„Es braucht den kompletten Stopp aller Waffenexporte in die Türkei“

Vor zehn Tagen begann der türkische Feldzug gegen Nordsyrien, mit Waffen aus Europa und Kämpfern des IS. Für mosaik sprach Rainer Hackauf mit Anita Starosta, Referentin für die Türkei, Nordsyrien und den Irak bei der Hilfsorganisation medico international. Ein Interview über die Mitschuld der internationalen Gemeinschaft, die demokratische Selbstverwaltung in Rojava und Europas Möglichkeiten, sie vor der Zerstörung zu retten.

Mosaik: Der Angriff der Türkei war schon lange angekündigt. Die USA verhielten sich bisher eher zögerlich. Nun ging es recht rasch. Was hat dazu geführt?

Anita Starosta: Der von Donald Trump über Twitter und mit einem Anruf verkündete Abzug der verbliebenen US-Truppen von der Grenze Nordsyriens hat der türkischen Regierung den Weg frei gemacht, den völkerrechtswidrigen Angriff zu starten. Dem vorausgegangen ist die neu aufgewärmte Debatte um den Umgang mit Flüchtlingen in der Türkei. Die Migrationsabwehr – der EU/Türkei-Deal – ist das Abhängigkeitsverhältnis, in dem sich die EU selbstgewählt befindet. Schon vor Wochen kündigte der türkische Präsident an, in einer sogenannten „Sicherheitszone“ in Nordsyrien eine Millionen syrische Flüchtlinge aus der Türkei ansiedeln zu wollen. Der deutsche Innenminister Seehofer war erst kürzlich in der Türkei, um den Deal nachzuverhandeln. Anstatt Menschenrechtsverletzungen zu thematisieren oder vor einem möglichen Krieg zu warnen, ging es nur um Migrationsabwehr.

Medico ist seit langem in Nordsyrien aktiv. Wie hat die Situation vor Ort in den letzten Jahren ausgesehen? Wie hat sich die Zusammenarbeit mit der lokalen Verwaltung gestaltet?

Medico international begleitet das Projekt der demokratischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien/Rojava von Beginn an. Gemeinsam mit lokalen Partnerorganisationen setzen wir uns für menschenwürdige Lebensverhältnisse und das Recht auf Gesundheit für alle Menschen in der Region ein. Die Arbeit unserer Partner*innen in den kurdischen Gebieten wird allein aus Spenden finanziert.

Einer unserer langjährigen Partner vor Ort ist der Kurdische Halbmond. Mit seinen rund 400 Mitarbeiter*innen – Ärzt*innen, Pfleger*innen und Medizinstudierende – ist er die einzige lokale Nothilfe-Organisation vor Ort. Wir konnten den Halbmond bei der Anschaffung von Krankenwägen unterstützen, bei der Ausstattung von Gesundheitsstationen und in Krisensituationen, wie beim Einmarsch nach Afrin oder der Verfolgung der Jesiden im Shengal. Die Helfer*innen sind immer vor Ort und versorgen Verletzte und kümmern sich um Flüchtlinge. Der Halbmond hilft auch bei der medizinischen Versorgung der Flüchtlingslager vor Ort.

Wie schaut die aktuelle Lage vor Ort aus? Ist schon abzusehen, welche nächsten Schritte die Türkei machen wird?

Wir haben am Mittwoch die ersten Bilder der Bombardierungen bekommen. Artilleriebeschuss gibt es die gesamte Grenze entlang. An der Grenze gibt es außerdem Kämpfe mit von der Türkei kommandierten, djihadistischen Milizen. Bis heute sind noch keine türkischen Bodentruppen in Nordsyrien einmarschiert. Die Milizen rücken jedoch weiter vor und besetzen nordsyrisches Gebiet.

Die Bevölkerung flüchtet zur Zeit ins Landesinnere. Laut unseren Partnern sind über 300.000 Menschen geflohen. Sie fliehen in Städte wie Raqqa, Hasakeh oder Tal Tamer – die jetzt völlig überlaufen sind. Es gibt nicht ausreichend öffentliche Infrastruktur. Viele kommen bei Bekannten oder Familienangehörigen unter. Gerade in den Grenzstädten ist die zivile Infrastruktur völlig überfordert und zum Teil beschädigt. Krankenhäuser sind zum Beispiel wegen der Bombardierungen nicht mehr im Betrieb. Am vergangenen Donnerstag begann die Evakuierung der Waisenhäuser.

Die Fluchtbewegung wird aber mit Sicherheit noch viel größer, sollten türkische Bodentruppen einmarschieren. Das kann noch abgewendet werden. So hat am Donnerstag der UN-Sicherheitsrat getagt, um eine gemeinsame Erklärung in diese Richtung zu verabschieden. US-Präsident Trump hat sich eingeschaltet, um zwischen den Kurden und Erdoğan zu vermitteln. So er annehmbare Vorschläge hätte – was leider zu bezweifeln ist – könnte er natürlich Druck ausüben.

Die Kurd*innen haben die syrische Armee zur Hilfe gerufen. Wie bewertest du diese Kooperation mit dem Diktator Assad?

Dass die SDF, ein Militärbündnis mit kurdischer Beteiligung, ein militärisches Abkommen mit dem syrischen Regime und Russland schließt, war absehbar. Nach dem Rückzug der US-Truppen, dem Stillhalten der Anti-IS-Koalition und dem absoluten Versagen aller internationaler Mechanismen – UN-Sicherheitsrat, NATO, EU – stehen die Kurden mit dem Rücken zur Wand. Es ist das Ergebnis einer Abwägung. Unter türkischer Besatzung würden nicht nur alle demokratischen Errungenschaften zunichte gemacht. Auch die Verfolgung der Bevölkerung, Gewalt, Zerstörung und der demografische Austausch der Region drohen. Die von Erdoğan viel zitierte Sicherheitszone soll zur Ansiedlung von mindestens einer Million syrischer Flüchtlinge aus der Türkei herhalten.

Anscheinend – so die Abwägung – gibt es die Hoffnung, dass es unter Assad zumindest gelingt, das Schlimmste für die Bevölkerung abzuwenden und das Überleben der Menschen zu gewährleisten. Dass aber mit dem Einschalten Assads nichts mehr so sein wird wie zuvor, davon ist auszugehen. In diesen Stunden ist es schwer, eine Prognose zu treffen.

Dieses Abkommen und die sich verschlechternde Sicherheitslage führen zum Abzug von internationalen Helfer*innen und Journalist*innen aus der Region. Das bedeutet aktuell, dass sich die ohnehin dramatische Situation der Vertriebenen und Binnenflüchtlinge in den Camps verschlechtern wird. Der Kurdische Halbmond arbeitet fast ausschließlich mit lokalem Personal. Diese Leute werden vor Ort bleiben und die Versorgung von Verletzten und Flüchtlingen aufrechterhalten.

Wie wird die Türkei zum Beispiel mit dem Al-Hol-Lager umgehen, wo mehr als 60.000 Menschen – die meisten von ihnen deklarierte IS Anhänger*innen – festgehalten werden?

Gerade im Al-Hol-Lager, wo vor allem ausländische IS-Kämpfer und deren Angehörige festgehalten werden, hat sich schon in den letzten Wochen angekündigt, dass die Situation eskaliert. Der Angriff der Türkei führt natürlich dazu, dass der immer noch aktive IS die Gunst der nützt. Es gibt immer wieder Unruhen im Lager. Das Sicherheitspersonal hat letzte Woche angekündigt, sich zurückziehen zu müssen, um die Kämpfe an der Grenze zu unterstützen. Zudem gibt es Berichte, dass die Türkei gezielt Gefängnisse bombardiert, in denen zum Teil hochrangige IS-Kämpfer gefangen sind. Das tut sie wohl auch, um Ausbruchsversuche aus diesen Gefängnissen zu unterstützen. Schließlich war die Türkei  das Land, durch das IS-Kämpfer ursprünglich problemlos nach Syrien eingereist sind. Aus dem Flüchtlingslager Ain Issa sind über 750 IS-Anhänger*innen ausgebrochen, nachdem in der Nähe des Camps türkische Bomben eingeschlagen haben.

US-Präsident Donald Trump hat davon gesprochen, dass die Türkei sich für die IS-Anhänger*innen und inhaftierte Kämpfer verantwortlich zeigen soll. Es ist aber nicht davon auszugehen, dass die Türkei eine Verfolgung der Straftaten des IS anstrebt. Schließlich ist sie mit islamistischen Milizen vor Ort verbunden. Man muss schon auch klar sagen: Das alles geht auch aufs Konto der internationalen Gemeinschaft. Die Kurden haben immer ein internationales Tribunal gefordert – und dass die ausländischen IS-Kämpfer wieder in ihre Länder zurückgeholt werden. In diese Richtung ist wenig passiert.

Erdoğan hat der EU gerade gedroht, das EU-Migrationsabkommen platzen zu lassen, wenn diese den Angriff auf Nordsyrien kritisiert. Wie sollte die EU nun reagieren?

Es ist natürlich denkbar, dass die EU und EU-Staaten wie Deutschland Druck auf Erdoğan aufbauen. Medico fordert etwa die sofortige Aufkündigung des EU-Türkei-Migrationspakts sowie Sanktionen gegen die Türkei. Und speziell von Ländern wie Deutschland sollte natürlich ein kompletter Stopp aller Waffenexporte in die Türkei gefordert werden.

In den letzten Tagen gab es weltweit viele Solidaritätskundgebungen für Rojava. Am Samstag gibt es wieder einen internationalen Aktionstag, in Österreich mit Kundgebungen unter anderem in Wien, Graz und Salzburg. Welche Unterstützung ist im Moment möglich?

Durch solche Kundgebungen kann natürlich Druck von der Straße gemacht werden. Sie können aufzeigen, dass die Leidtragenden die Menschen vor Ort sind, dass hier ein Projekt der Demokratie und der Menschenrechte angegriffen und zerstört wird. Konkret sollten die jeweiligen Entscheidungsträger dazu gebracht werden, nicht einfach zuzuschauen. Die deutsche Bundesregierung muss jetzt handeln und die Angriffe des Nato-Partners Türkei stoppen: Aufkündigung des EU-Türkei-Deals, Einstellung der damit verbundenen Zahlungen und Aufkündigung aller Rüstungsexporte und -deals in die Türkei sind konkrete Handlungsoptionen. Sonst machen sich Bundesregierung und die EU erpressbar und sind mitverantwortlich für Erdoğans Politik.

Hier gibt es mehr Informationen zu Medico.

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