen in diesem Kampf mit unseren Brüdern und Schwestern. Wir lehnen auch die Kriminalisierung von Bürger*innenprotesten durch die Exekutive und den Kongress ab. Der Diskurs, den der peruanische Staat aufrecht […] erhält, zeigt einmal mehr den mangelnden politischen Willen, diese Krise zu lösen. Er reduziert den nationalen Protest auf Vandalismus, Terrorismus oder Kriminalität. Die monopolisierten Medien sind das Sprachrohr der peruanischen extremen Rechten. Dabei greifen sie auf den “terruqueo” zurück, der [durch Angstpolitik und Kriminalisierung] die von den Provinzen ausgehende soziale Mobilisierung [einschüchtert und] behindert.
- […] Wir halten an den Forderungen fest […]: Rücktritt von Dina Boluarte. Beendigung der parlamentarischen Diktatur des Kongresses und vorgezogene Wahlen. Sowie die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung […] zur Schaffung eines neuen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Paktes.
Proteste als Ausdruck einer strukturelle Krise
Die derzeitige Situation der politischen (Repräsentations-)Krise ist keine neue, sondern ein strukturelles Problem: Ein großer Teil der historisch exkludierten Bevölkerung fühlt sich nicht ernst genommen und sogar gedemütigt. Die Unterstützer*innen der Proteste fordern nicht zwangsläufig die Rückkehr von Castillo, beziehungsweise bestreiten seine Fehlentscheidungen nicht. Aber Castillo wurde zum Symbol vieler marginalisierter Menschen und ihrer Erfahrungen. Wie sie selbst, war er während seines Amtes dem Rassismus und Klassismus der politischen und wirtschaftlichen Eliten des Zentrums ausgesetzt. Es wäre nun die Aufgabe der Übergangsregierung und des Kongresses genau jene Menschen in ihren Forderungen ernst zu nehmen. Das politisch und gesellschaftlich tief gespaltene Land ist nur durch umfassende soziale Transformationen zu einen, die mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung beginnen müssten. Die gegenwärtig mobilisierte Bevölkerung ist nicht mehr so einfach zum Schweigen zu bringen. Auf den Schildern der Protestierenden ist zu lesen: „Si morimos, no prendas una vela, prende el congreso” – „Wenn wir sterben, zünde keine Kerze an, sondern den Kongress“.
Foto: Alvaro Palacios