Transkript: Multisystemisch erkrankt, systematisch abgeschrieben

Eine Betroffene wird zugedeckt

Vor drei Tagen veröffentlichte der mosaik-Podcast ein Gespräch Sandra und Dini, die beide nach einer Corona-Erkrankung an ME/CFS erkrankt sind, woraufhin sich ihr Leben schlagartig änderte. Um das Gespräch möglichst vielen Betroffenen und anderen Menschen mit unterschiedlichen Kapazitäten zugänglich zu machen, veröffentlichen wir es heute zusätzlich in verschriftlichter, ungekürzter Form.

ME/CFS ist eine schwere körperliche Multisystemerkrankung. Ihr Auslöser sind nicht nur, aber vor allem bakterielle oder virale Infekte, wie etwa Covid-19 oder eine Influenza. Ihr Hauptsymptom ist die „Post Excertional Malaise“, kurz PEM, eine Belastungsintoleranz, die eine Zustandsverschlechterung von vielen Symptomen gleichzeitig bereits nach geringer körperlicher oder kognitiver Belastung verursacht.

mosaik: Hallo und noch einmal vielen Dank, dass ich heute vorbeikommen durfte. Wir sitzen heute bei dir, Sandra, zu Hause. Den Termin haben wir letzte Woche ausgemacht. Möchtet ihr zu Beginn kurz erzählen, was das an Vorbereitung für euch bedeutet hat und was das auch für die nächsten Tage an Konsequenzen nach sich ziehen kann?

Dini: Ja, sehr gern. Also, ich bin die Dini und in meinem Fall war es so, dass ich die letzten zweieinhalb bis drei Tage gerastet habe. Rasten bedeutet nicht viel am Handy sein, die meiste Zeit liegen im abgedunkelten Raum, so wenig Reize wie möglich. Ich habe es jetzt zum Glück alleine her geschafft, ohne Rollstuhl und ohne Hilfe von anderen Personen. Werde jetzt hoffentlich auch das Interview ganz gut überstehen und habe jetzt aber auch erst in drei Tagen wieder abends einen Termin und kann die nächsten Tage auch ausrasten.  Aber wenn ich Ärztetermine oder AMS-Termine oder sonst was hätte, dann hätte ich vermutlich leider absagen müssen.

Sandra: Ich bin Sandra und bei mir schaut es ähnlich aus wie bei Dini. Ich bin leider, wenn ich die Wohnung verlassen möchte, auf einen Rollstuhl angewiesen, das heißt auch auf eine zweite Person, die schiebt. Was bedeutet ich liege generell sehr viel, bin innerhalb der Wohnung, je nachdem wie es gerade geht, mehr oder weniger an die Couch oder ans Bett gebunden. So ein Termin wie heute jetzt, wo es eben vor allem um kognitive Leistung geht, das geht im Moment bei mir besser als das körperliche. Das heißt, das beansprucht mich nicht so sehr wie zum Beispiel aufs WC zu gehen. Aber trotzdem heißt es liegen, liegen, liegen, Reize aus, Licht aus. Und ich habe zum Glück sehr viel Support von meinem Partner, der mir dann alles bringt. Und die Tage danach, schauen wir mal, ob es ohne Crash funktioniert, aber ich bin guter Dinge.

Für viele Menschen ist Corona längst vorbei, für Menschen wie euch jedoch, für die Corona chronische Erkrankungen nach sich gezogen hat, absolut nicht. Könnt ihr da einen kurzen Einblick geben, was die Pandemie für euch bedeutet und welche Rolle sie heute noch spielt?

Sandra: Ich kann mich erinnern an den Moment, wo der Basti Kurz gemeint hat, die Pandemie ist vorbei, Corona ist vorbei. Ja, die Pandemie ist halt jetzt noch nicht vorbei.  Der Basti schon, aber Corona nicht.

Ja, was bedeutet die Pandemie für mich? Mein ganzes Leben hat sich verändert. Also nichts von dem, was mich ausgemacht hat, was mein Leben ausgemacht hat, was mir Spaß gemacht hat, ist jetzt auch nur annähernd in dem Ausmaß möglich. Ich bin jetzt schon glücklich drüber, wenn irgendjemand mit mir mit dem Rollstuhl rausfährt und ich beim Bipa ein bisschen shoppen und mir Schminkzeug kaufen kann. Ich war früher Leistungssportlerin, ein Jahr vor meiner ersten Infektion war ich mit meinem damaligen Flag-Football-Team, bei der Champions-Bowl. Das ist so was wie die Champions-League vom Fußball, wo die besten Teams Europas zusammenkommen, und da haben wir als Frauenteam den ersten Platz gemacht.

Und ein Jahr später dann die erste Infektion, trotz Social Distancing, trotz allen Empfehlungen, die die Regierung damals gegeben hat. Ich war geimpft, ich war sogar im Frühimpfprogramm, weil ich Hochrisikopatientin war mit Asthma. Ja, dann ein halbes Jahr später wieder eine Infektion und dann war es irgendwie vorbei und das, was mich ausgemacht hat, ist immer weniger geworden.  Das heißt, die Pandemie ist für mich oder uns noch lange nicht vorbei. Sie ist bis dahin nicht vorbei, wo es ein Heilmittel gibt, wo wir wieder ein normales Leben führen können und nicht in unseren Schlafzimmern dahin vegetieren müssen, komplett ignoriert und unversorgt.

Dini: Ich kann mich da nur anschließen, bei mir hat sich auch von einem auf den anderen Tag mein komplettes Leben verändert. Ich war ein sehr aktiver Mensch, habe gerade auf meinen ersten Halbmarathon hintrainiert. Ich habe endlich gewusst, was ich beruflich machen will, ich war Integrationslehrerin in einer Mittelschule und habe nebenbei in der Wissenschaft und in der Forschung gearbeitet. Ich habe sogar interessanterweise zu Covid und den Auswirkungen vom ersten Lockdown auf Menschen mit Behinderung und Schüler geforscht und meine Bachelorarbeit geschrieben, also ich war auch sehr in dem Thema drinnen.

Ich habe mich dann leider in der Schule angesteckt, also ich weiß auch genau, in was für einer Situation das passiert ist und habe mich halt echt nie wieder erholt. Nach diesen drei Wochen Akut-Infektion ist es losgegangen mit den ersten sehr argen Symptomen: Da war bei mir dieses In-Ohnmacht-Fallen, aufgrund von Pots, von dem hohen Puls sehr present, und dann sind nach und nach immer mehr Symptome dazugekommen. An meinem letzten gesunden Tag war ich sogar noch auf ein Konzert meiner Lieblingsband nach einem anstrengenden Schultag. Am nächsten Tag habe ich in der Früh das Testergebnis gehabt, war positiv und am Abend haben die ersten Symptome begonnen.

Mein persönliches Fazit ist, dass selbst wenn man sich wirklich an alle Vorgaben der Regierung gehalten hat – weil ich war eben auch dreimal geimpft, immer getestet, immer Maske getragen, habe Social Distancing und so weiter betrieben – habe mich dann in der Arbeit angesteckt, weil als Lehrerin gibt es halt keine Homeoffice, dann wird man aufgrund dieser Ansteckung in der Arbeit arbeitsunfähig und wird einfach so im Stich gelossen vom Staat, von allen Behörden. Ich hätte mir das nie gedacht, in einem Staat wie Österreich, der angeblich eine der besten Gesundheitsversorgung weltweit hat, dass man hier als chronisch kranker Mensch, wenn man zu lange krank ist, so durch alle Raster fällt.

MECFS-Verbände fordern auch von staatlicher Seite mehr Unterstützung. Was genau wären denn hier Forderungen von euch und wie ist das bisher geregelt?

Dini: Also grundsätzlich ist es so, man wird krank, geht in den Krankenstand, und dann bekommt man Zeit lang Krankengeld. Dieses Krankengeld ist aber, je nachdem, wie lange man vorher schon gearbeitet hat, nach einer gewissen Anzahl an Wochen vorbei.  Und dann sucht man eigentlich, so wurde es mir zumindest von Fachärzten und in den Reha-Einrichtungen, wo ich war, erklärt, bei der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) um Reha-Geld an, weil wir ja noch jung genug sind und hoffen, dass wir irgendwann mal wieder zumindest teilweise arbeitsfähig sind. Das ist quasi wie eine vorläufige Berufsunfähigkeits-Pension, die wird einem für ein Jahr gewährt. Dann muss man wieder zur Kontrolle hin und dann geht das eben so lange, bis man hoffentlich irgendwann mal wieder gesund genug ist, dass man arbeiten kann. Wenn wirklich keine Aussicht mehr auf Besserung ist, nach einigen Jahren, dann kann man quasi in Früh-Pensionen gehen, heute heißt das Invaliditäts-Pension.

Das Problem ist aber, dass die PVA so ziemlich alle Anträge ablehnt. Einerseits mit ME/CFS, weil sie die Krankheit nicht anerkennen. Wir haben aber auch mitbekommen, dass es mit anderen Krankheiten genauso ausschaut. Also da gibt es gerade leider wirklich Probleme. Und wenn man dieses Reha-Geld dann nicht zugesprochen bekommt, bleibt einem eigentlich nichts anderes mehr über, als dass man sich beim AMS als arbeitsfähig meldet, weil es gibt halt einfach nichts, was einen dann auffängt.

Dann ist man beim AMS, ist offiziell als arbeitsfähig gemeldet und muss sich für Jobs bewerben. Aber die Betreuer merken auch recht schnell, dass man nicht vermittelbar ist, weil natürlich  Rückmeldungen von den Arbeitgebern kommen, die sich beschweren, wie man Leute in unserem Zustand überhaupt zu Bewerbungsgesprächen schicken kann. Ja, das heißt, man ist im Prinzip beim AMS geparkt, offiziell gesund und arbeitsfähig.  Und wenn man das nicht macht und das AMS wirklich sagt, “okay, sie sind nicht arbeitsfähig”, dann ist man komplett draußen und kann hoffen, dass man vielleicht Mindestsicherung bekommt. Aber für die Mindestsicherung gibt es auch sehr spezielle Voraussetzungen, man darf kaum Eigenkapital haben, muss zuerst sein gesamtes Eigenvermögen aufbrauchen. Und “Vermögen” heißt jetzt nicht reich sein, sondern wenn man vielleicht ein sparsamer Mensch war oder Sparbücher aus der Kindheit vielleicht noch hat, das zählt alles dazu.

Sandra: Vielleicht noch als Ergänzung: Gesundheit ist Ländersache, das heißt, inwieweit die Bundesregierung da jetzt auf die einzelnen Landesoberhäupter einwirken kann, ist in unserem föderalistischen System immer schwer.

Dann ist es außerdem so, dass sich Politik und Gesundheitswesen gegenseitig die Verantwortung zuschieben, also es ist ein bisschen wie Tischtennisspielen: Die Politik sagt, das Gesundheitswesen muss vorgeben, was sie brauchen, das Gesundheitswesen sagt, die Politik muss entscheiden, wie es zu machen ist. So richten sie es gerade recht gut hin, um in dieser Starre verharren zu können. Es passiert nichts, es verändert sich auf dieser Ebene so wenig…es gibt jetzt diesen nationalen Aktionsplan, weißt du da gerade die Maßnahmenvorschläge?

Dini: Ja genau, es gibt den nationalen Aktionsplan für PIS, also postakute Infektionssyndrome, der ist vor ein paar Monaten rausgekommen, wo zu unserem Glück kompetente medizinische Fachkräfte zusammengearbeitet haben. Der gibt vor, was die verschiedenen Behördenorganisationen ändern sollten und es gibt angeblich auch schon Arbeitsgruppen vom Ministerium, die mit den Ländern jetzt daran arbeiten, dass es Ambulanzen für ME/CFS gibt. 

Da ist vor kurzem Zeit durchgesickert, dass ein Probebetrieb dieser Ambulanzen 2027 starten wird und dass sie dann offiziell wirklich erst 2029 eröffnen werden. Was ziemlich schlimm ist, wenn man bedenkt, dass die Pandemie 2020 begonnen hat und die ersten Betroffenen von Long Covid und ME/CFS schon sehr, sehr lange leiden. Es hat auch davor Long-Covid-Ambulanzen gegeben, wo sie natürlich viele Menschen mit ME/CFS hingewandt haben. Aber das sind auch einige in den letzten Jahren einfach geschlossen worden, angeblich, weil es keinen Bedarf gibt. Wenn man sich aber in den Selbsthilfegruppen der Betroffenen umhört, sind da einige Leute über ein Jahr lang auf der Warteliste gestanden. Also das passt hinten und vorne nicht zusammen, was einerseits offiziell kommuniziert wird und was die Realität von Betroffenen selbst ist. 

Sandra: Um noch mal zurückzukommen auf die Ambulanzen, die 2027 in Probebetrieb gehen sollen, da geht es nur um Wien. Also es ist nicht so, dass in ganz Österreich dann 2027 plötzlich Ambulanzen aus dem Boden schießen.  Es ist tatsächlich nur Wien, und wie Dini richtig sagt, das ist mal nur Probebetrieb.

Wenn man sich die Zahlen der Betroffenen anschaut, weil da immer diese Zahl 80.000 durch die Medien schwirrt – das war vor der Pandemie und das war nur eine Schätzung. Gerade vor der Pandemie war ME-CFS weniger bekannt, als es jetzt ist, und jetzt ist es immer noch sehr problematisch, wie wenig Menschen davon wissen, wie wenig Ärzte oder Gutachterinnen davon wissen. Expert*innen gehen eigentlich davon aus, dass sich diese Zahl verdoppelt oder verdreifacht hat.  Hier dann davon zu sprechen, dass kein Bedarf besteht, ist schon sehr zynisch, vor allem wenn wir uns genauer anschauen, wie das Prozedere war.

Im AKH in Wien beispielsweise war es so, dass nur Patientinnen mit organisch nachweisbaren Schäden im neurologischen Bereich aufgenommen wurden, also etwa eine auffällige Nervenleitgeschwindigkeit oder ein auffälliges Schädel-MRT. Da wurden dann aber meines Wissens nach auch nur Standard-Tests gemacht, die bei den meisten Betroffenen unauffällig sind. Und bei ME/CFS ist es so, dass mehrere oder alle Systeme im Körper betroffen sind und dass dann oft Werte auffällig sind, die im neurologischen Bereich standardmäßig gar nicht getestet werden.

Also sind da erstens schon mal ganz viele Betroffene durchs Raster gefallen. Dann müssen wir zweitens bedenken, ME/CFS hat verschiedene Schweregrade, also es gibt die Stufen leicht, moderat, schwer und sehr schwer, wobei das zwischen zwei Schweregraden dynamisch sein kann. Schauen wir uns also Menschen an, die schwer oder sehr schwer betroffen sind, die sind bettgebunden, die halten manchmal nicht mal die Anlesenheit einer anderen Person im Raum gut aus, ohne danach wieder zu crashen. Wie sollen es die unbeschadet in die Ambulanz schaffen? Diese Menschen haben sich dort wahrscheinlich gar nicht anmelden können, weil drittens keine Versorgungsstruktur im Hintergrund gegeben war. Man hat dort zwar hingehen können und bekommt dann vielleicht die richtige Diagnose gestellt, aber was mache ich dann damit, wenn mir da jetzt niemand konkret weiterhelfen kann.

Und trotz alledem, wissen wir aber viertens von Erkrankten, die Monate oder sogar ein Jahr lang auf der Liste gestanden sind, denen dann aber abgesagt worden ist mit den Worten: “Tut uns leid, wir schließen”.

Das heißt, ich fasse das jetzt mal zusammen: Erstens, viele tatsächlich Betroffene wurden gar nicht angenommen. Zweitens, schwer und schwerst betroffene haben dieses Angebot vermutlich gar nicht wirklich wahrnehmen können. Dann haben wir drittens, es war eine medizinische Sackgasse, also es gab dahinter keine Versorgungsstruktur. Und viertens, es gab eine elendslange Warteliste und trotzdem macht man die Ambulanz einfach zu. Das kann man halt keiner erklären.

Dann wurde eben für 2027 in Wien der Probebetrieb angekündigt. Schauen wir mal, wann es dann wirklich passiert. 2029, dann der echte Betrieb, wie Dini gesagt hat, das sind fast zehn Jahre nach Beginn der Corona-Pandemie. Wenn man bedenkt, wie locker das Börsel gesessen ist bei der Regierung, als es darum ging, Unternehmen und den ganzen reichen Freunden von ÖVP-nahen Politikerinnen Corona-Hilfen in Millionenhöhe auszuzahlen. Schnell, unbürokratisch, das hat funktioniert. Aber Menschen, die erkrankt sind, die in der Armut mittlerweile leben, weil sie keine Versorgung haben, müssen alle Arztrechnungen selbst zahlen, die dann meistens von Privatärztinnen sind, weil nur die wenigsten drauf spezialisiert sind. Dann läuft es eben auf die Mindestsicherung hinaus, also diese Menschen werden komplett im Stich gelassen. Plus, wir haben jetzt eine neue Regierung, die sagt, “okay, wir müssen jetzt alle den Gürtel enger schnallen”. Nur die Vermögenden werden irgendwie nicht angefasst, warum auch immer wir das nicht tun. Es ist eine Katastrophe und das macht einfach nur richtig, richtig wütend.

Es ist so viel, was in der Schieflage ist, was diese Erkrankung anbelangt. Wenn man sich die Zahlen anschaut von den Invaliditätspensionen von 2013 bis 2023, also Anträge und Zuerkennungen, hatten wir 2013 eine Zuerkennungsquote von 42,5 Prozent, die in den nächsten zehn Jahren auf 26,3 Prozent gesunken ist. Das war 2023. Jetzt haben wir 2025 und wir reden wieder davon, dass wir den Gürtel enger schnallen und Sozialleistungen kürzen müssen und wie auch immer, wie soll sich das ausgehen? 

Wir haben Gutachter*innen, die die Erkrankung leugnen. Wir haben gerichtlich beeidigte Sachverständige, die Frauen sagen…Dini, dein Erlebnis vielleicht?

Dini: Ich habe aktuell zwei Klagen am Laufen und die eine Klage jetzt letzte Woche verloren. Die nächste kommt noch. Da geht es bei mir um die Versehrtenrente, weil wenn man sich im Job angesteckt hat und das auch als Berufskrankheit anerkannt bekommen hat, dann hat man eventuell die Möglichkeit die zu bekommen, was mir eigentlich zustehen sollte. Ich ja leider nach wie vor nicht arbeitsfähig bin, was unzählige Befunde, sogar von ihnen selbst während der Reha festgestellt haben. Und trotzdem habe ich nur 20 Prozent Minderung der Erwerbsfähigkeit bekommen, obwohl ich eigentlich 100 Prozent haben sollte oder auf jeden Fall mehr als 20. 

Und da bin ich gerade in Klage und habe einen sehr tollen Gutachter, bei dem ich damals 2022, schon mal in der Kassenarztpraxis war, das war nachdem ich in der AKH Post-Covid-Ambulanz  mit auffälligen organischen Befunden entlassen wurde. Auf jeden Fall bin ich zu diesem Neurologen hingegangen, habe gesagt, “ich habe Post-Covid vom AKH diagnostiziert, das und das sind meine Probleme, können Sie mir bitte helfen”. Und dieser Neurologe hat mir drei Fragen gestellt und nach diesen drei Fragen sagt er zu mir: “Naja, 27 Jahre, kein Partner, kein Kind, aber Kinderwunsch grundsätzlich irgendwann vorhanden. Das ist ja klar, dass Sie eine Depression haben, fahren sie doch mal zwei Wochen auf Urlaub und gehen auf Dates und wenn Sie zurückkommen, dann werden sie sehen – mindestens die Hälfte der eingebildeten Symptome ist weg.” 

Und diese Person, die das 2022 zu mir gesagt hat, ist gerichtlich beeidigter Sachverständiger, der fürs Gericht Personen mit ME/CFS und anderen neurologischen Erkrankungen beurteilt. Das zeigt halt einfach sehr gut, wie wenig ernst genommen die Krankheit wird, denn ich bin ja in dem, je nachdem, wie man es sieht, glücklichen oder unglücklichen Fall, dass ich diese Polyneuropathie, also diese Nervenschädigungen auch offiziell nachgewiesen habe. Das heißt, das sind auffällige organische Befunde und trotzdem schiebt er das auf die Psyche. Und die Aussage ist halt auch sehr sexistisch, weil, wenn ich ein Mann wäre, dann glaube ich, hätte er das nicht so zu mir gesagt.

Und ich, naiv wie ich damals war, habe mir gedacht, okay, wenn das ein Arzt zu mir sagt, der es sich ja damit auskennt, dann muss ich das auf jeden Fall abklären lassen. Dann bin ich auch tatsächlich zu verschiedenen Psychiatern und Psychologen gegangen und habe gesagt, “hey, könnt ihr mir bitte sagen, ob psychisch da was ist”. Egal, bei wem ich war, alle, sogar die Neurologin bei der Rehageld-Klage, alle haben gesagt, psychisch und psychiatrisch bin ich nicht auffällig. Also ich habe etliche Befunde von Spezialisten, die sagen, nein, da passt alles und trotzdem wird es einfach auf den Zyklus und das Weiblich-Sein und den Kinderwunsch reduziert. 

Dann gibt es noch den Grad der Behinderung, den kann man beim Sozialministerium beantragen und wenn man dem bekommt, dann hat man steuerliche Erleichterungen, man kann Kosten für Medikamente oder bestimmte Hilfsmittel abschreiben, man bekommt zum Teil Vergünstigungen bei Zugtickets oder kann, wenn man gehbeeinträchtigt ist, den Parkausweis bekommen. Und für die, die noch arbeiten können, was zum Glück manche der mild betroffenen schaffen, gäbe es dann auch geförderte Arbeitsstellen oder adaptierte Arbeitsplätze.

Das Problem ist nur, so wie bei anderen Leistungen, von denen wir schon geredet haben, dass Gutachter und Gutachterinnen die Krankheiten oft nicht anerkennen. Das war kurz vor Weihnachten 2024 in den Medien, weil ME/CFS nicht in den Katalog vom Ministerium aufgenommen wurde und gesagt wurde, man kann die Symptome dieser Krankheit ja mit Symptomen oder Krankheiten, die schon in diesem Einstufungskatalog sind, vergleichen. Was bis zu einem gewissen Grad sicherlich stimmt, aber bei ME/CFS gibt es eben dieses PEM, diese Zustandsverschlechterung nach Belastung, das ist ein Symptom, das gibt es nicht bei anderen Krankheiten. Deswegen ist die Argumentation vom Ministerium meiner Meinung nach nicht legitim. Aber da hängt es eben davon ab, ob die Gutachter*in, der*die begutachtet, das mit anderen Erkrankungen gleichsetzt und das halbwegs korrekt einstuft. Oder wie bei Sandra und mir, wir waren bei der gleichen Gutachterin, die Post-Covid ME/CFS total verleugnet, einem 0 oder 10 Prozent gibt.

Ihr habt es schon gesagt, ME/CFS ist nichts Neues und existiert auch nicht erst seit Corona. Die Krankheit wird von der Weltgesundheitsorganisation schon seit 1969 als neurologische Erkrankung eingestuft. Trotzdem wurde und wird sie nach wie vor von vielen Personen  nicht ernst genommen und auch nur wenig an ihr geforscht. Warum ist das so?

Sandra: Die Erkrankung ist tatsächlich vor circa 100 Jahren das erste Mal in Büchern aufgetaucht, als diese Symptome, die wir haben, schon beschrieben worden sind. Ich weiß gerade nicht in welchem Jahrzehnt, es ist dann aber auch schon sehr früh in einem Spital ein Virus ausgebrochen und die Krankenschwestern damals haben alle diese Symptome gehabt. Das wurde dann von den Ärzten als Massenhysterie abgetan, obwohl diese Frauen auch in Ausübung ihrer Tätigkeit, in der sie anderen geholfen haben, an ME/CFS erkrankt sind. Und so spielt sich das jetzt schon die ganze Zeit ab.

Wenn man sich die Geschichte eben anschaut, ist es ähnlich wie bei Multipler Sklerose, die auch mehr Frauen als Männer betrifft. Bei ME/CFS ist es so, dass sieben von zehn Betroffenen Frauen sind. Und somit ist es halt ein Thema Gender Health Gap. Wir haben internalisierte Misogynie, wir haben Ärzte, die, nachdem die WHO ME/CFS als neurologische Erkrankung in den ICD aufgenommen hat, das Ganze immer noch als Hysterie beschrieben haben.

Dini: Also dadurch, dass die Krankheit vorrangig Frauen betrifft ist sicherlich ein wichtiger Punkt, wieso da nicht schon länger mehr Forschung betrieben worden ist und wieso es eben auch mit der Anerkennung so schwierig ist – wie bei anderen Krankheiten wie Endometriose auch. 

Und was auch ein Problem ist, ist dass es häufig auf die Psyche geschoben wird, vor allem bei Frauen. Beispiele habe ich ja vorher schon genannt. Es ist ja tatsächlich so, dass Mitbetroffene von uns, die wir persönlich kennen, von PVA-Ärzt*innen oder gerichtlichen Gutachter*innen, wem auch immer, Simulation, Hypochondrie, oder Aggravation unterstellt wird. Also wirklich als Diagnose. Obwohl es ja mittlerweile wirklich Tests gibt, zum Beispiel die Laktatmessung oder die Handkraftmessung oder für POTS auch den Schellong-Test oder die kanadischen Kriterien. Aber das passiert einfach alles nicht. Und ehrlich gesagt verstehe ich es selbst nicht, weil die WHO ME/CFS eben seit 1969 anerkennt und weltweit bestimmte Diagnosekriterien gelten – aber anscheinend nicht für die österreichischen Gulachter*innen, die sich weigern, diese Tests durchzuführen. Also sie machen andere Untersuchungen, die in den meisten Fällen unauffällig sind. Aber wenn sie die richtigen Tests und Fragen stellen würden, dann hätte man halt auch eindeutige Ergebnisse. Sandra hat da immer ein sehr gutes Beispiel dafür: Wenn ich mit einem gebrochenen Fuß zum Arzt gehe und der macht ein EKG von mir oder röntgt meinen Kopf, dann wird dem halt der gebrochene Fuß nicht auffallen. Und genauso rennt es leider ab. 

Was ich noch ergänzen will: Es gibt Gott sei Dank ja eh Ärzte und Ärztinnen im Hausarztbereich, im Facharztbereich, die die Krankheit mittlerweile ernst nehmen und anerkennen und den Betroffenen so gut wie es ihnen möglich ist helfen, zum Beispiel Off-Label-Medikamente ausprobieren. Also ich will wirklich nicht die ganze Ärzteschaft über einen Kamm scheren. Aber es ist halt leider die Minderheit und es sind viel zu viele Betroffene und sehr viele sind einfach nicht gut versorgt.

Sandra: Du hast gerade gesagt, du verstehst nicht, warum das in Österreich so passiert. Ich glaube, es schon zu verstehen: Wenn wir eine neoliberale Gesundheitspolitik haben, dann haben wir halt ein Problem – also die Erkrankten haben ein Problem. Wenn Gesundheit einer Profitlogik unterworfen wird. Plus, dann haben wir da noch Ärzte, Gutachter, die vielleicht schon lange in Pension sind, die zwar beeidigt sind, die aber keine Verpflichtung haben, zu bestimmten Fortbildungen zu gehen. Das heißt, auch wenn ein Gutachter regelmäßig zu Fortbildungen geht und dann seine Rezertifizierung erhalten hat, heißt das nicht, dass er eine Fortbildung zu MCFS oder postakuten Infektionssyndromen absolviert hat.

Und selbst wenn der Gutachter in dieser Fortbildung war, also zu MCFS, heißt das nicht, dass er dadurch dann plötzlich das Patriachat hinter sich lässt und die ewiggestrige misogyne Weltanschauung plötzlich abschüttelt und sagt: “Aha, Frauen sind in Wahrheit ja gar nicht hysterisch, sondern können wirklich schwer krank sein.” Und somit stehen wir halt weiterhin einer Wand aus medizinischem Wissen vom letzten oder sogar vorletzten Jahrhundert gegenüber. Und das rentiert sich halt dann auch für die Institutionen, wenn man da ein Gutachter sitzen hat, der eher zu einer Ablehnung tendiert. Dann sind wir dort, wo wir jetzt sind.

Was dann noch dazu kommt: Wenn wir jetzt anerkannt werden würden als Geschädigte der Pandemie, dann würde die Politik dadurch auch indirekt zugeben, da nicht richtig damit umgegangen wurde, wenn so viele geschädigt rausgekommen sind. Ja, und vor allem welche Zahlen dann auf sie zukommen würden, wie gesagt, die 80.000, das ist eine sehr konservative Schätzung.  

Dini: Und was auch auffällig ist, weil du ja die Entstehungsgeschichte erzählt hast, da geht es ja immer um Florence Nightingale, vermutlich die bekannteste Krankenschwester, die auch das Händewaschen und so weiter eingeführt hat, also quasi das Handbuch für Pflegekräfte geschrieben hat. Sie ist offiziell auch die erste ME/CFS-Betroffene, was sie auch dokumentiert hat, wie es ihr geht, wie sie sich bei der Arbeit angesteckt hat. Deswegen ist ihr Geburtstag oder Sterbetag, der 12. Mai, der internationale Tag für MCFS.

Ich war drei Mal auf Reha seit meiner ME/CFS-Erkrankung und alle anderen Personen, die mit mir dort waren, wegen Longcovid und ME/CFS, waren aus dem medizinischen Bereich und waren selbst Ärzt*innen oder diplomierte Krankenpfleger*innen. Und von den Personen, die ich kennengelernt habe, ist es nach wie vor so, dass diejenigen, die betroffen sind, oft in sozialen Berufen sind, sei es pflegerische Tätigkeiten oder im Kindergarten, Lehrpersonen, Behindertenbetreuer*innen.

Sandra: Also alles Berufe, wo mehrheitlich Frauen sind…

Dini: Genau, alles Berufe, wo mehrheitlich Frauen sind, und wo man sich auch nicht unbedingt schützen kann. Bis zu einem gewissen Grad natürlich, aber Ansteckung ist halt leider manchmal trotz der besten Maßnahmen möglich. Aber leider wird da auch nach wie vor eigentlich nichts gemacht, um diese Personen zu schützen, weil gerade in einem Spital haben sie ja noch immer mit Erkrankten, egal mit was für einem Virus oder Bakterien zu tun. Und es ist ja jedem mittlerweile freigestellt, ob er Maske trägt oder nicht. Oder in Schulklassen, da hat es einmal die Devise geben: Okay, wir statten die alle mit Luftreinigern aus. Aber ich wüsste jetzt nichts davon, dass das passiert wäre.

Deswegen, mein Eindruck ist, man tut auch heute nicht wirklich was, um zukünftige Fälle zu verringern oder zu vermeiden. Und das Ding ist, es kommen ja nach wie vor Menschen in diese Selbsthilfegruppen, die haben das einfach nie offiziell anerkannt bekommen, dass sie das von Covid oder einer anderen Virusinfektion haben. Oder tatsächlich auch Post-Vaccine, weil das leider ja auch passieren kann.

Und ich kann jetzt nur für mich sprechen, ich bin eben im November 2021 kurz vor dem dritten Lockdown erkrankt, wo ja wirklich alle Gurgeltests und so jeden Tag gemacht haben. Deswegen war es bei mir gut nachweisbar und ich bin quasi früh genug erkrankt, um noch bei den Spezialisten mit sehr langer Wartezeit Plätze zu kriegen, aber spät genug, um zu wissen: Ah ja, da gibt es irgendwas nach einer Covid-Infektion. Damals hat man geglaubt, das betrifft nur die Lunge. Mittlerweile weiß man ja, dass es auch das Nervensystem und andere Organe betrifft. Aber alle, die dann mit Omicron danach gekommen sind, die sagen alle, sie finden keine Ärzt*innen, die mit ihnen Medikamente ausprobieren, sie finden keine Ärzt*innen, die ihnen das bestätigen. Die haben keine Tests mehr als Nachweis und dann wird ihnen nicht geglaubt. Also seit die Pandemie vorbei ist und einfach alle Maßnahmen gefallen sind, die Leute, die dann dazugekommen sind, haben es halt noch schwerer, dass es ihnen anerkannt wird.

Sandra: Ja, also ich bin also Ende 2021 erkrankt und eben genau wie du sagst, spät genug für das eine und früh genug für das andere. Die, die jetzt dazu kommen…eben dadurch, dass es nur so wenige Ärzt*innen gibt, die können sich halt auch nicht zweiteilen. Sie wissen vielleicht früher, dass es das gibt, wil es auch mehr in den Medien ist und weil ich glaube mittlerweile wirklich jeder wen kennt, der ME/CFS hat. Deswegen glaube ich schon, dass man vielleicht früher draufkommt, was hat man und es früher eindämmen oder eine Verschlechterung verhindern kann, aber ohne ärztliche Begleitung ist das halt trotzdem schwierig.

Was müsste sich denn eurer Meinung nach innerhalb des österreichischen Gesundheitssystems verändern, damit ME/CFS-Erkrankten oder vielleicht auch anderen chronisch kranken Menschen besser geholfen werden kann?

Sandra: Was es auf jeden Fall braucht, wären medizinisch akurate Bewertungskriterien für die Einstufung der Arbeitsfähigkeit beziehungsweise Arbeitsunfähigkeit. Das würde dementsprechend voraussetzen, dass man eine verpflichtende Schulung und auch Überprüfung von Gutachter*innen durchführt. Es wird ja jedes Mal bei Gericht so getan, es wäre dieser Eid, den sie ablegen, irgendwie ein Blutschwur wäre, der nach sich zieht, dass man tot umfällt, wenn man den nicht einhält, das ist aber nicht so. Und man sieht einfach in der Praxis, wie viele Gutachter*innen die Erkrankung nicht kennen oder ihre Existenz ganz aktiv leugnen und das Ganze einfach psychologisieren.

Die Stigmatisierung ist da. Da hätte das Gesundheitsministerium dagegen wirken können, indem es jetzt zum Beispiel ME/CFS in die Einschätzungsverordnung aufgenommen hätte, dann wäre da mal ein Schritt passiert. Die Chance haben sie nicht genutzt. Was noch dazu kommt: In Deutschland zum Beispiel, wurde in der Übersetzung vom ICD schon 2023 das Wort Erschöpfung rausgenommen. Es ist keine Erschöpfung.  ME/CFS ist eine schwere Erkrankung und das mit Erschöpfung darzustellen, das gibt einfach ein komplett falsches Bild, das dieser Stigmatisierung nicht entgegen wirkt. In Deutschland hat man das jetzt eben anders übersetzt. In Österreich ist es jetzt auch 2025 nicht geschafft worden, da zumindest sprachlich entgegenzuwirken. Da reden wir wirklich nur von einem sprachlicher Kniff. Nicht mal das ist gemacht worden. 

Es muss entsprechende Therapiemöglichkeiten und Reha-Einrichtungen geben. Das heißt die Ambulanz, die man jetzt in Wien ab 2027 hat, das ist eine Zumutung. Das geht einfach nicht so spät. In anderen Bundesländern ist es nicht mal so weit. In Salzburg zum Beispiel haben wir eben die Landesrätin von der ÖVP, die sagt, da es keine kurative Therapie gibt, brauchen wir keine Ambulanz. Wenn man das jetzt auf andere Erkrankungen anwenden würde, dann müsste man auch sagen, wir brauchen für Multiple Sklerose zum Beispiel oder für unheilbare Arten von Krebs keine kurative Therapie. Ich weiß gar nicht, mir fehlen die Worte, was man dazu sagen soll. Und vor allem, dass sie das Ganze auf den niedergelassenen Bereich abwälzen will und sagt, es reicht, wenn man da eine Koordinierungsstelle hat. Wenn es dahinter keine Versorgungsstruktur gibt, dann nutzt auch diese Koordinierungsstelle nichts. 

Dann dieser Punkt, der immer wieder kommt, es gäbe noch keinen Biomarker. Das ist so nicht richtig. Es gibt zwar nicht den einen Biomarker, okay, aber es gibt mehrere Hinweise auf biologische Veränderungen, also sowohl Biomarker, zum Beispiel eben PEM, also die Post Exertional Malese. Dini hat vorhin schon mehrere andere Biomaker aufgezählt. Nur dafür braucht es eben andere Tests, die oft aufwendiger sind, und die die Gutachter einfach konsequent nicht machen. Aber gerade dadurch werden die Symptome objektivierbar, obwohl behauptet wird, dass das nicht geht. Und selbst wenn es wirklich keinen einzigen Biomaker gäbe, dann kann man noch immer klinisch eine Diagnose stellen. Das passiert nämlich nicht nur bei Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen, sondern auch zum Beispiel bei Migräne. Und die ist als, Trommelwirbel, neurologische Erkrankung klassifiziert. Und es würde niemand auf die Idee kommen zu sagen: Pfff, Migräne mit Aura und Erbrechen oder Lungenkrebs im Endstadium, naja, schau du, wie du klarkommst. Das ist aber das, was gerade mit ME/CFS-Erkrankten gemacht wird.

MECFS-Erkrankte werden dadurch immer weiter in die Zustandsverschlechterung geschoben, werden in die Armut geschoben, was ein Teufelskreis ist. Das heißt, einerseits bekomme ich nicht genug Geld, um mir diese Erkrankung privat irgendwie zu finanzieren, unter Anführungszeichen, weil ich die ganzen Ärzt*innen privat zahlen muss. Das heißt, ich muss dann sparen auf einen Arzttermin. Wenn ich aber jetzt nur einmal im halben Jahr, einmal im Jahr zum Arzt oder zur Ärztin gehe, dann sagt mir wieder die Behörde: “Naja, wenn sie nicht zum Arzt gehen, ist ja klar, dass sie nicht gesund werden.” Und dann wird man wieder sanktioniert. Also das ist eine Spirale der Unlogik, die man keiner erklären kann.

An dieser Stelle musste Sandra das Gespräch leider nach großer Anstrengung wegen körperlicher und kognitiver Verschlechterung abbrechen. Sie bat jedoch klar darum, dass wir die Aufnahme zu zweit zu Ende führen.

Dini: So, um da bei der Sandra anzuschließen, einerseits hat man kein Geld, dass man sich die adäquate ärztliche Versorgung oder zum Beispiel Medikamente oder Nahrungsergänzungsmittel leisten kann. Andererseits ist es auch wirklich schlimm, weil man eben der Krankenkasse oder irgendeiner Behörde ständig beweisen muss, dass man wirklich krank ist. Und das scheitert aber daran, dass die das monatlich verlangen. Aber wie jeder weiß, wartet man auf ein Facharzttermin Monate. Das heißt, man kann nicht jeden Monat, 150 Euro aufwärts für einen Termin bei einem privaten Facharzt aufwenden und nicht mal bei denen kriegt man monatlich einen Termin, weil die so ausgelastet sind. Das ist halt ein totaler Kampf, das einem der Krankenstand überhaupt verlängert wird. Und dann, wenn eben der Krankenstand und das Krankengeld aus ist, dann kommt eben der nächste Kampf mit Reha-Geld und so weiter.

Genau, was ich außerdem noch sagen wollte, wo sich auch sehr viel verändern muss, ist, dass ME/CFS oder allgemein postakute Infektionssyndrome im Studium bei der ärztlichen Ausbildung oder bei Pflegefachkräften vorkommen, weil aktuell ist es leider nicht so. Das heißt, rein theoretisch dürfte man den Ärzten einmal vorwerfen, dass sie die Krankheit nicht kennen, weil es nicht im Studium vorkommt. Das ist schon mal der erste große Fehler, das muss sich ändern, weil dann kann kein Arzt mehr sagen: “Hab ich nicht gelernt.” Ich glaube, bei der Med-Uni in Graz gibt es das als Freifach, aber das ist halt freiwillig. Das heißt, wenn die Studierenden das nicht freiwillig auswählen, dann lernen sie im Studium einfach nichts drüber. Und das ist einfach fatal, weil, und das sagen einige Ärzt*innen, die sich mit der Krankheit befassen, wenn man den Leuten zuhört, dann kann man eigentlich sehr schnell erkennen, ob es sich da jetzt um PEM und ME/CFS handelt oder vielleicht um irgendeine andere Erkrankung.

Und es ist auch die Früherkennung wichtig, weil wir Menschen sind einfach einerseits gesellschaftlich, aber auch aus eigener Motivation heraus dazu gedrillt, dass wir über unsere Grenzen gehen, dass wir immer besser werden wollen, dass wir uns durchpushen, auch wenn es uns mal nicht so gut geht. Und das ist halt bei ME/CFS das Fatale, was die Verschlechterung bringt. 

Und was ich auch noch einen sehr wichtigen Punkt finde, ist auch die Entlastung und Unterstützung von Angehörigen oder pflegenden Personen, weil die im Idealfall – wir wissen leider, dass es Betroffene gibt, die leider diese Unterstützung auch gar nicht haben – aber wenn wirklich eine verständnisvolle Familie oder Freunde oder Partner da sind, die übernehmen ja total viel Aufgaben für die Betroffenen und haben ja auch eine enorme Zusatzbelastung, müssen vielleicht auch Stunden reduzieren im Job, damit sie dem nachgehen können, vor allem wenn vielleicht noch Kinder oder andere pflegende Personen in der Familie dazu kommen. Da gibt es einfach auch noch viel zu wenig Anerkennung für den Arbeitsaufwand und den Zeitaufwand, den man als pflegender Angehöriger hat. Weil wir ja echt sehen, man muss zu Terminen mit einem Rollstuhl begleitet werden. Man braucht Personen, die bei Terminen vielleicht auch das Wort übernehmen können, wenn man selbst nicht mehr reden kann, weil einfach der “Brainfog” zu stark ist und man Wortfindungstörungen hat. Man hat manchmal nicht einmal die Kraft, dass man sich die Zähne putzt oder aufs Klo geht oder ein Glas Wasser oder ein Besteck halten kann. Und das sind halt Dinge, die man als gesunder Mensch in 10 Minuten nach der Arbeit macht nebenbei, und die halt für Betroffene echt schon ein Tagespensum sein können. Und nicht einmal das schafft man an einem schlechten Tag.  Das ist einfach ein Aufwand für alle, und bräuchte dementsprechend Anerkennung.

Eine letzte Frage noch: Viele Erkrankte können ja eigentlich ihr Bett nur selten verlassen und sind kaum oder auch gar nicht mobil. Und trotzdem tut ihr euch zusammen, wie gerade jetzt zum Beispiel, um für die Verbesserung eurer Situation zu kämpfen – wie funktioniert das?

Sandra: Genau, also die gesamte ME/CFS-Community ist sehr aktiv, was das Thema Awareness angeht in meinen Augen. Es ist für viele halt nur deswegen möglich, weil es online geht und vom Bett aus. Das heißt, man muss das Bett oder die Wohnung nicht verlassen, um einen Beitrag leisten zu können und man kann sich die Zeit frei einteilen.  Das heißt auch, ich muss nicht, wenn ich etwas posten will, das in einem schreiben, sondern ich kann mir Tage oder Wochen Zeit lassen und den Beitrag vorbereiten in die Notizen und dann halt irgendwann posten, wenn er fertig ist. Genauso kann man ja Videos oder Sprachdinge schneiden und kann das eben auch aufteilen und das ist sehr wichtig, weil dann kann man trotzdem pacen, aber gleichzeitig für sich einstehen. Teilweise ist es Dank Unterstützung von Familie oder Freunden möglich, dass man vielleicht mit Rollstuhl mal bei irgendeiner Awareness-Veranstaltung dabei sein kann. Man muss halt schon immer schauen durch Sonnenbrille, Kopfhörer, also Ohrenstöpsel, dass man die Reize so gut wie möglich vermeidet und ein Risiko ist natürlich auch die Ansteckungsgefahr. Deswegen sieht man Betroffene am meisten mit Masken und tragbaren Luftfiltern und so weiter.

Was glaube ich auch, also für mich persönlich, aber für viele andere Betroffene auch sehr großes Anliegen ist, es ist halt jederzeit eine Verschlechterung möglich und wir wissen ehrlicherweise nie, wie geht es uns in einer Stunde, wie geht es uns am nächsten Tag, wie geht es uns in einer Woche. Und ich war ja schon mal schwer betroffen und hab mich zum Glück auf “moderat” verbessern können. Aber ich weiß ja, wie dieser Zustand ist, wenn man lebendig begraben ist und nicht einmal seine Muskeln so ansteuern kann, dass man den Handywecker abdrehen kann. Da geht dann natürlich nichts anderes. Und ich finde es einfach wichtig, dass man auch sich für diejenigen, die nicht mehr selber in der Lage sind, dass sie für sich einstehen oder auf ihre Situation aufmerksam machen, stark macht und darauf hinweist, dass es diesen Zustand leider auch gibt. Weil moderat Betroffene sieht man vielleicht noch ab und zu mal, aber schwere und Schwerstbetroffene, die gehen halt verloren. Und da gibt es ja den Hashtag “Millions Missing”, der beschreibt es finde ich sehr treffend.

Man verschwindet halt einfach aus der Gesellschaft und man verschwindet auch irgendwie aus den Köpfen von den Leuten. Am Anfang melden sie sich vielleicht noch, aber wenn man halt keine Kraft und Energie hat, dass man zurückschreibt, und dann warten die Monate…Ich habe zum Teil Chats seit über einem Jahr nicht beantwortet, obwohl es mir besser geht, weil ich einfach nicht die Kapazitäten dafür habe. Und natürlich, wenn man sich bei den Leuten nicht meldet, irgendwann denken sie nicht mehr an dich, dann laden sie dich nicht mehr ein, zu einer Feier oder zum Sport oder was auch immer. Und irgendwann denken sie nicht mehr an dich, wissen aber eigentlich auch gar nicht, warum du dich nicht mehr meldest. Und du hast nicht einmal mehr die Kraft, ihnen das zu sagen. Deswegen finde ich es eben sehr wichtig, dass man das stellvertretend macht.

Und was auch noch wichtig ist: Viele Selbsthilfegruppen oder Organisationen werden entweder von Betroffenen selbst oder von Angehörigen gegründet. Aber die Angehörigen müssen ja sehr oft schon die Betroffenen pflegen und haben dadurch auch nicht so viele Kapazitäten. Deswegen braucht es eigentlich eine Lobby für diese Erkrankung, die es aber leider nicht gibt. Deswegen setzen sich Freunde, Familie, unterstützende Personen und Betroffene, soweit es in ihrem Pacing und Energierahmen möglich ist, dafür ein. Aber wenn man keinen kennt und nicht weiß, wie die Situation ist, gibt es halt glaube ich wenig Personen, die sich dafür einsetzen. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir das machen, soweit es möglich ist.

Foto: Sergej Preis

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