Und jetzt? Drei Szenarien für die nächste Regierung

Die nächste Regierung kann ÖVP-FPÖ, ÖVP-Grüne oder ÖVP-SPÖ lauten. Wofür stünden diese Koalitionen? Was würden sie für Linke, Zivilgesellschaft, NGOS und Bewegungen bedeuten? Vier mosaik-RedakteurInnen blicken hinter Wahlkampfansagen und Taktikspiele.

Dieser Artikel wurde am Wahlabend, dem 29. September 2019, aktualisiert.

Die ÖVP hat die Nationalratswahl 2019 klar gewonnen. Doch die nächste Regierung zeichnet sich unmittelbar danach, anders als 2017, noch nicht ab. Wir gehen von einer langen Sondierungs- und Verhandlungsphase aus. Aussagen vom Wahlabend, wie jene aus der FPÖ, nun in Opposition zu gehen, können in einigen Wochen wieder vergessen sein. Schlussendlich wird die ÖVP entweder mit der FPÖ, den Grünen oder der SPÖ eine Koalition eingehen – oder es kommt zur Neuwahl.

1. ÖVP-FPÖ: Die Fortsetzung

Was dafür spricht: Niemand ist sich einiger

Die FPÖ hat sich vor der Wahl klar positioniert: Sie will die Regierung weiterführen. Sebastian Kurz hält sich dagegen alle Optionen offen. Eine Fortsetzung mit der FPÖ ist für ihn vor allem inhaltlich attraktiv: Mit keiner anderen Partei kann er so viel von seinem Programm umsetzen.

Was dagegen spricht: Die blaue Explosionsgefahr

Verzichtet Herbert Kickl auf das Innenministerium? Wird er Klubchef? Wenn es um die Hürden einer Neuauflage von Türkis-Blau geht, wurden bisher vor allem diese Fragen diskutiert. Doch die Explosionsgefahr in der FPÖ sitzt tiefer. Die laufenden Ermittlungen gegen Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus bergen ebenso Sprengstoff wie ein möglicher Machtkampf zwischen Norbert Hofer und Herbert Kickl oder der drohende Parteiausschluss Straches. Die krachende Niederlage dürfte das Konfliktpotenzial weiter erhöhen.

Die FPÖ wäre ein unsicherer Partner für Sebastian Kurz. Ob er dieses Risiko in Kauf nehmen will, wird entscheiden, ob die Koalition zustande kommt.

Was sie tun würden: Das autoritäre Projekt vertiefen

ÖVP und FPÖ würden ihr Projekt der letzten Jahre fortsetzen: den autoritären Umbau von Staat und Gesellschaft im Dienste der reichsten 5 Prozent. Viele Vorhaben aus dem Regierungsprogramm sind noch offen. So wurde etwa die Steuerreform, die Großunternehmen 1,25 Milliarden Euro schenken soll, noch nicht beschlossen. Die Einführung von Hartz IV, die Arbeitslose noch schneller in die Armut stürzen soll, steht ebenso noch aus wie der Angriff auf das Mietrecht. Unter Türkis-Blau I bremste die FPÖ diese Pläne immer wieder, um ihr Image als soziale Heimatpartei zu wahren. Die Wahl hat das Kräfteverhältnis aber deutlich zugunsten der ÖVP verschoben.

Traute Einigkeit herrscht dagegen bei rassistischer Politik gegen Minderheiten. Türkis-Blau würde in bekannter Salamitaktik das Asylrecht noch weiter aushöhlen und Schikanen gegen MuslimInnen erlassen. Fortsetzen würde sich auch die Strategie, Zivilgesellschaft und NGOs strukturell zu schwächen. Die Methoden sind bekannt: Förderungen streichen, aus dem Arbeitsbereich verdrängen oder diesen ganz abschaffen.

Die solidarische Perspektive: Nicht verzagen, Neues wagen

Für Linke und soziale Bewegungen wäre Türkis-Blau II ein Schlag in die Magengrube. Die Regierung, gegen die wir jeden Donnerstag auf die Straße gegangen sind und deren Sturz wir gefeiert haben, wäre wieder da.

Doch die Situation wäre trotzdem eine neue – mit besseren Chancen für uns. Nach der Wahl 2017 wartete alles monatelang in einer Schockstarre nur darauf, dass ÖVP und FPÖ sich einigen würden. Das ist 2019 anders. Allein die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen wäre ein willkommener Anlass für Proteste. „Die politischen Verhältnisse in der Bevölkerung sind durch Ibiza nicht gekippt“, schrieben wir im Frühling. Die Wahl hat erneut eine rechte Mehrheit gebracht, aber deren Glanz ist verflogen. Die vielen Skandale haben Öffentlichkeit und Medien kritischer werden lassen. Türkis-Blau II hätte nicht mehr dieselbe Durchschlagskraft wie zuvor.

Auf denselben autoritären Regierungsstil sollten wir uns trotzdem einstellen. ÖVP und FPÖ haben auf Protest immer wieder mit Verschärfungen reagiert – und wir standen ohnmächtig dagegen. Auch unter einer geschwächten Neuauflage wird es darum gehen, uns nicht vom Klima der Angst und Hoffnungslosigkeit erdrücken zu lassen.

2. ÖVP-Grüne: Die Premiere

Was dafür spricht: Druck auf Grüne und ein neuer Sebastian Kurz

Die Grünen waren noch nie in einer Bundesregierung. Lassen sie sich nun auf eine Koalition mit Kurz ein? Der Druck auf die Partei stieg schon vor der Wahl, etwa durch Falter-Chefredakteur Florian Klenk. Der Wunsch, Türkis-Blau zu verhindern, ist groß – in den Grünen und wohl auch bei ihrem Ex-Parteichef in der Hofburg. Das gilt auch für viele im grünen Umfeld: Frauenvereine und Kulturszene, kritische Medien und Sozial-NGOs, Flüchtlings- und Umweltorganisationen haben von Türkis-Blau tatsächlich viel zu befürchten. Auch inhaltlich scheint es angesichts der drängenden Klimakrise schlüssig, dass die Grünen künftig mitregieren.

Für Sebastian Kurz hätte Türkis-Grün den Reiz, sich politisch neu zu erfinden. Mit einer neuen Agenda könnte er versuchen, den Makel vergessen zu machen, Rechtsextreme an die Schalthebel der Macht gesetzt zu haben.

Was dagegen spricht: Inhaltliche Gegensätze

Wer ins Regierungsprogramm der verflossenen ÖVP-FPÖ-Koalition blickt, findet so gut wie keine Punkte, denen die Grünen zustimmen würden. Die ÖVP könnte mit ihnen weder das Mietrecht aushöhlen noch Hartz IV einführen oder neoliberale Handelsabkommen beschließen. Die Grünen haben wenig Gründe, in diesen Fragen nachzugeben. Schließlich haben sie noch stärker dazugewonnen als die ÖVP, kehren mit dem besten Ergebnis ihrer Geschichte in den Nationalrat zurück.

Zu den inhaltlichen kommen auch praktische Probleme: Die Grünen haben derzeit weder Bundespartei noch Parlamentsklub. Beides müssen sie erst wieder aufbauen. Zeitgleich auch Regierungsverhandlungen führen zu müssen, könnte die Partei schlicht überfordern.

Was sie tun würden: Öko und modern für das Kapital

Türkis-Grün könnte sich, in Abgrenzung zur Vorgängerregierung, als Modernisierungs- und Sauberkeits-Koalition inszenieren. Wir erwarten ein im Kern neoliberales Projekt, das aber weniger beim Sozialstaat als bei den Rahmenbedingungen für Unternehmen ansetzt. Stichwort: Lohnnebenkosten runter, Förderungen umbauen. Auch gesellschaftspolitisch liberale Projekte hätten Platz, sofern sie Unternehmen nützen.

So etwa in der Bildungspolitik, die für die Grünen ein Wahlkampf-Schwerpunkt war. Für Reformen Richtung Gesamt- und Ganztagsschule können sich Teile der ÖVP und die Industriellenvereinigung erwärmen. Auch in der Klimapolitik könnten die beiden Parteien wohl einen Konsens finden, mit einem „grünen Wirtschaftsstandort“ als gemeinsamem Nenner. Manche grüne Vorschläge wären für die ÖVP sicher unannehmbar. Doch ihr Wahlprogramm setzt auch auf „Innovation und Technologien gegen die Klimakrise“, auf Unterstützung für regionale Unternehmen und „grünere“ Finanzmärkte. Mit der Vorstellung einer solchen „grünen Industrie-Ära“ könnte sich der Koalitionspartner wohl anfreunden. Die nötige Konfrontation mit den Interessen fossiler und verschmutzender Industrien bis hin zu deren Abwicklung sprechen die Grünen ohnehin nicht an.

Als herzeigbaren Erfolg könnte die ÖVP den Grünen eine CO2-Steuer gönnen, eventuell sogar im Rahmen einer größeren ökologischen Steuerreform. Schließlich zeigt sich selbst die Industriellenvereinigung diesbezüglich gesprächsbereit – wohl weil sie weiß, wie wenig radikal und wirksam diese Maßnahme wäre. Zur Bewältigung der Klimakrise wäre all das natürlich völlig ungenügend.

Die solidarische Perspektive: Druck von unten

Mit den Grünen gäbe es eine Regierungspartei, die den Kontakt zu NGOs und Bewegungen sucht. Das bedeutet auch, dass wir sie unter Druck setzen können – etwa, wenn die nötigen radikalen Schritte in der Klimapolitik ausbleiben.

Mit Türkis-Grün würde wohl auch die Politik der permanenten Eskalation bei den Themen Asyl, Islam und Überwachung aufhören. So erleichternd das wäre: Die nötige Rücknahme der vielen Verschlechterungen der letzten Jahre wäre kaum zu erwarten. Bei Bedarf könnte die ÖVP gezielte rassistische Vorstöße setzen, um den Diskurs zu beherrschen und ihren Juniorpartner vor sich herzutreiben.

3. ÖVP-SPÖ: Die Notlösung

Was dafür spricht: Die SPÖ kann Opposition nicht

Sollten die beiden anderen Varianten scheitern, könnten ÖVP und SPÖ erneut koalieren. Aus roter Sicht spricht manches dafür. Die SPÖ ist eine Staatspartei und ist über die Jahrzehnte mit Teilen des öffentlichen Sektors verwachsen, von den Ministerien über die Sozialversicherung hin zur Arbeiterkammer.

„Opposition ist Mist“, bestätigte Pamela Rendi-Wagner im ORF-Sommergespräch ein Zitat des ehemaligen SPD-Vizekanzlers Franz Müntefering. Tatsächlich hat die SPÖ Türkis-Blau in eineinhalb Jahren kaum unter Druck setzen können. Sie hat sich dem politischen Klima mehr gefügt, als es ändern zu wollen. Die bei der Wahl 2017 fünfmal schwächeren Neos wurden zurecht als bessere Oppositionspartei wahrgenommen.

Was dagegen spricht: Sebastian Kurz

Geht die SPÖ leichtfertig in eine Koalition, wird sie weiter an Glaubwürdigkeit und Stimmen verlieren, warnt SJ-Vorsitzende Julia Herr. Sollte sie die Chance bekommen, wird die SPÖ das wohl dennoch tun. Dagegen spricht aus roter Sicht allerdings die Wien-Wahl nächstes Jahr: Mit einem Anti-Bundesregierungs-Wahlkampf kann Michael Ludwig seinen Bürgermeister-Sessel einfacher verteidigen.

Das stärkste Gegenargument ist aber Sebastian Kurz. Er lehnt die sozialpartnerschaftliche Logik der Großen Koalition, die Politik der kleinteiligen Kompromisse fundamental ab – und seine Unterstützer in Industrie und Banken ebenfalls. Er würde mit Sicherheit darauf hinarbeiten, die SPÖ zu demütigen und zu schwächen. Schließlich ist sie der regierungserfahrenste und damit stärkste seiner möglichen Partner. Schon die Koalitionsverhandlungen würde Kurz wohl zugleich mit mehreren Parteien nach dem Motto „Wer bietet mehr?“ führen. Die SPÖ müsste sich zum ohnmächtigen Beiwagerl ohne Schlüsselministerien herabstufen lassen, damit Kurz die Kompromisse eingeht, die für eine Zusammenarbeit nötig wären.

Was sie tun würden: Wie Kern, nur rechter

Inhaltlich wäre Türkis-Rot wohl eine weiter nach rechts verschobene Fortsetzung der letzten Koalition unter Christian Kern. Bereits deren letztes Regierungsprogramm war in der Wirtschafts- und Sozialpolitik neoliberal, in der Migrations- und Sicherheitspolitik autoritär und rassistisch. Mehr Überwachung, ein paar von den Gewerkschaften mitgetragene Geschenke an Unternehmen und Maßnahmen gegen Geflüchtete sind zu erwarten.

Schon Christian Kern wollte Lager in Afrika errichten und diese von europäischen SoldatInnen bewachen lassen. Pamela Rendi-Wagner folgt einer ähnlichen Linie, wenn sie im TV-Duell mit Kurz sagt: „Ja, ich bin für geschlossene EU-Außengrenzen, die überwacht werden durch Frontex“, und ihm vorwirft, als Kanzler zu wenig in diese Richtung getan zu haben. ÖVP und SPÖ könnten sich auf eine Politik der Abschottung und des Stacheldrahts einigen.

Die von Kurz geschmähte, von der SPÖ verteidigte Sozialpartnerschaft würde wohl symbolische Zugeständnisse erhalten, ohne zur alten Machtfülle zurückzukehren.

Die solidarische Perspektive: Zurück in die Zukunft

Für Linke und soziale Bewegungen wäre Türkis-Rot in mancher Hinsicht eine Rückkehr zu früheren Zeiten. Verschlechterungen kämen schrittweise und wären von koalitionsinternen Konflikten begleitet. Auf die SPÖ können wir teilweise Druck ausüben, etwa über die Gewerkschaften. Für das solidarische Lager gilt es in diesem Szenario wachsam zu bleiben und sich nicht damit zu begnügen, wieder vom „kleineren Übel“ regiert zu werden.

Fotos: Nicole Heiling / Franz Johann MorgenbesserRaul Mee (EU2017EE)SPÖ Presse und KommunikationSimon Legner. Alle (CC BY 2.0).

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