Offene Grenzen sind keine Krise, sondern eine Lösung

Noch vor zwei Monaten kritisierte die österreichische Regierung den ungarischen Ministerpräsidenten, weil er einen Stacheldrahtzaun gegen Flüchtlinge errichtet hat. Statt ordentliche Unterkünfte vor dem Winter bereitzustellen, will unsere Regierung jetzt mit dem Bau eines Zauns zu Slowenien Orbans Vorbild folgen. Dagegen braucht es Widerstand, schreibt Karin Wilflingseder von der Plattform für eine menschliche Asylpolitik.

„Danke liebes Meer, du bist der einzige, der mich ohne Visum aufgenommen hat“, heißt es in einem fiktiven Abschiedsbrief eines syrischen Flüchtlings, der sich Anfang Mai 2015 in ägyptischen sozialen Medien verbreitete. „Danke liebe Fische, dass ihr mich aufgefressen habt, ohne nach meiner Religion oder politischen Verbindungen zu fragen.“ Alleine heuer sind bereits über 3.400 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer gestorben. Manchmal hielten EU-Regierungen eine Schweigeminute ab, um danach wieder an der mörderischen Festung Europa weiterzubauen. Die Botschaft war: Widerstand ist zwecklos. Die ständig verschärften Gesetze wären nicht rückgängig zu machen.

Doch im Sommer haben Flüchtlinge und ihre solidarischen Unterstützer_innen die Mauern der Festung Europa niedergerissen. Sie haben unsere Regierung dazu gezwungen, die Grenzen zu öffnen. Trotz Androhung hoher Strafen wegen Schlepperei (§ 114 FPG) und wegen der rechtswidrigen Einreise und des rechtswidrigen Aufenthalts (§ 120 FPG) ließen sich die Menschen das Helfen nicht verbieten. Es waren zu viele, um sie alle zu kriminalisieren.

Rückkehr zur „Normalität“ bekämpfen

Wir sollten in diesem Zusammenhang das Wort „Flüchtlingskrise“ tunlichst vermeiden. Der massenhafte Durchbruch der Flüchtlinge nach Europa stellt für viele eine Lösung der Krise dar. Die solidarische Aufnahme ist ein Modell dafür, wie wir im wohlhabenden Europa auf Migrationsbewegungen reagieren sollten. 25 Jahre lang haben unsere Regierungen die Einreisebestimmungen Jahr für Jahr, Novelle für Novelle, verschärft. Die erste positive Reform – die Öffnung der Grenzen – wurde von unten erzwungen und muss mit diesem Bewusstsein verteidigt werden.

Innenministerin Johanna Mikl-Leitner, der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer und Co wollen diese Fortschritte zunichtemachen und zurück zur „Normalität“. Die EU-Außengrenze soll dicht gemacht und Menschen in „Hot Spots“ gesteckt werden. Jahrelange Unsicherheit über die eigene Zukunft soll jene zermürben, die die Tortur der Flucht überlebt haben. Die Militärmission „Sophia“ führte bereits zu einem dramatischen Rückgang der aus Seenot im Mittelmeer geretteten Menschen. Deutschland will trotz der katastrophalen Sicherheitslage wieder verstärkt nach Afghanistan abschieben und verschärft das Asylrecht. Die österreichische Bundesregierung zieht nach und zeigt mit „Asyl auf Zeit“, einem erschwertem Familiennachzug, dem Bau eines Grenzzauns und mehr Polizei an den Grenzen, ihr hässliches Gesicht.

Zäune: Tödliche Abschreckungspolitik

Ein Zaun zwischen Österreich und Slowenien wäre die erste wiedererrichtete Grenze innerhalb des Schengen-Raums und würde wohl nur mit militärischen Mitteln gegen schutzsuchende Menschen halten. Die Regierung nimmt bewusst Tote „zur Abschreckung“ in Kauf. Wenn die Zustände an der österreichisch-slowenischen Grenze so bleiben, werden wir bei den winterlichen Temperaturen bald tatsächlich die nächsten Toten zu beklagen haben. Dafür trägt die Regierung die volle Verantwortung.

Anstatt Mauern und Zäune zu bauen, sollte die rotschwarze Koalition endlich die bereits vorhandenen Quartiere nutzen und ordentliche Unterkünfte, in denen Frauen nicht neben fremden Männern duschen und Traumatisierte nicht ohne fachliche Hilfe verzweifeln müssen, schaffen. Abschiebungen nach dem Dublin-Abkommen sollten sofort beendet und ein sofortiges Bleiberecht umgesetzt werden. Die Schaffung legaler Fluchtwege und Einreisemöglichkeiten würde schutzsuchende Menschen nicht auf lebensgefährliche Schlepperboote und LKW-Ladeflächen treiben. Solidarische Helfer_innen sollten Rechtssicherheit bekommen und bezahlte, berufliche Freistellungen erhalten.

Um Österreich und Europa keine Mauer

Die Innenministerin steht unter scharfem Beschuss, auch innerhalb des Koalitionspartners SPÖ mehren sich die Stimmen gegen einen Zaun. Die Regierung darf sich auf einen heißen Herbst, Winter und Frühling einstellen. Die Plattform organisiert am kommenden Samstag, 14. November, eine Kundgebung vor dem Innenministerium für offene Grenzen und gegen die Verschärfung der Asylgesetze.

Am 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte, wird es einen österreichweiten Aktionstag geben. Am 19. März 2016 werden wir uns dann schließlich riesigen Protesten für Flüchtlinge am „Internationalen Tag gegen Rassismus“ anschließen. Packen wir gemeinsam die Chance am Schopf und überlassen wir es nicht jenen, die Menschenrechte missachten, wie die Geschichte verläuft.

Karin Wilflingseder ist Sprecherin der Plattform für eine menschliche Asylpolitik und zentrale Aktivistin der Neuen Linkswende.

Die Plattform für eine menschliche Asylpolitik organisierte am 3. Oktober die Großdemonstration mit über 70.000 Menschen unter dem Slogan „Flüchtlinge willkommen“. Die Plattform wurde gegründet, um möglichst viele Organisationen, Initiativen und Einzelpersonen zu vernetzen und den politischen Druck auf die politischen Entscheidungsträger_innen zu erhöhen.

Am 14. November findet erneut eine Kundgebung statt. Infos gibt es hier.

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