„Tausendundeine Fluchtroute im Niger“: Alarme Phone Sahara im Interview

Alarmphone Niger-Mitarbeiter sitzen in der Sahara

Die militarisierten Grenzen Europas verlaufen über die EU-Außengrenzen hinaus durch Länder wie den Niger. Inmitten einer Landschaft aus internationalen Hilfsorganisationen und verlängerten Armen der EU, die als Teil des „Migrationsmanagements“ versuchen, Fluchtrouten zu schließen, unterstützt die Organisation Alarme Phone Sahara Geflüchtete in ihrem Alltag und setzt sich für offene Grenzen ein. Azizou Chehou, Koordinator in Agadez, berichtet im Interview mit mosaik-Redakteur Fabian Hattendorf von der mühsamen Arbeit vor Ort.

mosaik: Immer wieder hört man von Abschiebungen aus Algerien in den Niger. Wie reagiert Alarme Phone Sahara darauf?

Azizou Chehou: Wir haben einen Stützpunkt in Assamaka, dem letzten Dorf vor der algerischen Grenze. Die algerische Regierung unterscheidet bei Abschiebungen zwischen einem offiziellen Konvoi, das sind nigrische Bürger*innen, die die lokale Polizei bis Assamaka bringt, und einem inoffiziellen Konvoi für alle Menschen, die nicht aus dem Niger kommen. Die lädt die algerische Polizei einfach an der Grenze ab, dem „Point Zéro“ (Nullpunkt), wie wir ihn nennen. Von dort müssen die Menschen alleine die 15 Kilometer nach Assamaka finden. Oftmals um ein Uhr nachts, mit alten Menschen, Kindern, schwangeren Frauen. Manche von ihnen verlaufen sich. Mit Alarme Phone Sahara haben wir uns einen kleinen Wagen gekauft, mit dem wir Menschen in der Wüste suchen und retten. Sobald sie in Assamaka sind, geben wir ihnen Wasser und Essen. Aber viel können wir nicht tun, unsere Gelder sind begrenzt.

Euer Slogan ist „sensibilisieren, dokumentieren, retten“. Was bedeutet das für die Arbeit vor Ort?

Unsere erste Devise heißt eigentlich „droit de partir, droit de rester“, Recht zu gehen, Recht zu bleiben. Weder ermutigen wir Menschen zur Migration, noch entmutigen wir sie, ganz einfach, weil wir die Gründe nicht kennen, warum die Menschen ihre Heimat verlassen haben. Ein großer Teil unserer Arbeit liegt deshalb in der praktischen Hilfe der Geflüchteten im Alltag an den beiden Hotspots in Agadez und Assamaka. Dort klären wir die Menschen über die Fluchtrouten und deren Risiken auf. Wir statten sie mit Lebensmittel-Kits aus und betreiben ein Küchenkollektiv. Wir dokumentieren die Geschichten der Geflüchteten und die Ungerechtigkeiten, die ihnen auf dem Weg begegnet sind. Und wir betreiben eine Notruf-Hotline und stellen kostenlose Telefone bereit, mit denen Geflüchtete, die zum Beispiel aus Algerien abgeschoben wurden, ihre Familien erreichen können.

August 2022, Assamaka: Ankunft eines offiziellen Konvois an Menschen, die aus Algerien abgeschoben wurden

Hat sich eure Arbeit durch die Corona-Pandemie geändert?

Seit der Pandemie sind viele Geflüchtete im Niger gestrandet und kommen weder vorwärts noch zurück. In Agadez treffen verschiedene Gruppen von Migrant*innen aufeinander. Es gibt Asylbewerber*innen, die schon seit vier Jahren auf die Bearbeitung ihres Antrags warten. Viele andere wählen deshalb die sogenannte „irreguläre Migration“ und wagen die Flucht über Algerien oder Libyen ans Mittelmeer. Dann gibt es diejenigen, die bereits abgeschoben wurden. Viele von ihnen bleiben in Agadez, weil sie sich schämen, mit leeren Händen zu ihren Familien zurückzukehren. Im Gegensatz zu den internationalen Hilfsorganisationen helfen wir dabei allen Menschen, egal ob sie mit Reisedokumenten unterwegs sind oder nicht.

Welche Rolle spielt die EU bei alldem?

Die EU externalisiert die Außengrenzen in die Sahara-Sahel-Zone, um Migrant*innen davon abzuhalten, nach Europa zu kommen. Die Länder, die „gute Schüler*innen“ der EU sind, erhalten finanzielle und rechtliche Unterstützung. Damit schaffen sie Bedingungen, die Menschen den Weg nach Europa erschweren. 2015 hat die nigrische Regierung auf Druck der EU das „Anti-Schlepperei-Gesetz“ beschlossen. Es kriminalisiert Menschen auf der Flucht. Wir haben deshalb eine Klage vor dem Gerichtshof der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft eingereicht.

Die EU vergisst, dass Migration in Afrika so alt ist, wie der Kontinent selbst. Innerhalb der afrikanischen Länder hat es aufgrund familiärer Bindungen schon immer sehr viel Migration gegeben. Nur zwei bis fünf Prozent der Menschen versuchen, nach Europa zu gehen. Die Maghreb-Staaten absorbieren den Großteil der Migration, vor allem Menschen aus Subsahara-Afrika, die zwischen den Regenzeiten kommen, um Geld zu verdienen und dann wieder in ihre Dörfer zurückkehren. Wir müssen uns die Ursache des Problems anschauen: Was muss passieren, damit eine Person sich dazu entscheidet, ihre Heimat zu verlassen? Wie kann man von Menschen verlangen, zu bleiben, wenn ihre Familie vor ihren Augen getötet wurde oder wenn Dürren dazu beitragen, dass Menschen nicht mehr von ihrem Land leben können?

2022, Wüste zwischen Assamaka und Agadez: Alarme Phone Sahara bei einer Patrouille

Du sprichst die Klimakrise an. Wie nehmt ihr die Folgen davon im Niger wahr?

Der Klimawandel ist ein großes Problem für Geflüchtete und die Zivilgesellschaft. Die Menschen hier haben verstanden, dass sich das Klima ändert. Wir sehen erst Überschwemmungen, dann Dürren und Hitzeperioden. Viele der unterernährten Kinder überleben die Hitzezeiten nicht. Gleichzeitig versanden immer mehr Flüsse und Felder wegen der Abholzung, die Wüste breitet sich aus. Das alles zwingt viele Menschen zur Flucht.

Schauen wir nach Österreich. Hier berichtet Push-Back Alarm Austria von illegalen Pushbacks an der slowenischen und ungarischen Grenze. Wie nehmt ihr den Diskurs und Umgang mit Migrant*innen in Europa wahr?

Wir sind uns bewusst, dass es auch in Ländern der EU wie Österreich eklatante Menschenrechtsverletzungen gegenüber Migrant*innen gibt. Gleichzeitig sehen und begrüßen wir die Welle an Solidarität, mit denen die europäischen Länder den Menschen aus der Ukraine begegnen, die vor dem Krieg fliehen. Genau diese Solidarität bräuchte es auch gegenüber Menschen aus afrikanischen Ländern, die vor Krieg und Verfolgung fliehen. Dieser Realität müssen die europäischen Staaten ins Auge blicken. Wir fordern den Schutz der Grundrechte aller Menschen.

Was fordert ihr von Akteur*innen in Europa?

Ich muss immer lachen, wenn die internationalen Organisationen behaupten, dass sie die Flüchtlingsströme kontrolliert hätten. Das haben sie nicht. Sie haben Migrant*innen viel eher in den Tod getrieben. Heute kann dir niemand die Anzahl an Menschen sagen, die auf der Flucht in der Wüste sterben. Früher gab es genau zwei Routen, eine nach Algerien, eine nach Libyen, auf denen die Menschen in sicheren Konvois unterwegs waren. Heute gibt es tausendundeine Route. Viele sind alleine unterwegs, die Risiken und Todesfälle sind viel höher. Wir fordern von allen europäischen Medien und Politiker*innen deshalb gerechte Taten und eine ehrliche Sprache. Denn gerade sind sie dabei, die Chancen und Lebensrealitäten junger Menschen in Afrika zu zerstören.

Am 24. September 2022 kommt Dr. Azizou Chehou von Alarme Phone Sahara zu einer Info-Veranstaltung von afrique-europe interact nach Wien.

Interview: Fabian Hattendorf

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