Die Visionen der NEOS: Zwischen Neokolonialismus und Freihandel

Der österreichische Wahlkampf nimmt Fahrt auf. Themen Nummer 1 bleiben Flucht und Migration. Seit Montag mischen die NEOS kräftig mit, deren „liberales“ Selbstverständnis an der EU-Außengrenze endet. Die pinke Glaskugel des Matthias Strolz offenbarte ihm eine Vision: Die EU solle in zwei noch ungenannten nordafrikanischen Staaten Land pachten, um dort Asylanträge fernab europäischer Gefilde zu bearbeiten.

Sollten die Menschen dennoch versuchen ihre Flucht gen Europa fortzusetzen, werden sie dorthin zurückgebracht werden – tot oder lebendig. Im Gegenzug winken, so Strolz, den betroffenen Staaten ein höheres Wirtschaftswachstum, mehr Arbeitsplätze und Wohlstand, eine Art „Marshallplan für Afrika“ eben.

Die Visionen des Herrn Strolz

Spielen wir die Vision des Matthias Strolz durch: Die Europäische Union pachtet in einem nordafrikanischen Staat ein Stück Land, zu einem günstigen Preis und für 99 Jahre. Vertraglich festgelegt sind viele Entwicklungsversprechungen, etwa boomende Sonderwirtschaftszonen und Arbeitsplätze durch Public-Private-Partnerships (PPPs) zwischen EU-Agenturen und multinationalen Konzernen. Ein magisches Trickle-Down würde sich durch diese Direktinvestitionen einstellen, also ein Durchsickern der Rendite zugunsten der gesamten Bevölkerung, die nebenher Demokratie und Menschenrechte à la EU lernen. Kurzum: Sustainable Development and Growth. Ein Segen für die Menschen, der lediglich die Abtretung eines kleinen Stücks ihres Territoriums für etwa hundert Jahre bedeute.

Dort würden dann Stacheldrahtzäune aufgerollt, Baracken aus dem Boden gehoben, Wachtürme, Flutlichter und Kameras installiert. Um die Sicherheit kümmern sich vorerst FRONTEX-BeamtInnen, bald jedoch würden lokale Sicherheitskräfte zur Unterstützung gebraucht. Dies bringe Arbeitsplätze: ein weiteres Entwicklungs-Surplus, das sich, angesichts der 99 Jahre dauernden Verträge, das Attribut „nachhaltig“ redlich verdiene. Positiver Nebeneffekt: Das Ganze käme der EU erheblich günstiger als bisherige Lösungen. Wirtschaftlichkeit ist Trumpf.

Somit ist alles eitel Wonne in der Vorstellungswelt des Herrn Strolz und anderer: „Wir“ EuropäerInnen verlagern das „Migrationsmanagement“, wie es im betriebswirtschaftlichen EU-Jargon heißt, weit weg in den „Orient“, wie es bei Edward Said heißt. Aus den Augen, aus dem Sinn. Eine Triple-Win-Situation für alle, besonders aber für die österreichische und EU-Politik: Das Sterben der Flüchtenden findet nicht mehr auf österreichischen Autobahnen statt, sondern wird weiter nach außen verlagert. Über das Mittelmeer hinweg, bis es nicht mehr in Sichtweite der europäischen Öffentlichkeit ist. Auch die Bilder von Menschen, die zu Tausenden eingezäunt und eingesperrt in Anhaltelagern ausharren müssen, würde es dann in Europa nicht mehr geben. Dafür eben in Afrika.

Outsourcing der Migrationspolitik

Das Auslagern von EU-Migrationsangelegenheiten ist im Grunde nichts Neues: Sogenannte Mobilitätspartnerschaften – etwa mit Tunesien und Moldawien – sollen dazu beitragen, Migration zu „managen“. Die Menschen sollen erst gar nicht an Europas Außengrenzen oder Küsten kommen. Wie dieses Migrationsmanagement unter dem Euphemismus „Mobilitätspartnerschaft“ funktioniert, zeigen die Zahlen der International Organization for Migration: Ihr zufolge sind zwischen den Jahren 2000 und 2014 etwa 22.000 Menschen beim Versuch umgekommen, europäisches Festland zu erreichen. Tatsächlich gelang es bis 2011 durch eine Partnerschaft mit Libyen, die Anzahl der Fluchtversuche über das Mittelmeer deutlich zu verringern. Die EU und insbesondere Italien unterzeichneten mit der libyschen Regierung mehrere Übereinkommen. Die Zustände in den dortigen Anhaltelagern interessierten in Europa niemand. Dann aber wurde der libysche Diktator und Oberst Muammar Gaddafi von seiner wütenden Bevölkerung gestürzt. Seiner Rolle als Torwächter konnte er dann nicht mehr nachkommen.

Neokolonialismus

Diese Idee des Outsourcings von Migrationsangelegenheiten geht Matthias Strolz nicht weit genug. Seiner (neo-)liberalen Ratio zufolge müsse also selbst Hand angelegt und Gebiete gleich ganz erworben werden. Damit folgt er ganz und gar dem „Geist des Tropenhelmes“. Weil offenbar die Regierungen der beiden nordafrikanischen Staaten nicht selbst in der Lage sind, Migration wie von der EU gewünscht zu managen, sollen kurzerhand Landstücke von souveränen Staaten gepachtet werden.

Das Pachten von Land ist ebenso wenig etwas Neues wie Migrationsmanagement: In vielen sogenannten Entwicklungsländern in Afrika oder Asien kaufen sich finanzstarke Länder oder Investoren ein. Geld spielt dabei keine Rolle. Zwischen verschiedenen Staaten läuft geradezu ein Wettlauf um afrikanisches Land – etwa China und Saudi Arabien. Es findet Landraub im großen Stil statt, die Agrarflächen werden für die Produktion von Cash-Crops oder Nahrungsmittel verwendet. Das nennt man Neokolonialismus. Auch europäische Akteure sind bereits auf den Plan getreten. Die einheimische Bevölkerung verdient hierbei entweder nichts oder muss sich als Billigarbeitskraft auf dem – nunmehr fremden – Land verdingen.

Das Vorgehen Chinas und Saudi Arabiens halten auch EU-Akteure, ja vermutlich auch die NEOS selbst für bedenklich. Geht es jedoch um das Migrationsmanagement, also um handfeste EU-Interessen, ist den Verantwortlichen, zumindest Matthias Strolz, jedes Mittel recht und billig: im Namen der Menschenrechte und des europäischen Humanismus, im Namen der „Schließung der Mittelmeerroute“.

Menschen stoppen, Kapital darf fließen

Dass diese Überlegungen gerade von einem NEOS-Spitzenkandidaten stammen, ist so nur auf den ersten Blick verwunderlich. Denn die ideologische Leitlinie gab Strolz vor einigen Jahren selbst vor, als er in einer weiteren visionären Anwandlung von einer „Freihandelszone von Los Angeles bis Wladiwostok“ sinnierte. Wie steht es nun um den (neo-)liberalen Gedanken in Strolz’ Partei?

In den Worten des indischen Intellektuellen Vijay Prashad lassen sich die Visionen des Herrn Strolz in einem Satz zusammenfassen: „Das Kapital soll sich grenzenlos bewegen können. Für Menschen gilt diese Freiheit nicht.”

Paul Winter hat Internationale Entwicklung in Wien studiert. Er ist Mitarbeiter des Promedia Verlags.

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