Per Anhalter durch die Klassengesellschaft

LKWs auf Autobahnparkplatz

Ein Arbeiter aus den Pariser Vororten, ein revolutionärer Finanzdirektor, ein Energiegemeinderat, der seinen eigenen Camper für eine Umweltsünde hält. mosaik-Redakteur Fabian Hattendorf berichtet von Begegnungen auf seiner Reise per Anhalter von Wien in die Bretagne. Von Gesprächen über steigende Energiepreise, Alltagsrassismus und Hoffnung, wo keine mehr sein dürfte. 

Es ist 16 Uhr, Rush Hour am Wiener Südtiroler Platz. Dicht an dicht stehen die Körper in der U-Bahn gedrängt, stehen so nah beieinander, dass sie sich berühren. Und doch ist es, als wäre da niemand anderes. Als würde man nicht auf die Person neben sich blicken, sondern durch sie hindurch. Nichts ist in der Stadt einfacher, als aneinander vorbeizuschauen. Aneinander vorbeizuleben. Zeit, das zu ändern.

Die U-Bahn-Türen öffnen sich. Ich lasse Lärm und Schweiß hinter mir und steuere auf die Tankstelle zu. Schon beim ersten Auto habe ich Glück.

Care-Managerin, Dichtungsringe, Wasserstoff

„Ich nehme dich mit, aber ich habe keine Lust zu reden.“ Anja ist 40, Kunsttherapeutin und auf dem Weg zu ihren Eltern in Salzburg. Ihre Mutter ist ein Pflegefall – Krebs und Demenz – ihr Vater hat gerade Corona bekommen. Ich spüre sofort eine gewisse Verbundenheit mit ihr, denn auch sie ist unterwegs, um sich um Menschen, die ihr lieb sind, zu kümmern. Fast ununterbrochen klingelt ihr Telefon. Während dem Fahren bestellt sie ihren Eltern Essen für vier Tage, organisiert die Familienbereitschaft für das Wochenende, ruft ihrem Vater den Arzt und schließlich den Rettungswagen. Ich frage mich, ob die Erfindung der Bluetooth-Kopfhörer für geborene Managerinnen wie Anja der größte Segen oder Fluch des Jahrhunderts ist.

Als nächstes nimmt mich ein Vorarlberger Verkäufer mit. Sein Leben hört sich stressig an, auch wenn es kein ungewöhnliches ist. Die meiste Zeit fährt er für sein Unternehmen durch Österreich, um Industrieprodukte zu verkaufen. Wellendichtringe oder Rollfalzen, ich weiß es nicht mehr. Überstunden und weite Wege sind Programm; Wien kennt er von zahlreichen Hotelbesuchen. Seit er den Handballverein in seinem Heimatort in Vorarlberg nicht mehr leitet, hat er außerdem ein politisches Hobby als Wirtschaftsgemeinderat gefunden. Was genau seine politischen Ziele sind erfahre ich nicht mehr, aber die Schlagworte Tourismus und Wirtschaftswachstum fallen. Im Dezember wird er Großvater und wünscht sich, dann für seine Enkelin da sein zu können. Ich wünsche es ihm auch.

In München ist es schon fast dunkel. Zwei deutsche Rentner*innen mit Wohnmobil retten mich vor einer ungemütlichen Nacht im Speckgürtel. Noch bevor wir Namen austauschen können, fragt mich der Mann, was ich von Wasserstoff halte. Nicht viel, sage ich ehrlich, und daraus entbrennt eine Diskussion über erneuerbare Energien, Windräder und E-Autos, für die es eigentlich schon zu spät ist. Er ist Energiegemeinderat und Altgrüner. Seinen Campingwagen nennt er eine Umweltsünde – gut, dass er dafür jetzt einen Anhalter mitnimmt.

An einer Tankstelle in Augsburg geht es nicht mehr weiter. So viele LKWs machen hier Nachtruhe, dass die letzten in Notfallbuchten und auf dem Seitenstreifen der Autobahn die Nacht verbringen müssen. Da habe ich es unter meiner Zeltplane gemütlicher.

Autor Fabian an der Straße

Zur Messe mit 160

Am nächsten Morgen weckt mich ein Porsche, dessen Fahrer mich mit 160 km/h bis an die französische Grenze mitnimmt. Er ist Geschäftsführer mehrerer Unternehmen – Sicherheitstechnik, Filmtechnik, Geothermie – und auf dem Weg zu einer Messe in Offenburg. Dafür ist er um ein Uhr nachts losgefahren und will schon am Abend wieder zurück in Wien sein. Plötzlich komme ich mir mit den 2.000 Kilometern, die ich in zwei Tagen durch Europa trampen will, sehr normal vor.

Ganz offenbar freut er sich über Gesellschaft, das heißt: über eine Person, der er aus seinem Leben erzählen kann. Ich bekomme nur Ausschnitte mit: Von seinen Plänen, nächstes Jahr nach Spanien auszuwandern, dort ist schon alles für die nächste Unternehmensgründung vorbereitet. Aber bloß nicht zu weit in den Süden! Da hat niemand mehr Lust zu arbeiten. Über seine Aufträge für den ORF und SWR: Das öffentlich-rechtliche Fernsehen wirtschaftet sich zu Grunde, generell ist dem Staat nichts mehr zuzutrauen. Ein Glück gibt es ihn, den erfinderischen Unternehmer – und besser noch, den freien Markt!

Zwischenstopp bei Lidl

Ich bin froh, als ich an der nächsten Tankstelle bei Flavian einsteige. Wo, wenn nicht beim Anhalter fahren, kann man sich innerhalb von fünf Minuten mit einem ultraliberalen Unternehmer und einem in der Banlieu aufgewachsenen Arbeiter unterhalten? Flavian ist ein Kind der modernen Arbeiter*innenklasse, die sich von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob hangelt, keine Tarifverträge und keine gewerkschaftliche Organisierung kennt. Wenn sein Chef anruft und ihm sagt, dass es dringend eine Lieferung abzuholen gibt, hat Flavian die Wahl, den Job anzunehmen oder nicht. Also fährt er nachts los, 600 Kilometer nach Deutschland und direkt wieder zurück. Wir machen eine einzige kurze Pause bei Lidl auf dem Weg, wo sich Flavian zwei pain au chocolat kauft und schnell hinter ein Gebäude pinkelt. Dann müssen wir weiter.

Fünf Stunden lang teilen wir den Weg und ich lerne Flavian kennen. Sein Vater ist mit 12 vor der Diktatur in Portugal nach Paris geflohen. Er selbst hat es nie wirklich aus der Banlieu geschafft – anders als seine Schwester, die schon während der Schulzeit andere Freund*innen gehabt hat und jetzt in London lebt. Er hat anfangs Geld als Drogendealer und auch als Zuhälter verdient – eine Zeit, die er froh ist, hinter sich gelassen zu haben. Jetzt wohnt er mit seiner mexikanischen Frau und siebenjährigen Tochter zusammen.

Er beklagt sich wenig über das harte Leben, das er führt. Im Gegenteil kritisiert er all jene, die so wenig haben wie er, aber sich nur über die da oben aufregen, die ständige victimisation im Rap der cité, den auch er früher gehört hat. Dementsprechend ist er gegen die Erhöhung des RSA, des französischen Arbeitslosengeldes. Wohl auch, weil damit Geringverdiener wie er, die früher noch Anspruch auf das RSA hatten, relativ gesehen sozial absteigen.

Ich vermute, dass es kein Zufall ist, dass sich Flavian mit dem, was er hat und dem, was ihm genommen wird, zufriedengibt, sondern auch psychologischer Schutzmechanismus. Außerdem ist da noch der Traum, dieser weit entfernte Traum, dass harte Arbeit entsprechend belohnt wird.

Wer von dem System profitiert

Und doch hat Flavian, wenn es um die Politik geht, ein sehr klares Verständnis davon, wer von diesem System profitiert, und wer nicht. So zum Beispiel bei den steigenden Energiepreisen, die ihn besonders hart treffen (Auto, Sprit und Maut zahlt nicht die Firma, sondern er). Wir einigen uns darauf, Luxusemissionen anzugehen. Aber hier lauert schon die nächste Herausforderung: Laut Flavian seien die meisten französischen Unternehmen in den Händen von Juden.

Trotzdem sind viele von Flavians Positionen differenziert: Er fühlt sich keiner Partei zugehörig und sagt, dass er Politik an ihren Folgen misst, nicht an der politischen Farbe der Partei, die sie ausführt. Unser Gespräch lässt vermuten, dass er bei den letzten Wahlen wegen dem Thema Migration für Zemmour gestimmt hat. Einwanderung ist Flavians Meinung nach ein großes Problem für Frankreich. Nicht jede Einwanderung – Menschen die vor Krieg und Verfolgung fliehen, seien in Frankreich natürlich willkommen. Aber kein Verständnis bringt er den Wirtschaftsflüchtlingen entgegen, vor allem den maghrébins, „qui viennent y foutent la merde“. Er erklärt sich den französischen Rassismus durch eine fehlgeleitete und zu offene Einwanderungspolitik, sagt aber auch, dass sie keine rassistischen Positionen rechtfertige.

Hinter einiger dieser Bemerkungen höre ich die Stimmen von Zemmour, Le Pen, Macron & Co. Gehilfen eines Systems, das die Arbeiter*innenklasse spaltet und sich dadurch am Leben hält. Nichts zeigt mir so deutlich wie meine nächste Begegnung, wie Menschen darunter im Alltag zu leiden haben.

Der nächste Zwischenhalt

„Ich liebe Frankreich, aber Frankreich liebt mich nicht“

Amid hält für mich mitten auf der Einfahrt auf Paris größten Autobahnring. Ich steige ein, ohne wirklich zu wissen, wo er hinfährt: Hauptsache weg von hier. Über eine Stunde schon stehe ich in der Mittagshitze im Pariser Verkehrschaos. Amid begrüßt mich mit einem breiten Grinsen. Ich sehe aus wie Paul Breitner, meint er. Mit seiner Glatze und dem kräftigen Bart sieht er aus wie Benzema. Wir kommen über Fußball ins Gespräch. Welche Nationalmannschaft er anfeuert, Marokko oder Frankreich? Das ist ihm egal, sagt er. Fußball ist eine Kunst und gewinnen soll die Mannschaft, die am schönsten spielt.

Amid wohnt seit 2001 in Frankreich. Er liebt Frankreich, aber Frankreich liebt ihn nicht, sagt er mir. Maghrébins wie er müssen als Sündenbock für alles hinhalten. Antimuslimischer Rassismus gehört zum Alltag. Irgendwann hat er es nicht mehr ausgehalten und sich aus dem gesellschaftlichen Leben weitestgehend zurückgezogen. Mit seiner Familie ist er aus der Stadt in ein Dorf 30 Kilometer vor Paris gezogen. Dort meiden sie die Nachbar*innen und leben für sich. Seine drei Töchter sind noch zu jung, um zu verstehen, warum er sich nicht Franzose nennen kann, obwohl er die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt und seit über 20 Jahren in Frankreich lebt. Aber leider, da ist er sich sicher, werden sie es noch verstehen.

Die Schuld dafür gibt er dem System. Jahrhunderte Kapitalismus und Kolonialismus haben uns Menschen zugrunde gerichtet. Sollte Frankreich endlich Afrika in Ruhe lassen, würden Afrikaner wie Amid endlich Frankreich in Ruhe lassen, sagt er. Und trotzdem: Als ich ihm beim Aussteigen sage, ich bin mir nicht sicher, ob ich es heute noch zu meiner Schwester schaffe, schaut er mich ernst an und sagt: Es gibt immer Hoffnung.

Ein revolutionärer Finanzdirektor

Einige Stunden später, ich bin schon in der Bretagne. Ein älterer Mann an der Tankstelle schaut mich freundlich interessiert an. Ich frage ihn, ob er in meine Richtung fährt und ja: Er nimmt mich bis kurz vor Quimper an der Küste mit. Jean ist schick gekleidet, sehr höflich und pensionierter Finanzdirektor. Aber statt Excel-Tabellen versteckt sich revolutionäre Praxis hinter seiner Arbeit: Jean hat sein Leben lang Arbeiter*innen dabei geholfen, Eigentümer*innen ihrer Unternehmen zu werden. So hat er zahlreiche Genossenschaften bei der Gründung unterstützt. Die größte Herausforderung besteht darin, meint er, die Arbeiter*innen zu ermächtigen und der Profitlogik, die wir so verinnerlicht haben, entgegenzuwirken.

Dabei sei nichts natürlicher, als zusammenzuarbeiten. Er erzählt mir vom Gesetz der Kooperation, über das der anarchistische russische Anthropologe Kropotkin zeitgleich zu Darwin geschrieben hat. Ihm zufolge wird die natürliche Selektion überbewertet: Oft gehe es im Tierreich nicht darum, sich als Individuum im Wettbewerb gegen andere Tiere durchzusetzen. Stattdessen weisen zahlreiche Beispiele daraufhin, wie die gegenseitige Hilfe vor Feinden schützt und die Nahrungssuche erleichtert. Ameisen, die miteinander ihr Essen teilen, Pferde, die sich gemeinsam vor Gewittern schützen, Pelikane, die blinde Artgenossen mit Essen versorgen. Es ist eine banale Wahrheit, dass wir alle gegenseitig von der Kooperation profitieren, und doch haben Jahrhunderte Marktideologie und Wettbewerbslogik so einiges angerichtet. Jean hat es zu seiner Lebensaufgabe gemacht, dem entgegenzutreten. Es gäbe bereits zahlreiche Nischen, unzählige Arten und Weisen des Zusammenlebens außerhalb des Marktes, die wir sichtbar machen und deren Geschichten wir erzählen müssten.

Am Meer

Angekommen

Noch eine Nacht in der Hängematte, am nächsten Morgen die letzten 100 Kilometer und dann bin ich angekommen, in Audierne. Fast 2.000 Kilometer sind es von hier bis Wien. Nur kurze Zeit habe ich mit Menschen wie Jean, Amid und Flavian den Weg geteilt und doch fühle ich mich ihnen sehr vertraut. Das ist das Anhalterfahren: Fremden zuhören und Vertrauen schenken, unterwegs und doch zu Hause sein. Es bräuchte mehr davon.

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