Marxistische Ideen sind wieder zunehmend auf dem Vormarsch. Das zeigt auch die Beteiligung am diesjährigen MarxIs’Muss Kongress in Berlin. Muriel aus Wien war vor Ort und schildert ihre Eindrücke.
Es ist ein idyllisches Bild, dass sich Anfang Juni in Berlin zeigt: In dem Gebäude des nd-Verlags und nur einen Katzensprung von der Rosa-Luxemburg-Stiftung entfernt haben sich ungefähr 1.200 Aktivist*innen, Student*innen und Arbeiter*innen eingefunden. Sie alle wollen am diesjährigen MarxIs’Muss Kongress dem propagierten „Aufbruch von links“ ein Stück näherkommen. Die diesjährige Ausgabe des Kongress’ ist die größte, die es jemals gab. Das betonen die Veranstalter*innen in ihrer Begrüßung und lassen einige Freudentränen folgen. Danach unterstreichen sie, warum sie von einem Aufbruch sprechen: Die Jugend sei links. Es gäbe eine sich widersetzende Massenbewegung. Außerdem befände sich die Partei DIE LINKE in der Renaissance und auch in einigen Betrieben zeigten sich kämpferische Erneuerungen. Jetzt sei die Zeit, um Vernetzungen aufzubauen und sich zu organisieren.
Marx21 und DIE LINKE
Der Wunsch nach Vernetzung und Organisierung hat auch einige Aktivist*innen aus Österreich motiviert. Sie sind dem Aufruf des Netzwerk Marx21 nach Berlin gefolgt, um im Rahmen einer Vielzahl von Workshops und Vorträgen linke Inhalte und Strategien zu diskutieren. Das Netzwerk Marx21 ging 2007 aus der Auflösung der trotzkistischen Organisation Linksruck hervor. Es beschreibt sich als ein „Zusammenschluss revolutionärer Sozialistinnen und Sozialisten innerhalb der Partei DIE LINKE, ihrer Jugendorganisation linksjugend [‘solid] und des Studierendenverbandes die Linke.SDS.“
Der Zweck der Partei ist für Marx21 die „Hilfe zur Selbsthilfe bei der Selbstorganisation“. Das Netzwerk spricht sich gegen eine Beteiligung der Partei an Regierungen aus. Es müsse ein Sozialismus von unten, eine Wiederbelebung der revolutionären Tradition in der Arbeiter*innenbewegung angestrebt werden: „Die Arbeit der LINKEN muss vom Kopf auf die Füße gestellt und von Basis, Bewegung und Widerstand her gedacht werden – in der Kommune, im Land und auf Bundesebene.“ Damit dies gelingen kann, müsse die Gesamtausrichtung der Partei dieses Ziel anstreben. Auf seiner Website lehnt Marx21 den damit verbundenen Vorwurf des in der trotzkistischen Tradition verorteten „Entrismus“ ab. Das Netzwerk begreift sein Handeln entgegen anders lautender Kritik nicht als Unterwanderung der LINKEN. Es betont stattdessen das herkömmliche Kräfteringen unterschiedlicher Positionen innerhalb von Parteien.

Programmatisch von Lenin bis Taylor Swift
Das Gespenst der Partei spukte auch durch das Programm des Kongresses. Das zeigten Veranstaltungen wie „Die LINKE nach der Wahl – auf zu einer neuen Stärke.“ Aber auch davon abgesehen war der Zeitplan vielfältig und prall gefüllt. Die größte Schwierigkeit des Wochenendes war für die meisten Teilnehmenden die Qual der Wahl. Die thematischen Schwerpunkte der Vorträge und Workshops umfassten unter anderem Gewerkschaftsarbeit, Partei, Geopolitik, Faschismus und Imperialismus. Die spezifischen Inhalte reichten von Lenin bis Neomaterialismus, von Organizing bis IT-Sicherheit, von Rojava bis Taylor Swift. Auch zeichnete sich schnell ein von emotionalen Schwankungen geprägtes Gemüt bei einigen Teilnehmer*innen ab: Auf Resignation über die globalen Verhältnisse konnte hier plötzlich ein enthusiastischer Optimismus folgen. Wer will nicht mit einer Veranstaltung mit dem Titel „So schön wird der Sozialismus“ den Tag ausklingen oder sich von Berichten über die utopieähnlichen Gesellschaftsentwürfe in Rojava begeistern lassen?
Was sich bei all der Unterschiedlichkeit durch die verschiedenen Themen als roter Faden zog, war der Standpunkt von Marx21: gesellschaftliche Transformation von unten. In diesem Zusammenhang war auch die wiederholte Betonung von Bewusstseinsbildung in der Arbeiter*innenklasse auffällig.

Schwerpunkt Gewerkschaften
Der Kongress-Schwerpunkt zu Gewerkschaften verdeutlichte die Bedeutung des Aufbaus einer demokratischen Basis. Sowohl in einer einführenden Veranstaltung zu „ABC des Marxismus – Klassenkampf und Gewerkschaften“ als auch in einem anschließenden Panel mit Kolleg*innen von der Lufthansa, den öffentlichen Verkehrsmitteln und verschiedenen Krankenhäusern wurde die notwendige Erneuerung der Gewerkschaften akzentuiert. So wurde unter anderem darüber diskutiert, wie die Eingliederung der Beschäftigten in die Tarifverhandlungen geschafft werden kann. An anderer Stelle stand zur Debatte, wie sich die Beziehungen zum gewerkschaftlichen Hauptamt und zu Organizern, aber auch unter der Belegschaft selbst gestalten und gestalten lassen. Zentral waren dabei immer die Stichworte „Selbstermächtigung“, „Mitbestimmung“ und „Solidarität“. Der Eindruck eines zähen und nur schwer gewinnbar scheinenden Kampfes entstand. Doch Anekdoten, wie die Initiative von Kolleg*innen, die bis dahin keine Berührungspunkte miteinander hatten, sich aber im Zuge eines Streikes als Sicherheitskräfte zwischen Belegschaft und wütende Gäste stellten, schmückten das Bild mit Hoffnung.
Sinn und Zweck zwischen Theorie und Praxis
Auf die Frage nach dem Sinn und Zweck eines solchen Kongresses findet sich sicherlich keine direkte Antwort. Das wiederholt erwähnte Ziel von Marx21 scheint ein sehr praxisorientiertes zu sein. Zentral sei, die politische Lage als Ausgangspunkt zu verstehen, um sie verändern zu können. Es gehe um Strategie, um Organisation und um das Aufzeigen alternativer Gesellschaftsentwürfe. Der relativ partizipative Ansatz der Veranstaltungen selbst spiegelte diesen gestalterischen Anspruch zuweilen wider. Die Inputs wurden möglichst kurzgehalten. Der Fokus lag auf den anschließenden Murmelrunden und Diskussionen. Der Anspruch dialogischer Bildung wurde oftmals in Bezug auf Arbeiter*innenorganisation erwähnt. Bei persönlichen Gesprächen ergab sich trotzdem die Frage, inwiefern dieser Forderung gerecht werden konnte. Gerade wenn man auf das Grundprinzip der gegenseitigen Wissensanerkennung fokussiert, blieb der Versuch, innerhalb des formatbedingten Rahmens Hierarchien zwischen Sprecher_innenpositionen abzubauen, unvollendet.
Neben den Vorträgen und Workshops gab es auch Slots für Vernetzungen, Filmscreenings, freiwillige Schichten in der Küche für Alle (KÜFA) und eine Party. Die Verarbeitung der Inhalte in den Pausen durch Gespräche mit Genoss*innen ist als genauso wertvoll anzusehen, wie das Programm selbst.

Der Wert liegt im Prozess
Doch kann der Aufbruch der Linken im 21. Jahrhundert mit Marx im Gepäck gelingen? Das Gefühl nach dem Kongress sagt: Ja! Die Marx-Lektüre wurde hier nicht aus dem verstaubten Bücherregal geholt, mit einem Klimasticker verziert und als neue Auflage verkauft. Marx und der historische Materialismus stellten zwar die Basis der Überlegungen dar, jedoch mit den notwendigen Aktualisierungen, Kritiken und Kontextualisierungen.
Der Wert derartiger Konferenzen zeigt sich insbesondere, wenn man die spezifische Perspektive des Prozesses einnimmt. Erhoffen sich Teilnehmer*innen eine konkrete Lösung, oder einen singulären und konkreten Plan, werden sie höchstwahrscheinlich enttäuscht. Wer aber Dialog als produktiv versteht, Widersprüche aushalten kann und sich gerne in einem Meer von Theorien und Ansätzen treiben lässt, kann dem MarxIs‘Muss-Kongress bestimmt etwas abgewinnen. Eventuell findet man sich dann nach dem Eintauchen in die Perspektivenvielfalt an einem gewissen Punkt wieder. Alternativ bietet die Konferenz auch eine gute Gelegenheit es einfach zu genießen, sich vier Tage lang in einem politisch vertrauten Umfeld zu bewegen, zu lernen und sich mit Genoss*innen auszutauschen.
Fotos: Marx21

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