Mélenchons Rezept: Linke, nein danke!

Jean-Luc Mélenchon ist der linke Überraschungskandidat der französischen Wahl, aber von der Linken will er nichts mehr wissen. Warum das so ist, erklärt Sprecherin Raquel Garrido im Interview.

Wer hätte das gedacht: Dank einem starken Wahlkampf hat Jean-Luc Mélenchon realistische Chancen, in die zweite Runde der französischen Präsidentschaftswahl einzuziehen. Bei seinem ersten Antritt 2012 erhielt er 11 Prozent der Stimmen. Am Sonntag könnte er laut Umfragen fast das Doppelte erreichen. Warum Mélenchon bewusst nicht links auftritt und wie seine Bewegung den Front National bezwingen will, verrät Sprecherin Raquel Garrido im Interview.

Was unterscheidet Mélenchons heutige Kampagne von jener 2012?

Raquel Garrido: Wir wollen einen verfassungsgebenden Prozess starten, in dem die Franzosen und Französinnen eine neue Verfassung schreiben. Das ist eine direkte Anleihe an die Französische Revolution. Wir wollen das aktuelle Regime, das wir „präsidentielle Monarchie“ nennen, abschaffen. Wir halten es für eine Oligarchie und wollen stattdessen eine Republik: für das Volk, durch das Volk.

Im heutigen Regime erlaubt es das Wahlverfahren, dass gewählte VertreterInnen ihre Wahlversprechen brechen. Das ist ein Hauptgrund für seine Unbeliebtheit. Die prägendste Eigenschaft der heutigen politischen Klasse ist die Straflosigkeit. Sie machen, was sie wollen, weil sie nie zur Verantwortung gezogen werden können. Diese Kultur der Straflosigkeit beginnt beim Präsidenten selbst und setzt sich quer durch die politische Klasse fort. Die in der Bevölkerung weit verbreitete Reaktion darauf ist Abscheu.

Als wir 2012 forderten, das alte Regime zu stürzen und ein neues zu begründen, hielt man uns vor, wir würden Unsicherheit und Instabilität schüren. Heute ist die französische Gesellschaft eine andere. Die Angst und das Chaos sind jetzt da. Es gibt Gewalt zwischen Polizei und Jugendlichen, Terroranschläge von FranzösInnen gegen FranzösInnen. Die Zeit ist heute reif für unsere Botschaft, dass wir eine friedliche Lösung für diese Spannungen brauchen. Deshalb erscheint Mélenchon heute als weise. Er hat all das schon lange kritisiert, hat Erfahrung und eine transparente Methode, um uns wieder zusammenzubringen. Die verfassungsgebende Versammlung soll die Nation neu begründen.

Bei der letzten Wahl war Mélenchon Kandidat der Linksfront, eines Bündnisses linker Parteien. Heute tritt er für das „Rebellische Frankreich“ an. Was ist das für eine Organisation?

Das ist eine Basisbewegung und unsere Ideologie ist ein humanistischer Populismus. Unsere Strategie folgt in vielem der von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau. Populismus ist kein Regime, sondern ein Programm. Er ist eine Strategie der Unterscheidung in ein „sie“ und ein „wir“. Das kann ein ethnisches „wir“ sein, das sich gegen AusländerInnen richtet – das ist Rechtspopulismus. Populismus kann aber auch das „wir“ der Bevölkerung gegen das „sie“ der Oligarchie stellen.

Unsere Bewegung will etwas Neues aufbauen, jenseits von Parteien. Sie ist deshalb bewusst kein Parteien-Bündnis wie noch 2012.

Ist das „Rebellische Frankreich“ links oder nicht?

Es ist das politische Instrument, um eine Sechste Republik zu errichten. Ihr Aufbau ist für uns ein soziales und ökonomisches Projekt. Zwei Beispiele: Wenn es zum „Outsourcing“ eines Betriebes kommt, wollen wir den ArbeiterInnen das Recht geben, ihn als Kooperative weiterzuführen. Das ist eine antikapitalistische Maßnahme. Oder: Wir wollen den Schutz des Ökosystems im Zweifel über die Allmacht von Eigentumsrechten stellen. In unserem Programm gibt es viele solcher linker Vorschläge, aber der Begriff „links“ kommt nicht vor.

Wir sprechen nicht den Identitäts-Patriotismus jener an, die meinen, man müsse „die Linke retten“ oder „links sein“. Das ist ein Minderheitenprogramm. Wir verlangen nicht, dass Leute sich erst als links deklarieren müssen, bevor sie sich für die Demokratie einsetzen dürfen.

Wie lässt sich der Aufstieg des rechtsextremen Front National (FN) von Marine Le Pen erklären?

Es gibt heute einen Grundstock an WählerInnen in Frankreich, für die MigrantInnen an den Problemen der Gesellschaft schuld sind. Ihre Analyse ist sehr einfach: „Wenn die nicht hier wären, gäbe es mehr Arbeit für mich und meine Kinder.“

Marine Le Pen spricht auch andere Themen an, etwa die Kritik an der EU, die Konkurrenz von östlichen Ländern, die Euro-Frage. Aber das tun wir auch. Was Le Pen Stimmen bringt, ist letztendlich die Fremdenfeindlichkeit. Dahinter steckt ein ethnisches, nicht ein bürgerliches Konzept der Nation. In dieser Vorstellung können wir niemals ein gemeinsames Volk mit MuslimInnen bilden. Das ist ein mythologisches Konzept, schließlich gibt es keine französische Ethnizität.

Es gibt Leute in Frankreich, die stimmen damit überein. Aber das sind nicht einmal 20 Prozent der WählerInnen. Wenn der FN Wahlen gewinnt, dann nur wegen der desaströs hohen Zahl an Stimmenthaltungen. Es ist daher im Interesse der Rechten, dass es keinen Wahlkampf gibt. Wer von der Politik angewidert ist, soll es bleiben. Unsere Aufgabe ist es, den FN mit nicht-faschistischen Stimmen zu verdrängen. Indem wir eben nicht zur Linken sprechen, sondern zu allen, die angewidert sind; indem wir unsere Kampagne geöffnet haben, haben wir eine effektive antifaschistische Strategie aufgebaut.

Hat das die Entscheidung über eine gemeinsame Kandidatur mit PS-Kandidat Benoît Hamon beeinflusst?

Ja. Wir hätten unsere Strategie gefährdet, die Angewiderten anzusprechen, wenn wir Leute an Bord geholt hätten, die sie anwidern. Die PS stirbt gemeinsam mit der Fünften Republik. Das ist nicht die Schuld von Benoît Hamon, er ist ein anständiger Mensch. Es ist das Ende eines Zyklus.

Eine Zusammenarbeit mit der PS würde uns vielleicht ein oder zwei Prozent aus dem Mitte-Links-Lager bringen. Aber wir würden jede Chance verlieren, zu denen zu sprechen, die nichts mit Parteien zu tun haben. Und sie sind unsere Chance auf den Sieg.

Mélenchon wird EU-Feindlichkeit vorgeworfen, weil er von einem Plan A und einem Plan B gegenüber der EU spricht. Was ist damit gemeint?

Mélenchon hat als erster eine echte Antwort auf das gegeben, was Tsipras in Griechenland passiert ist. Wenn Verhandlungen etwas bringen sollen, musst du psychologisch auch dazu bereit sein, sie abzubrechen. Sonst verhandelst du nicht wirklich. Das ist der Ursprung des Plan B.

Plan A schlägt eine Angleichung in Steuer- und Sozialfragen vor. Die Rahmenbedingungen der EU sollen ArbeiterInnen in verschiedenen Ländern nicht in Konkurrenz setzen, sondern eine bessere Lebensqualität für alle ermöglichen. Diese Harmonisierung setzen wir notfalls auch nur mit jenen um, die dazu bereit sind. Das heißt, vor allem die Länder Südeuropas anzusprechen. Die heutigen Herausforderungen, etwa jene der Ökologie, betreffen den ganzen Planeten. Daher brauchen wir überstaatliche Antworten.

Aber die jüngste Erfahrung mit der EU zeigt, dass wir zuerst die Probleme mit unserer nationalen Oligarchie lösen müssen. Deshalb lehnen wir es ab, zu trennen zwischen den FreundInnen des liberalen Europa und denen, die austreten wollen. Das ist die Unterscheidung der extremen Rechten. Wir ziehen die Trennlinie zwischen dem französischen Volk und der Oligarchie. Die extreme Rechte möchte die EU einfach zerstören, wir möchten den Menschen zeigen, was an ihr falsch läuft.

Eine Kritik an Mélenchons heutigem Wahlkampf ist, dass er nationalistischer geworden ist. Auf euren Veranstaltungen sind viele französische Flaggen zu sehen.

Wir sind patriotisch, nicht nationalistisch. Patriotismus ist die Liebe für das Eigene, während Nationalismus Hass auf Andere beinhaltet. Patriotismus bedeutet auch Empathie für die MitbürgerInnen.

Unser Patriotismus ist universell, der Patriotismus der Aufklärung. Er bekräftigt, dass die BürgerInnen das Recht haben, sich selbst zu regieren. Unsere nationale Souveränität ist zuvorderst eine Volkssouveränität. Die extreme Rechte unterstützt nur erstere, nicht letztere. Marine Le Pen soll die Macht haben, nicht die Französinnen und Franzosen.

Raquel Garrido ist Sprecherin von „Das Rebellische Frankreich“. Gemeinsam mit Jean-Luc Mélenchon gründete sie 2009 die französische Linkspartei.

Das Interview führte Cole Stangler. Es erschien zuerst und in längerer Fassung auf der Website des US-Magazins Jacobin.

Übersetzung: Melanie Pichler und Valentin Schwarz

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