Der Stopp des Familiennachzugs zeigt neue Seiten des Neoliberalismus und treibt das Recht an seine Bruchkante. Entlang rassistischer Linien verlieren Menschenrechte ihren einstigen Anspruch. Sie sind jedoch nicht nur ein juristisches Prinzip, sondern auch eine Klassenfrage, schreibt mosaik-Redakteur Dejan Aleksić.
Das „Wir schaffen das“ von 2015 ist zehn Jahre später einem „Wir schaffen das ab“ gewichen. Mit einer Notverordnung plant die österreichische Bundesregierung die sogenannte „EU-Notfallklausel“ zu aktivieren. Damit setzt sie faktisch Teile der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) aus. Einen vorübergehenden Stopp des Familiennachzugs für Asyl- und subsidiär Schutzberechtigte hat der Nationalrat bereits im April beschlossen. Das Recht auf Familienleben ist jedoch ein zentraler Bestandteil der Menschenrechte – und gerade angesichts fehlender sicherer Fluchtrouten oft die einzige Möglichkeit, Familien wieder zusammenzubringen. Die Begutachtungsfrist für die entsprechende Verordnung ist am 10. Juni abgelaufen.
Zahlreiche Organisationen haben sich mit kritischen Stellungnahmen beteiligt – das Innenministerium möchte diese bisher jedoch unter Verschluss halten. Die Kritik von Rechtsexpert*innen und Hilfsorganisationen fällt deutlich aus: Die behauptete Überlastung des Bildungssystems stelle keine Notlage im Sinne des EU-Rechts dar. Dort sind etwa kriegsähnliche Zustände oder eine Bedrohung der staatlichen Existenz vorgesehen. Auch wenn es im Bildungsbereich ernstzunehmende Missstände gibt, gefährden sie weder den Staat noch sind sie Folge der humanitären Aufnahme Schutzsuchender.
Die Verschiebung des politisch Machbaren
Was Österreich derzeit plant, reiht sich in eine europaweite Strategie ein, in der rechtliche Standards gezielt untergraben werden. Länder wie Ungarn, Polen oder Italien hebeln insbesondere das individuelle Asylrecht systematisch aus – oft entgegen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Es ist die nächste Stufe des Neoliberalismus. Eine, in der autoritäre Staatsapparate zunehmend repressiv eingreifen, um Kürzungs- und Ausschlusspolitiken auch gegen Widerstand durchzusetzen. Der rechtliche Rahmen zeigt dabei immer größere Risse: Er wird selektiv und erweist sich als brüchig, wo es darum geht, Menschenrechte gegen eskalierende Staatsgewalt zu verteidigen.
Auch Deutschland hat zuletzt mit rechtswidrigen Zurückweisungen an der Grenze Schlagzeilen gemacht. Dass das Berliner Verwaltungsgericht diese Praxis für unzulässig erklärt hat, sieht Innenminister Dobrindt nicht als Hindernis. Im Gegenteil, die Maßnahmen sollen fortgeführt werden. Weltweit bekannt ist auch der Fall Donald Trumps, der trotz gerichtlicher Entscheidungen an seiner harten Abschiebungspolitik festhält. Was diese Fälle in Österreich, Deutschland und den USA verbindet, ist ein auffälliges Paradox: Alle Regierungen betonen, ihre Politik sei rechtskonform – gerade in dem Moment, in dem sie das Recht beugen.
Trump etwa stützt sich auf eine groteske Neuinterpretation eines Gesetzes aus dem Jahr 1798. Deutschland – im Gleichschritt mit Österreich – setzt auf eine EU-Notfallklausel, die bisher nie angewendet wurde. Hier findet kein rechtliches Neuland statt, sondern ein bewusster Missbrauch rechtlicher Spielräume. Es geht längst nicht mehr um rechtsstaatliche Standards – sondern darum, wie weit man politisch gehen kann, ohne auf entschiedenen öffentlichen Widerspruch zu stoßen. Die Grenze des Sagbaren ist längst ins Autoritäre verschoben. Nun folgt das Machbare – ohne Rücksicht auf das Recht.
Politisch legitimierter Machtmissbrauch
„Der Faschismus ist im Sound der Demokratie tanzbar“, so bringen es die Soziolog*innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey auf den Punkt. Gegenwärtige rechte Politik unterscheidet sich vom Faschismus der 1930er-Jahre insofern, dass sie noch innerhalb parlamentarischer Demokratien passiert. Genau darin liegt das oben beschriebene Paradox: Die Politik legitimiert sich nicht mehr durch einen stabilen Rechtsrahmen, sondern durch eine wütende, hochpolitisierte Öffentlichkeit. Obwohl die juristischen Konstruktionen dahinter oft voller Brüche, absurder Auslegungen und offener Rechtsverstöße sind, stoßen sie auf erstaunlich geringen gesellschaftlichen Widerstand – und genau das macht sie wirksam.
Die neoliberale Krisenbewältigung arbeitet aktiv an einem gefährlichen Minimalkonsens. Offene Diktaturen sind zwar weiterhin tabu, doch strategischer Machtmissbrauch gilt als akzeptabel – solange er sich rassistisch legitimieren lässt. Diese Entwicklung ist nur ein Ausdruck der aktuellen Machtverhältnisse im Kapitalismus. Das System steckt in einer tiefen Krise: Es wird zunehmend schwieriger, kapitalfreundliche Politik mit Geschichten von Fortschritt, Wachstum oder alternativlosen Sachzwängen zu rechtfertigen. An die Stelle logischer Argumente tritt ein Politikstil, der auf starke Gefühle, symbolische Gesten und gezielte Stimmungsmache setzt.
Klassenkampf im Gewand der Migrationspolitik
Die zunehmend restriktiven und vielfach rechtswidrigen Maßnahmen der Migrations- und Asylpolitik entfalten jedoch nur auf symbolischer Ebene Wirkung – wenn überhaupt. Weder sinkt deswegen die Zahl der Schutzsuchenden, noch haben Zurückweisungen an den Grenzen oder der Stopp des Familiennachzugs einen spürbaren Einfluss auf die soziale oder wirtschaftliche Lage jener Länder, die solche Maßnahmen durchsetzen. In den Worten der Sozialwissenschaftlerin Bafta Sarbo: „Die Migrationspolitik bekämpft nicht Migration, sondern die Rechte migrierter Menschen“. Es geht um gezielte Eingriffe in die Rechte der vulnerabelsten Teile der Gesellschaft. Was hier passiert, ist nichts anderes als ein Klassenkampf von oben: Die Migrationspolitik lenkt von den eigentlichen Ursachen gesellschaftlicher Unsicherheit ab. Sie sucht die Schuld bei anderen und erklärt Migration zur Krise, statt sie als Folge globaler Ungleichheit zu erkennen.
„Die negativen Folgen von sozialen Verwüstungen und ökonomischen Krisen (…) sind ein Grundmuster des Kapitalismus, auf das Menschen immer mit Flucht und Auswanderung reagiert haben.“ – schreibt der Politikwissenschaftler Fabian Georgi. Menschen im globalen Süden fliehen vor Armut und Perspektivlosigkeit, in der Hoffnung auf ein besseres Leben im Norden. Doch dort werden sie oft als Bedrohung gesehen, auch von Teilen der heimischen Arbeiterschaft. Die sogenannte Migrationsdebatte erfüllt dabei eine klare Funktion: Sie sorgt dafür, dass Menschen, die ähnliche Probleme teilen, entlang rassistischer Linien gegeneinander ausgespielt werden – statt gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Recht als fragiler Konsens
Menschenrechte – so ernüchternd diese Einsicht auch ist – sind kein naturgegebenes Gut. Sie sind ein politisches und intellektuelles Produkt ihrer Zeit: jener Phase nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Schrecken des Faschismus frische Erinnerung waren. Sie sind das Ergebnis sozialer Kämpfe – und sie fielen, anders als der darauffolgende neoliberale Feldzug, tendenziell zu Ungunsten des Kapitals aus. Der Historiker Samuel Moyn argumentiert etwa, dass Menschenrechte im Kalten Krieg gezielt als Alternative zum Sozialismus und zur moralischen Absicherung des westlichen Liberalismus eingesetzt wurden.
Bevor Menschenrechte universelle Geltung beanspruchen konnten, war ein langer, umkämpfter Prozess nötig. Erste Grundlagen entstanden mit dem Lieber Code im amerikanischen Bürgerkrieg – einem Vorläufer des humanitären Völkerrechts. Es folgten die Haager Konventionen vor dem Ersten Weltkrieg. Ihre Idee eines internationalen Gerichtshofs scheiterte unter anderem am Veto des Deutschen Kaiserreichs. Einen modernen Meilenstein markierten schließlich die Genfer Konventionen von 1949. Sie alle waren Ergebnisse mühsamer Aushandlung – und Ausdruck konkreter gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse.
Heute erleben wir eine neue Phase: nicht der Weiterentwicklung, sondern der schleichenden Aushöhlung der Menschenrechte. Und diese Aushöhlung lässt sich nicht allein im juristischen Feld aufhalten. Auch das Recht ist von den bestehenden Klassenverhältnissen durchzogen. Einen „Rechtskampf“ ohne politische Mobilisierung wird die Linke nicht gewinnen. Die rechtlichen Grundlagen, die aktuell von Österreich, Deutschland oder auch Donald Trump neu ausgelegt oder bewusst missbraucht werden, existieren schon lange – sie wurden bislang nur nicht so hemmungslos ausgenutzt. Es ist daher nicht das Recht, das versagt. Es ist das Fehlen einer kritischen Öffentlichkeit, die bereit ist, seine emanzipatorische Substanz zu verteidigen.
Menschenrechte sind eine Klassenfrage
Die kapitalistische Krisenkette der letzten Jahre hat die Welt ohnehin schrittweise in Richtung zunehmender Rechtslosigkeit gedrängt. Doch die aktuellen politischen Maßnahmen markieren eine neue Eskalationsstufe. Faschistoide Ästhetik und rassistische Affekte nehmen mehr und mehr die Form gezielter, willkürlicher Unterdrückung an. Die Welt bewegt sich zurück in eine Ordnung des Chaos – in eine Realität, in der nationale wie internationale Gesetze an Bedeutung verlieren. Es gilt nur noch das Recht des Stärkeren: die Macht bestimmt das Recht – und macht es damit überflüssig.Es sind nicht rechtsradikale Kräfte, die grundlegende Menschenrechte in Österreich und Deutschland aussetzen. Dieser Prozess entsteht aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Auch sozialdemokratische Parteien tragen diese Politik mit. Rassistische Migrationspolitik genießt derzeit breite Zustimmung.
Umso undankbarer ist die Aufgabe der Linken: eine ohnehin gespaltene Gesellschaft zusammenführen und jene Mobilisierung schaffen, die es braucht, um dem autoritären Kurs entgegenzutreten. Es wird nicht reichen, Menschenrechte bloß als ethisches oder juristisches Prinzip zu verteidigen. Sie müssen als Klassenfrage politisiert werden – andernfalls spielt man auf dem Feld autoritärer Kräfte. Es ist eine strategische Notwendigkeit, aber auch eine Herkulesaufgabe: die zynische Notstandsrhetorik als das zu entlarven, was sie ist – ein skrupelloses und gewaltvolles „Wir schaffen Menschenrechte ab“. Eine Politik, die Ursachen systemischer Krisen verschleiert und gerade jene gegeneinander aufbringt, die am meisten unter ihr leiden. Wie Fabian Georgi betont, darf sich eine linke Migrationspolitik nicht vereinnahmen lassen und scheinbar faire Kontrollen fordern – sondern muss diese radikal abschaffen und somit weitere Hierarchisierungen der Gesellschaft verhindern.
Foto: Markus Spiske auf Unsplash

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