Vernetzung in Marseille: Was wird aus dem Neuanfang Europäischer Sozialforen?

Podium in Marseille beim Neuanfang Europäischer Sozialforen

Ende April 2024 fand in Marseille der Versuch eines Neuanfangs Europäischer Sozialforen statt – der „European Common Space for Alternatives“. Theresa Kofler war dort und fragt sich, was es braucht, damit es nicht nur bei einem Versuch bleibt.

Zehntausende Aktivist*innen kamen 2001 zum ersten Weltsozialforum in Porto Alegre zusammen. Die globalisierungskritische Bewegung schaffte damit einen bewussten und progressiven Gegenentwurf zum Weltwirtschaftsforum in Davos. Sie baute dabei auf Erfahrungen horizontaler, offener und basisdemokratischer Vernetzung auf, die lokale Aktivist*innen zuvor insbesondere in Lateinamerika erproben. Im November 2002 folgte das erste Europäische Sozialforum in Florenz. Die Sozialforen bildeten in den frühen 2000ern einen zentralen Dreh- und Angelpunkt für die Entstehung von Bewegungen und Netzwerken, die sich über Ländergrenzen hinweg organisierten. Internationalismus wurde neu gedacht und Aktivist*innen schwammen auf einer Erfolgswelle gemeinschaftlicher, direkter Aktionen.

Nostalgie und fehlende Innovation zum Jubiläum

Seitdem sind mehr als 20 Jahre vergangen. Während das Weltsozialforum nach wie vor regelmäßig stattfindet, strauchelte die europäische Version vor allem aufgrund des hohen organisatorischen Aufwandes seit 2010. Zum 20. Geburtstag entschied sich ein Kreis aus ehemaligen Organisator*innen allerdings zu einer Neuauflage in Florenz. Die Zuspitzung des Kriegs in der Ukraine, international steigenden Lebenshaltungskosten und eine weitere ergebnislose Welt-Klimakonferenz waren zusätzliche Motivation. Progressive Perspektiven sollten wieder in Austausch gebracht werden.

Doch der Versuch scheiterte: Das vor 20 Jahren erprobte Grundmodell eines offenen Aufrufs mit zwei Tagen „Open Space“ – also das Angebot an teilnehmende Gruppen und Aktivist*innen selbstbestimmt Diskussionen und Workshops zu gestalten – und ein Tag „Konvergenz/Zusammenführung“ in Form von aneinandergereihten Wortmeldungen ging nicht mehr auf. In den frühen 2000ern gab es weltweit mehr kämpferische, erfolgreiche soziale Bewegungen – von koreanischen Bäuer*innen bis zu Fabriksbesetzer*innen in Italien. Gleichzeitig war die Informationslage über diese Kämpfe schlechter. Für einen Austausch und die aktivistische Koordination über die Foren hinaus existierten Zusammenschlüsse wie das People Global Action Network. Kurz: Die Erwartungshaltung gegenüber eines Sozialforums war eine andere – genauso die Zielsetzung. Die Teilnehmenden mussten keine Ergebnisse generieren, sondern Bewegungen tauschten ihre Erfolge aus und die Entwicklung von neuen Ideen ging leichter von der Hand.

Eingangshalle mit Menschen beim ECSA
Orientierungsversuche in Marseille | (c) ECSA

Zwei Jahrzehnte befinden wir uns in einer anderen Situation. Das erfordert auch neue Methoden. Hätten die Organisator*innen aktuell aktive Gruppen bewusster eingebunden, hätten sie die Schwächen des ursprünglichen Konzepts womöglich erkannt. Die Chance zum notwendigen, generationenübergreifendem Austausch verpassten sie jedoch. Genauso wie die Vermittlung der Tradition und Relevanz der Sozialforen und des Bewegungsnetzwerkes, in das sie eingebunden waren.

Marseille 2024: Aus der Vergangenheit lernen

Der Versuch überregionaler Zusammenkünfte wurde jedoch nicht aufgegeben. Es fanden sich Menschen zusammen, die aus den Erfahrungen des Jubiläums 2022 lernen wollten. Ein erstes Resultat war die bewusste Umbenennung zu „European Common Space of Alternatives“ und ein jünger besetztes Organisationsteam. Dieses wählte einen für neue Gruppen offeneren, zugänglicheren und hierarchieärmeren Zugang. Ein – nicht immer konfliktfreier – Austausch zwischen den Generationen fand bereits in der Vorbereitung statt. Das Programm, mit welchem schließlich für 2024 nach Marseille eingeladen wurde, spiegelte das wider.

Dieser Einladung folgten Ende April knapp 600 Personen – eine bunte Mischung aus frühen Generationen der globalisierungskritischen Bewegungen, französischen Gruppen, bewegungsorientierten NGOs und vereinzelt Graswurzelbewegungen aus unterschiedlichen Bereichen. Die älteren Generationen machten dabei nach wie vor die Mehrheit aus. Als Veranstaltungsort diente eine alte Tabak-Fabrik. Sie fungiert mittlerweile als Sozialzentrum. Inhaltlich verfolgten die circa 50 Workshops und Panels einen Rundumschlag zum Stand der Welt. Bäuer*innen-Proteste standen genauso im Fokus wie die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten. Weitere Schlagworte reichten von Extraktivismus und Globalisierung zu Islamismus, Veganismus, Militarisierung und Migration. Die Tradition des Kämpfe-Verbindens lebte: Viele Aktivist*innen aus unterschiedlichen Szenen kannten sich schon lange. Verschiedene Themen werden seit Jahrzehnten gemeinsam betrachtet und in Form von neuen Kampagnen und Projekten auf die politische Bühne gebracht.

Container als Roter Faden

Methodisch behielt das Organisationsteam das grundsätzliche Modell des Sozialforums – zwei Tage Open Space, ein Tag Konvergenz – bei. Eine Neuerung stellten allerdings die sogenannten „Container“ dar. Anhand von spezifischen Fragen und Themen, bspw. „There is no Planet B“ oder „How to struggle and win together?“, spannten sie einen inhaltlichen roten Faden. Parallel wurden zu diesen Inhalten Panel-Diskussionen veranstaltet. Ergebnisse aus den Workshops wurden entlang der Container gesammelt und am abschließenden Tag in Kleingruppen weiterdiskutiert. Dies machte die Diskussionen – vor allem im Vergleich zu früheren Formaten – um einiges zielgerichteter.

Die Methode schaffte es jedoch noch nicht, tatsächlich Perspektiven und Strategien aufzuzeigen, wie Bewegungen wieder langfristig gemeinsam erfolgreich sein können bzw. sich auf den Weg dorthin begeben. Das lag insbesondere daran, dass eine Frage ungeklärt blieb – nämlich, welches Commitment die Gruppen über das Wochenende hinaus miteinander haben, wie sie sich weiter aufeinander beziehen (wollen) und wer Verantwortung für Prozesse übernimmt. Genau diesen Mut, langfristige Prozesse denken zu lernen, brauchen wir aber gerade. Wir dürfen Strategie- und Organisierungsfragen in Workshops, Podien und Kleingruppen nicht mehr ausklammern. Wir müssen wir als Bewegungen Fragen nach Macht und Privilegien stellen und Widersprüche und Differenzen aushalten bzw. bearbeiten.

Diskussionsrunde in Marseille
Austausch zwischen Teilnehmenden | (c) ECSA

Ein neuer Internationalismus, der Erfahrungen ernst nimmt

Der Gedanke der Sozialforen ist heute keinen Funken weniger relevant als vor 20 Jahren. Räume wie jener in Marseille, die versuchen progressive Kämpfe transnational zu verbinden und auf über 20 Jahre Bewegungserfahrung aufbauen, sind wertvolle Schatztruhen. Sie laufen aber Gefahr, in Nostalgie zu versinken, wenn nicht jüngere Gruppen mit an Bord kommen und sie nicht an die aktuelle Situation globaler Bewegungen angepasst werden.

Dabei müssen wir die langjährigen Erfahrungen der globalisierungskritischen Bewegungen ernst nehmen. Ihre Lehren sind zahlreich und können uns Perspektiven für viele der anstehenden Kämpfe liefern. Zusätzlich braucht es, eine neue Synthese zwischen lokal und global. Die ältere Generation mag sich teilweise zu stark daran orientieren, wie es vor 20 Jahren war und damit übersehen was heute gebraucht wird. Die jüngere Generation – insbesondere die hiesige Klimagerechtigkeitsbewegung – hatte zuletzt einen stark lokalen Fokus. Der Slogan „think global – act local“ darf nicht mehr nur heißen, darauf zu verweisen, dass Menschen im globalen Süden am meisten unter der Klimakrise leiden. Zarte Ansätze dazu sind vorhanden – etwa die Kampagne „Make Rojava Green Again“, die Proteste gegen die European Gas Conference in Wien oder Netzwerke gegen die East African Crude Oil Pipeline sowie den Tren Maya in Mexiko.

Die genannten Beispiele schaffen Anknüpfungspunkte an eine neue Form des Internationalismus, die auf früheren Erfahrungen aufbauen kann und sollte. Das gleiche gilt für den „European Common Space of Alternatives“. Wenn er seinem Vorgänger, dem Europäischem Sozialforum, im 2-Jahres Rhythmus folgt, wird es 2026 eine neue Ausgabe geben. Wir sollten es nicht bei einem Versuch des Neuanfangs Europäischer Sozialformen belassen. Wir sollten uns auf ihre Notwendigkeit verständigen, den Prozess bis zum nächsten Treffen ernst nehmen und sie mit neuer Zielsetzung wieder etablieren.

Titelbild: ECSA

Autor

 
Nach oben scrollen