Im November wurde Alexandra Ocasio-Cortez in den Kongress gewählt. Mittlerweile gehört sie zu den bekanntesten Politiker*innen der USA. Die Forderungen der Sozialistin finden Gehör – und werden immer mehr zum Mainstream. Adam Baltner analyisiert, wie das funktionieren konnte.
Ende Mai 2018 jubelten Linke in den USA, als die 28-jährige Kellnerin und sozialistische Aktivistin Alexandria Ocasio-Cortez einen der mächtigsten Parteifunktionäre der Demokratischen Partei in einer innerparteilichen Vorwahl besiegte. Sie errang damit die Parteinominierung ihres Wahlbezirks zur Repräsentantenhaus-Wahl. Anfang November konnten sie sich nochmals freuen, als „AOC“ mit 78 Prozent der Stimmen ihres Bezirks offiziell ins Unterhaus des US-Kongresses gewählt wurde. Doch trotz aller Freude blieb eine Frage offen: Würde Ocasio-Cortez als einfache Abgeordnete überhaupt Einfluss auf die US-Politik nehmen können?
AOC dominiert den Diskurs
Von Anfang an war klar, dass Ocasio-Cortez in vielerlei Hinsicht eine marginale Position besetzen wurde: als selbsterklärte Sozialistin in einem parlamentarischen Organ, das fast ausschließlich aus konservativen und liberalen Kapitalist*innen besteht; als jüngste Abgeordnete in der Geschichte des US-Kongresses; als eine Politikerin, die über relativ wenig finanzielle Ressourcen verfügt, weil sie keine Spenden von Unternehmenslobbys annimmt. Und dennoch: Seit ihrem Wahlsieg in November hat fast keine andere politische Figur mehr Einfluss auf den politischen Diskurs der USA genommen als sie.
Statt sich an die institutionelle Kultur des Kongresses anzupassen, verwendet Ocasio-Cortez ihre Position als Abgeordnete, um Aufmerksamkeit für politische Ideen zu schaffen, die sonst nirgendwo diskutiert werden. Auch wenn manche dieser Ideen so gut wie keine Chance haben, in der nahen Zukunft Gesetze zu werden, motiviert sie damit ihre Aktivist*innenbasis und sorgt für große Aufregung. Das schafft Aufmerksamkeit – und Zustimmung – einer breiteren Öffentlichkeit. Mit dieser Strategie beherrscht Ocasio-Cortez den medialen Zirkus, macht linke Forderungen zum Mainstream, politisiert eine entfremdete Wähler*innenschaft rund um Klassenfragen und setzt ihre Gegner*innen aus konservativem sowie liberalem Lager unter Druck.
Aktiv statt reaktiv
Heutzutage wirken viele Auftritte und Stellungnahmen von politischen Amtsinhaber*innen so, als ob eine Beratungsfirma sie vorbereitet hätten, um so unstrittig wie möglich zu sein. Das ist ein Zeichen des postpolitischen Zeitalters, dessen herrschende Ideologie besagt, dass grundsätzliche Alternativen zur aktuellen Gesellschaftsordnung unmöglich wären. Diese Ideologie reduziert politische Praxis auf eine Frage der Verwaltung und verkennt dabei den Konflikt zwischen verschiedenen Interessen und Grundwerten. Damit produziert sie eine politische Haltung, die nur zurückhaltend und reaktiv sein kann, weil sie auf keiner Vision davon beruht, wie die Welt anders sein sollte.
Dass Ocasio-Cortez diese Haltung nicht teilt, wurde gleich nach ihrem Wahlsieg klar. Am 13. November demonstrierte sie mit Klimaaktivist*innen vor dem Büro von Nancy Pelosi, der Fraktionsvorsitzenden der Demokrat*innen im Repräsentantenhaus, also ihrer künftigen Chefin. Dieser Bruch des Protokolls unterstrich den grundsätzlichen Konflikt zwischen der Entwicklung einer ernsthaften Klimapolitik und der Tatsache, dass die Demokratische Partei unter Pelosi Geld von der fossilen Brennstoffindustrie annimmt. Faktisch alle Medien berichteten von der Protestaktion. Sie schuf Aufmerksamkeit für die Hauptforderung der Demonstrierenden: den sogenannten „Green New Deal“, einen Plan für die totale Entkarbonisierung der US-amerikanischen Energieinfrastruktur bis 2030.
Radikale Menschen braucht das Land
Wenige Wochen später fragte der CNN-Journalist Anderson Cooper Ocasio-Cortez in einem Interview, ob die Umsetzung des Green New Deals nicht Steuererhöhungen bedeuten würde. Klar, meinte sie ohne zu zögern, und schlug einen neuen Grenzsteuersatz auf Einkommen über 10 Millionen Dollar jährlich von 60 bis 70 Prozent vor. Aktuell liegt er bei 37 Prozent. Staunend bemerkte Cooper, dass das radikal sei.
„Ich glaube, es waren immer nur radikale Menschen, die dieses Land verändert haben“, erwiderte Ocasio-Cortez. Mittlerweile unterstützt die Mehrheit der Wähler*innen einen 70-prozentigen Grenzsteuersatz und mehr als 80 Prozent den Green New Deal. Das sind große Mehrheiten für „radikale“ Ideen, die vor wenigen Monaten nicht einmal Teil der öffentlichen Debatte waren.
Kämpferisch und unerschütterlich
Natürlich freuen sich nicht alle über die Aufmerksamkeit, die Ocasio-Cortez bekommt. Tagtäglich versuchen verschiedene Akteure, ihr ein Bein zu stellen. Das klappt aber nie wirklich, weil sie selbstbewusst zu ihren Überzeugungen steht. Sie weiß, dass diese mehrheitsfähig sind – trotz rechtem Spin.
Nach der November-Wahl strahlte Fox News, ein Fernsehsender im Besitz des rechten Milliardärs Rupert Murdoch, einen Bericht über Ocasio-Cortez und andere linke Kandidatinnen aus, die mit ihr ins Repräsentantenhaus gewählt wurden. Darin machte sich Moderatorin Laura Ingraham über Forderungen wie den Green New Deal, eine staatliche Krankenversicherung für alle, kostenlose öffentliche Universitäten und die Abschaffung von ICE (die Behörde, die Trumps Politik der Trennung von Migrant*innenkindern von ihren Eltern umsetzte) lustig. Ingraham zufolge seien solche Ideen „bekloppt“. Wenige Stunden später verbreitete Ocasio-Cortez die Grafik, mit der Fox News ihre Forderungen darstellte, selbst auf Twitter und kommentierte: „Oh nein, sie haben unsere Agenda entdeckt: Kinder schützen und den Planeten retten!“ Eine andere Userin fügte hinzu: „Fox News macht echt die besten Grafiken für Progressive!“ Aus einer Attacke auf Ocasio-Cortez wurdeWerbung für ihr Programm.
good, good, good, good, pic.twitter.com/EaFkEfIQYN
— Brendan Karet 🚮 (@bad_takes) 14. November 2018
Erfolg in den sozialen Medien
Ocasio-Cortez’ Umgang mit den sozialen Medien umfasst viel mehr als schlaue „clapbacks“ (amerikanisch für Internet-Retourkutschen). Sie hat eine massive Anhängerschaft auf Twitter und Instagram und nutzt die Plattformen, um insbesondere jüngere Wähler*innen anzusprechen und eine Community aufzubauen.
Das ist am besten in ihren regelmäßigen Live-Übertragungen (Stories) auf Instagram zu sehen. Während sie sich ihr Abendessen kocht, schaltet sie eine Webcam ein und beantwortet Fragen von User*innen zu persönlichen sowie politischen Themen. In dieser entspannten Atmosphäre teilt sie Kochtipps mit ihrem Publikum und erklärt ihnen beispielsweise, dass Sozialist*innen die Wirtschaft unter demokratische Kontrolle bringen wollen. Das sei für sie eine Frage der Gerechtigkeit, deshalb bezeichne sie sich als Sozialistin.
Die Gesellschaft politisieren
Es wird oft angemerkt – von Linken als Kritik, von Liberalen als Lob –, dass Ocasio-Cortez’ Wahlprogramm letztendlich sozialdemokratisch statt sozialistisch ist. Schließlich fordert es Reformen innerhalb des kapitalistischen Systems. Das stimmt und ist dennoch falsch. Denn die politische Bedeutung von Ocasio-Cortez lässt sich nicht auf ihr Programm reduzieren. Sie macht Politik nicht nur im Sinne von „policy“ – dem Entwerfen von Gesetzen –, sondern auch im Sinne von „politics“ – dem Politisieren der Gesellschaft. Und momentan kann das in der US-amerikanischen Politik niemand besser als sie.
Dass Ocasio-Cortez eine Politisierung rund um Klassenbewusstsein fördert, während sie Menschen im Epizentrum der kapitalistischen Weltordnung für die Grundideen des Sozialismus interessiert, ist keine kleine Sache. Ob das tatsächlich einer grundsätzlicheren gesellschaftlichen Transformation von Links den Boden bereiten kann, wird sich erst im Laufe der Zeit zeigen. Auf alle Fälle schafft es Raum für Linke, in die Offensive zu gehen.