Oratorio Europa: Die Geschichte kriegt ja immer, was sie will, die alte Sau

Dem von Rechten besetzten Mythos Europas als eroberte Frau stellt das Theaterstück Oratorio Europa sechs Frauen entgegen: Kämpferinnen, Chronistinnen, Trümmerfrauen, die endlich den Faschismus wegräumen wollen. Eine Theaterkritik von Sophie Steinbeck.

Das Publikum betritt die Bühne: die Ruinen Europas. Sechs Frauen auf der Tribüne beobachten mit Operngläsern, wie wir in einer Papplandschaft herumwandern und von einem Mann mit Bauchladen Popcorn überreicht bekommen. Ein rot-weiss-rot gestreiftes Absperrband trennt die beiden Bereiche.

„Ich bin gekommen, das Land zu bestellen. Denn das Land gehört denen, die es bestellen.“ Das Oratorio beginnt mit der Frage nach Europa. Wem gehört es, wer gehört dazu, und wo ist es eigentlich hingekommen, dieses Land? Das Land des Stücks (gebaut von Jugend am Werk) besteht aus Resten griechischer Tempel, dem halben Unglücksauto Haiders, Holzpaletten mit säuberlich aufgereihten Boxhandschuhen sowie einem überdimensionalen bläulichen Androidenkopf. Europa als Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Fakten und Pappe, Fiktion, Film und Comic: Europa besteht aus Erzählungen. Wir dürfen nicht aufhören, uns zu erinnern, und wir dürfen diese Erzählung nicht den Rechten überlassen. Eine Aufgabe, die die Performerinnen in Müdigkeit und Melancholie führt, aber auch in Widerstand: „Ich bin ja zum Glück kein Subjekt, das einfach so ins Innerliche migriert.“

Die sechs Frauen, gekleidet in schwarze Kleider, eine Mischung aus kirchlicher Andacht und Hexenkostüm, schlagen die Textbücher zusammen. Unter Sirenen wird das Publikum von der Bühne gewiesen. Die Performerinnen schälen sich aus den Kleidern. Darunter tragen sie bunte, enge Superheldinnenkostüme. Vom Band ertönt dabei die Stimme von Katharina Bach: „In letzter Zeit ertappe ich mich dabei, dass ich lieber zuschlagen will als etwas nachzuschlagen – tja.“

Lieber zuschlagen als nachschlagen

In der Stille der Ruinen steht der Chor aus Frauen. Kämpferinnen in Held*innenpose, die warten, sich vorbereiten auf den Kampf, ihn müde sind, sich ihm nicht entziehen können: die Schülerin Lilli Schandl, die Musikerin Anna Starzinger, die Menschenrechtsaktivistin Mahsa Ghafari, Pegah Ghafari, Nina Pjanic und Viktoria Kremer. Über die (links-)politischen Interessen und Aktivitäten der Performer*innen wird das Publikum im Abendzettel informiert. Das soll keine Absicherung an den Abend sein, sich im korrekten politischen Spektrum zu bewegen. Vielmehr werden die Frauen auf der Bühne damit zu eigenmächtig Handelnden, die nicht aus einer ihnen vorgeschrieben Figur handeln oder sprechen, sondern aus einer eigenen Dringlichkeit.

Dieses spürbar persönliche Anliegen ist eine der grossen Stärken des Abends; etwa wenn die älteste Performerin Viktoria Kremer, umringt von den jüngeren Frauen, von ihrer Kindheit in Graz erzählt, von Ausschluss aus freudigen Volkstänzen in lustigen Dirndln, und daraus zu einer kritischen Betrachtung der Psychiatrie und ihrer Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus kommt. Oder wenn Lilli Schandl erschöpft und verausgabt nach einem einsamen Boxkampf am Boden liegt, dessen kunstvoll ausgeübte Schläge gegen die Melancholie, die Verzweiflung, in den Aufschrei „Hallo, Solidarität?!“ münden.

It’s just a movie

Das Kollektiv Freundliche Mitte, im Kernteam bestehend aus Gerhild Steinbuch, Philine Rinnert und B.Fleischmann, schafft mit Oratorio Europa ein das Publikum und die Performer*innen forderndes, zuweil überforderndes Stück. Das Publikum wird von allen Seiten mit Text beschossen: chorisch gesprochen, gesungen, eingespielt vom Band, auf die Wand projiziert. Diese Anstrengung und Überfrachtung lassen den*die Zuschauer*in dem Zustand von Müdigkeit und Melancholie nahekommen, der sich als zentrales Thema durch den Abend zieht. Statt einer kontinuierlichen Geschichte wird in Bildern erzählt, die von der Textprojektion benannt und kommentiert werden.

Statische Bilder reihen sich aneinander: die Performerinnen liegen mit offenen Augen auf dem Boden wie Zombies, formen zusammen ein leidendes Marienbild, umwickeln sich die Hände in Vorbereitung auf einen Boxkampf gegen die Luft. Diese Bilder schaffen zusammen mit der Bühne und den unterschiedlichen, einander überlagernden Textebenen und der Musik ein Übermaß an Zeichen, denen kaum zu folgen ist.

Dass die Performerinnen keine professionellen Schauspielerinnen sind, lässt den Chor teilweise auseinanderfallen. Manchmal wirken komplexere Textteile verschluckt, heruntergehastet, kommen die Performer*innen dem rasenden Textfluss nicht hinterher. Die Weigerung des Abends, einem Narrativ zu folgen und die Performer*innen zu psychologischen Figuren werden zu lassen, hindert eine*n als Zuschauer*in aber auch daran, sich entspannt einer Fiktion hinzugeben. Stattdessen wird das Publikum mit einer Realität konfrontiert: Unsere Welt ist eine rechte Welt. Und wir geben uns nicht zufrieden damit. „Von der Straße bis nach Hause darf kein Ort meinen Tentakeln entkommen.“

Halt’s Maul, Sebastian

Der Text von Gerhild Steinbuch nimmt eine klare politische Position ein: „Halt’s Maul Herbert, Halt’s Maul Norbert, Halt’s Maul Heinz-Christian, Halt’s Maul Sebastian.“ Freilich sitzt im brut wohl niemand, der sich darüber empören würde. Die Aussagen funktionieren eher als kathartische Momente. Zusammen mit der Musik von B.Fleischmann und Projektionen bringen sie eine Struktur aus kleinen Höhepunkten in den Abend: da gibt es zum Beispiel ein Blumen-ABC, basierend auf dem Schlager Kornblumenblau von Willy Schneider, in dem im Stile Nina Hagens Blumennamen hingerotzt werden. Oder eine Projektion eines alten Horrorfilms, in dem ein riesiger Krakenarm wiederholt auf die Bühne einschlägt, mit live geschriebener Textprojektion, die uns auffordert:“ Be afraid. Be very afraid.“

Aber wie im letzten Teil, betitelt „Es folgen ein paar Worte an denen mir mehr als an allen anderen liegt“, gesagt wird: „Ich will nicht mehr über Rechte reden, die reden ja auch nicht über mich.“

Während Bergeins, die letzte Produktion des Kollektivs Freundliche Mitte im Februar 2018, sich noch sehr auf diese Auseinandersetzung mit, gegen und über die Rechten fokussiert hat, erlaubt sich Oratorio Europa den Blick hin zu einer möglichen Zukunft, der Frage nach Solidarität, und was für eine Gesellschaft wir wollen. Damit die Geschichte endlich kriegt, was wir wollen. Die alte Sau.

Be afraid. Be very afraid.

Im Schlussgesang verschränken sich Lied und Text ineinander, verschränken sich die Arme der Performer*innen ineinander. In einem leisen, immer wieder wiederholten Gesang, der verschwörerisch, beinahe bedrohlich klingt, erzählen die Frauen vom Bau einer neuen Stadt: von der Erde, dem Wasser, dem Mischen des Kalks. Fast kitschig ist diese geschlossene Reihe als Schlussbild, über deren Gesang hinaus die Frauen noch einmal einzeln zu Wort kommen, würde man nicht die Wut spüren, die hinter den Worten steht.

Die Inszenierung ruft die Frage auf, was ist Europa oder vielmehr, wer ist Europa, abseits von alten, weißen, rechten Männern? In Oratoria Europa sind es sechs Frauen, jung und alt, of colour und weiss, melancholisch und zornig, die nach Solidarität schreien.

Am 13. Oktober hat man das letzte Mal die Möglichkeit, Oratorio Europa zu sehen. Um 16 Uhr im brut.

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