So extrem ist die Mitte

Unsere Gesellschaft rutscht nach rechts – aber wer soll uns davor retten? Viele setzen ihre Hoffnung in die liberale Mitte. Doch diese selbst wird zunehmend extrem. Eine Analyse von Martin Konecny.

Die politische Mitte ist kein fester Ort. Sie ist auch keine bestimmte gesellschaftliche Gruppe oder verfolgt eine einheitliche Ideologie. Was die politische Mitte ist, was als vernünftig, maßvoll und politisch normal gilt, ist ständig umkämpft. Dieser Raum verschiebt sich laufend – und in den vergangenen dreißig Jahren nicht zum Guten.

Extrem neoliberal

In den letzten drei Jahrzehnten war die Mitte in Europa und darüber hinaus vor allem eines: neoliberal. Ob links oder rechts, wer sich als modern, vernünftig und glaubwürdig darstellen wollte, musste die Wünsche von Konzernen erfüllen, den Sozialstaat kürzen und öffentliches Eigentum privatisieren.

Eine wichtige Rolle spielt dabei die EU. In ihren Institutionen ist der Neoliberalismus so tief verankert wie kaum wo sonst. Budgetregeln, Standortkonkurrenz und die Eurozonen-Architektur stellen sicher, dass gekürzt wird und sich die einzelnen Staaten in einen für die Bevölkerung verheerenden Wettlauf nach unten begeben. Die Folgen dieser angeblichen Vernunft sind sozial, ökonomisch und politisch extrem.

Breite Verarmung

Die Kürzungspolitik der Mitte dient den Interessen des Kapitals. Sie hat Europa in die wirtschaftliche Krise und große Teile der Bevölkerung, vor allem im Süden und Osten der Union, in die Verarmung geführt. Politisch hat die liberale Mitte alles darangesetzt, jene Kräfte zu zerschlagen, die ihren Neoliberalismus ernsthaft herausfordern. Am deutlichsten wurde das 2015 in Griechenland. Im trauten Einklang haben konservative wie sozialdemokratische Regierungen und die EU-Institutionen die linke Regierung und die griechische Bevölkerung erpresst und gedemütigt, demokratische Entscheidungen nicht anerkannt. Was blieb, war das Gefühl, dass es eine Alternative zum Neoliberalismus weder geben kann noch darf.

Die Mitte rutscht ab

Mit der Niederlage der Linken sind die sozialen und politischen Verwerfungen keineswegs verschwunden. Doch an die Stelle der Hoffnung tritt die Angst. Als Folge wurde in den letzten Jahren die extreme Rechte in Europa immer stärker. Ihr simples und trauriges Versprechen: Den Wohlstand, der noch da ist, mit aller Gewalt für immer kleinere Teile der weißen Bevölkerung zu verteidigen. Einst brandmarkte die liberale Mitte solche Positionen als anti-europäisch. Doch heute rutscht sie selbst nach rechts ab.

Europa ist für die Mitte nicht mehr das Schutzschild gegen Nationalismus und Krieg, sondern vor MigrantInnen und Islam. Das liberale Liebkind Emmanuel Macron fordert Lager und Abschottung ebenso wie Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache. Was früher nur Rechtsextreme vertraten, findet Eingang in die gesellschaftliche Mitte: Der Standard veröffentlicht ein liberales Plädoyer für die „Festung Europa“. Die deutsche ZEIT diskutiert, ob man Menschen vor dem Ertrinken retten soll. Titel: „Oder soll man es lassen?“ Die liberale Mitte hat den Rechtsextremismus produziert – jetzt verschmilzt sie mit ihm.

Hoffnung von den Rändern

Die Mitte wird den Rechtsrutsch nicht stoppen. Sie ist der Ort, an dem er stattfindet. Eine neue Perspektive kann an den Rändern der Gesellschaft entstehen, also bei jenen Menschen, die politisch und ökonomisch ausgeschlossen werden, die kein Teil der Mitte sind, die nicht mit dem Strom schwimmen. Von dort gilt es einen Gegenpol zur extremen Mitte aufzubauen – einen Gegenpol der Solidarität.

Der Text erschien in der Festivalzeitschrift der diesjährigen WIENWOCHE, die mosaik produzierte. Das Festival wird am 14. September um 20 Uhr in der Nordbahn-Halle eröffnet und dauert bis zum 23. September.

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