Marielle vive! Warum der Tod einer Kommunalpolitikerin in Brasilien Hunderttausende auf die Straßen bringt

Als schwarze, lesbische, alleinerziehende Frau aus der „Favela“ war Marielle Franco eine absolute Ausnahme in der Politikszene Brasiliens. Gleichzeitig war sie eine der beliebtesten PolitikerInnen im Stadtrat Rio de Janeiros. In der Nacht auf 14. März wurde sie auf offener Straße erschossen. Es folgte ein landesweiter Aufschrei, der sich auf die ganze Welt ausgebreitet hat. Warum Marielle zu einer Ikone geworden ist und was wir von der Bewegung in ihrem Namen lernen können, berichtet Barbara Stefan.

Das aus der Diktatur hervorgegangene Medienimperium Globo versuchte zunächst, den Mord als gängige Straßenkriminalität herunter zu spielen. Doch die kritische Öffentlichkeit ließ sich nicht beirren und machte lautstark auf die politische Bedeutung der Tat aufmerksam „Sie wollten dich begraben, doch sie wussten nicht, dass du ein Samen warst“ wurde zum Slogan der spontan einsetzenden Protestbewegung.

Unerträgliche Gewalt

Marielle Franco hatte sich gegen die Polizeigewalt im Namen der Drogen- und Kriminalitätsbekämpfung eingesetzt. Diese wird vor allem als Kontroll- und Herrschaftsinstrument gegen den afrobrasilianischen Teil der Bevölkerung instrumentalisiert. Seit dem Mord kam es zu weiteren brutalen Polizeieinsätzen in mehreren Armenvierteln, bei dem insgesamt mindestens 12 Personen ums Leben kamen.

Nach dem Mord an Marielle gingen hunderttausende Menschen auf die Straße, weil sie nicht mehr hinnehmen wollen, dass jene, die sich diesem untragbaren Zustand mutig widersetzen, brutal zum Schweigen gebracht werden. Gezielte Exekutionen sind eine bis heute weit verbreitete Praxis, um unerwünschte und bedrohliche Menschen loszuwerden. Dies betrifft neben „schwarzen Kriminellen“ aus der „Favela“ auch AktivistInnen und PolitikerInnen der Linken. In Brasilien wird alle 21 Minuten einE AfrobrasilianerIn (mehrheitlich Männer) getötet und alle fünf Tage einE AktivistIn – Tendenz steigend.

Hintergrund: Neoliberale Kürzungen

Die jüngste Welle der Gewalt hat ihre Ursache in der massiven Verarmung der Bevölkerung. Diese ist wiederum Folge der Kürzungs- und Privatisierungspolitik der Regierung. Dadurch stieg die Kriminalität in Rio de Janeiro im letzten Jahr enorm an. Vor allem bewaffnete Überfälle, Diebstähle und Drogenhandel nahmen stark zu.

Die politisch inszenierte „budgetäre Krise“ im Bundesstaat Rio war zuletzt so massiv, dass Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und andere öffentliche Einrichtungen schließen mussten, nachdem den Angestellten monatelang keine Gehälter mehr ausbezahlt wurden. Gleichzeitig wurden StraßenverkäuferInnen kriminalisiert, das Arbeitsrecht „liberalisiert“, soziale Beihilfen und Pensionen gekürzt.

Mit Militär gegen Kriminalität

Präsident Temer, der sich im August 2016 an die Macht geputscht hatte, reagiert mit massiver Repression auf die steigende Kriminalität. Nachdem während des vergangenen Karnevals, dem größten Fest des Landes, Bilder von Überfällen auf verängstigte TouristInnen um die Welt gingen,setzte er per Dekret den Einsatz des Militärs in Rio de Janeiro ein. Eine Maßnahme, die bereits 2016 während der olympischen Spiele erprobt wurde. Die Militärs wurden vor allem in den schwarzen Armenvierteln, den „Favelas“, stationiert. Dort dürfen sie uneingeschränkte Kontrollen der BewohnerInnen durchführen und sind überall präsent.

Kriminalität und Drogenhandel konnten damit jedoch nicht reduziert werden, ungeklärte Morde sowie „verirrte Kugeln“ töten weiterhin die wehrlosen BewohnerInnen der Armenviertel. Marielle war nicht nur eine der schärfsten KritikerInnen dieser Militarisierung, sie machte auch konkrete Fälle öffentlich. Das könnte ihr zum Verhängnis geworden sein. Drei ungeklärte Todesfälle, die sie kurz vor ihrem Tod auf Facebook publizierte, werden nun mit ihrer Ermordung in Verbindung gebracht.

#MarielleVive

In Rio und anderen Städten Brasilien kam es im Zuge mehrerer Protest- und Gedenkveranstaltungen  zu den größten Mobilisierungen seit 2013. Hunderttausende Menschen gingen in den letzten Tagen auf die Straße. Zuletzt am 2. April, als in mehr als 160 Städten Brasiliens und anderen Städten weltweit Menschen sich im Gedenken an Marielle mit Kerzen versammelten. Der zentrale Demoslogan „Marielle presente“ („Marielle ist unter uns“) verdeutlicht, wie wichtig die Verschränkung von Antirassismus und Feminismus im politischen Kampf gegen Unterdrückung ist.

Marielle steht für all jene schwarzen Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft und ihres Geschlechts für ihren sozialen Aufstieg und beruflichen Erfolg zehn Mal so viele Hürden überwinden müssen. Hinzu kommt ständige Angst vor Gewalt, extreme Armut und andere konstante Diskriminierungserfahrungen.

Feminismus und Antirassismus als Ausgangspunkt

Die Massenmobilisierungen zeigen auf, dass es vor allem Schwarze Menschen sind, die täglich sterben und die Gefängnisse Brasiliens füllen; und dass es vor allem schwarze Frauen sind, die am stärksten von Gewalt und Marginalisierung betroffen sind. Die unzähligen Plakate auf Demos, die Postings in sozialen Netzwerken und Nachrichten in Messengern wie Whatsapp zeigen, dass in Brasilien gerade ein neues Bewusstsein entsteht, das den Kampf gegen Rassismus und Sexismus zum Ausgangspunkt im Kampf gegen Armut und Unterdrückung macht.

Die Bewegung wird von Frauen, Schwarzen, Homosexuellen angeleitet und zeigt, dass Klassenzugehörigkeit sich nicht ausschließlich in der Ausbeutung durch Lohnarbeit manifestiert, sondern durch rassistische Zuschreibungen, Hautfarbe, Geschlecht und Sexualität gelebt wird. Die Klassenfrage kann zwar zentraler Bezugspunkt linker Politik sein, sie ist aber nicht der alleinige Hebel zur Solidarisierung von Menschen unterschiedlichster Unterdrückungserfahrungen. Das ist etwas, wovon wir auch in Österreich lernen können.

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