Mariana Rodrigues: „Den Kapitalismus innerhalb einer kurzen Frist beenden“

Protestierende in Portugal

In ihrem Buch „All In: A Revolutionary Theory to Stop Climate Collapse“ fordert Mariana Rodrigues eine neue globale Bewegung mit klaren Organisationsstrukturen. Max Hollweg im Gespräch mit der Aktivistin über große Ambitionen und die Pläne hinter dem Buch.

Mariana Rodrigues ist Aktivistin des antikapitalistischen Klimakollektivs CLIMAXIMO in Portugal. Gemeinsam mit ihrem Mitstreiter Sinan Eden hat sie kürzlich das Buch: „All In: A Revolutionary Theory to Stop Climate Collapse“ veröffentlicht. Ausgehend von historischen Beispielen und den eigenen politischen und aktivistischen Erfahrungen ist ein Buch mit klarer Perspektive entstanden: Es geht um den Aufbau einer globalen „Bewegung-als-Partei“ – mit einem konkreten Ziel und einer Deadline: den Kapitalismus bis 2030 abschaffen, um doch noch den Klimakollaps zu verhindern. Am 13.02. spricht Mariana auf Einladung von radius in Wien über ihr Buch. Max Hollweg hat sie vorab getroffen.

Max: Beginnen wir direkt mit der Kernaussage eures Buches. Ihr schlagt einen Plan zum Aufbau einer linken globalen Bewegung vor, die auf eine kurzfristige Revolution abzielt, richtig?

Mariana: Ja, genau das ist es. Die Argumente, die wir liefern, basieren dabei auf der internationalen Arbeit, die wir zuvor gemacht haben – also auf all den Gesprächen mit Aktivist*innen und Organizer*innen [Personen mit verstärkt koordinativen und strategischen Aufgaben im politisch-aktivistischen Kontext; Anm. Redaktion] und all den Koordinationsräumen, an denen wir beteiligt waren oder die wir geschaffen haben.

In diesen Arbeiten haben wir verstanden, dass etwas fehlt – etwas Notwendiges, das wir nicht tun. Wir müssen gemeinsam akzeptieren, dass eine riesige Aufgabe vor uns liegt: nämlich den Kapitalismus innerhalb einer kurzen Frist zu beenden. Das ist am Ende der einzig mögliche Weg, den sozialen Kollaps und Klimakollaps aufzuhalten. In diesem Sinne haben wir im Buch versucht, die Dinge zusammenzufassen, auf die wir uns als Bewegung einigen müssen, wenn wir es schaffen wollen. Und ich glaube, dass wir in der Lage sind, es zu schaffen.

Max: Ihr beginnt euer Buch aber nicht damit, was wir jetzt tun müssen. Stattdessen beschreibt ihr zunächst ausführlich die Strategien und Theorien des Wandels historischer linker Bewegungen. Ihr sprecht über eine neue Generation von Organiser*innen, die zu wenig aus historischen Beispielen gelernt haben. Was sind historische Beispiele und Ereignisse, von denen du dir wünschst, dass sie in der Bewegung besser wahrgenommen werden?

Mariana: Wir müssen aus vergangenen Revolutionen lernen. Heutzutage sehen viele von uns ihre Vergangenheit in der Arbeit von Martin Luther King, Gandhi und so weiter. Und zwar nicht aus ihren eigenen Worten, sondern daraus, wie andere ihre Geschichte erzählen. Ich sage nicht, dass sie nicht wichtig sind, aber wir können uns nicht nur auf sie konzentrieren.

Viele der neuen Generation von Organiser*innen haben den Anschluss an die vergangenen sozialen und progressiven Revolutionen sowie an den gesamten Widerstand gegen Kapitalismus und Kolonialismus verloren. Wie haben sie ihre Strategie entwickelt? Was waren ihre Ambitionen? Was waren ihre Fehler? Warum taten sie, was sie taten, in dem Kontext, in dem sie waren? Wie können wir daraus lernen? Wie können wir jetzt neue Fehler machen? Dies ist besonders wichtig, wenn wir nicht nur das tun müssen, was sie getan haben, sondern dies auf globaler Ebene tun. Wir müssen bescheiden sein und aus der Vergangenheit lernen.

Max: Welche Lehren und Gedanken aus der Vergangenheit haben dich persönlich besonders inspiriert?

Mariana: Ich glaube, es ist mehr als eine bestimmte Situation, die mich wirklich inspiriert. Es geht darum, die Geschichte zu betrachten und zu sagen: Okay, was ich jetzt tue, basiert auf dem, was all diese Menschen zuvor getan haben. Und in letzter Zeit habe ich viel von Amílcar Cabral gelesen, einem der Revolutionäre aus Guinea Bissau und Cabo Verde. Ich habe viel von ihm gelernt. Es war wirklich schön, seine Gedanken zu lesen und viele meiner Fragen und Herausforderungen in seinen Reden wiederzufinden. Das gibt mir Kraft zum Weitermachen.

Max: Apropos „weitermachen“. Ihr wollt mit einer neuen Art von Internationalismus, die in einer globalen Bewegung beginnt, weitermachen. Ihr habt dazu den konkreten Vorschlag einer koordinierten Struktur, die ihr Bewegung-als-Partei („movement-as-party“) nennt. Wollt ihr eine Partei gründen?

Mariana: Partei kann für verschiedene Menschen unterschiedliche Dinge bedeuten. Wir verstehen unter einer Partei eine Organisation mit Regeln und Prozessen für die interne Funktionsweise auf Basis einer gemeinsamen Vision für die Gesellschaft. Wir haben uns gefragt, welches Parteimodell heute gebraucht wird. Es kann nicht dasselbe sein wie früher. Wir haben neue Möglichkeiten, uns zu organisieren und mit Macht und unterschiedlichen Kulturen umzugehen. Wir müssen also unterschiedliche Strategien und organisatorische Vielfältigkeit zulassen. Wir brauchen eine globale Bewegung, die sich einer Hauptaufgabe verschreibt: nämlich wie wir aus dem Schlamassel herauskommen können. Heutzutage ist die Partei, die dazu in der Lage ist, eine Bewegung, richtig? Es geht also um die Ebene der Bewegung.

Was uns meines Erachtens in der Bewegung fehlt, ist die Vereinbarung. Was ist die Aufgabe, die wir erledigen wollen, und wie können wir uns gegenseitig Verantwortlichkeit zusichern? Wenn man also zu einer Konferenz geht und etwas ankündigt, es dann aber nicht tut, hat die Organisation in der Regel nicht das Gefühl, den anderen erklären zu müssen warum. Dabei gibt es viel zu klären: Warum hat es nicht funktioniert hat, was hat man daraus gelernt hat und was sind die nächsten Schritte? Wie können wir also mehr Verantwortlichkeit zwischen uns haben und voneinander lernen, und zwar auf eine Weise, die sich auf die Aufgabe konzentriert, die die Realität und die Natur von uns verlangt.

Max: Ihr schreibt in eurem Buch, dass eine noch nie dagewesene Kapitalvernichtung notwendig ist, die mit dem ‚Abbau aller großen Konzerne‘ einhergeht. Ihr setzt dem eine Deadline: bis 2030. Die andere Seite wird das nicht so einfach zulassen und verfügt über scheinbar endlose Ressourcen und einen militärischen Komplex, der auch mit Waffengewalt reagieren wird. Wie verankert ihr diese Bedrohung in eurer Theorie des Wandels?

Mariana: Wir befinden uns bereits in einem Kampf. Schau dir an, wie viele Menschen vom Klimawandel betroffen sind. Wie viele Menschen werden ermordet, weil sie versuchen, sich zu wehren und ihre Communities zu schützen. Es handelt sich nicht um einen neuen Kampf oder eine neue Situation. Wenn man sich all die verschiedenen historischen Beispiele anschaut, die in dem Buch angeführt werden, dann hatten sie alle unterschiedliche Organisationsformen, die unterschiedliche Strategien und unterschiedliche Mittel – einschließlich Waffen – einsetzten. Wir sagen nicht, dass die Bewegung eine große Armee werden soll. Auch in den vergangenen Beispielen gab es oft keine große Armee. Aber ja, wir brauchen verschiedene Fronten mit verschiedenen Ansätzen, und ja, die Realität ist, dass wir mit immer mehr Gewalt gegen uns alle konfrontiert sein werden – egal, wie wir handeln. Was wir also kontrollieren können, ist, wie wir ihr begegnen.

Max: Ihr sagt, dass diese neue Form der Organisierung, die euch vorschwebt, auch unser Leben radikal verändern wird. Ihr sprecht damit vor allem auch Aktivist*innen an, deren Herangehensweisen zu sehr im System gedacht seien, als dass sie eine tatsächliche Veränderung herbeiführen könnten. Kannst du kurz beschreiben, was ihr damit konkret meint?

Mariana: Wenn wir die Aufgabe annehmen, den Systemwechsel im Jahr 2030 durchzuführen, dann gibt es so viele Dinge, die sich in Bezug auf die Prioritäten, die wir haben, ändern müssen. Aber ich glaube nicht, dass es nur das ist. Wenn wir uns auch bewusst machen, was es bedeutet, in einer Klimakrise zu leben, und welche Fristen es gibt, dann allein verändert das schon unser Leben, oder? – unsere Prioritäten, Problemlösungen usw. Es ist ein bisschen wie Greta sagt: Unser Haus brennt schon. Es hat sich schon alles verändert, oder?

Ich denke also, dass die Metapher passt. Aber ich glaube nicht, dass es darum geht, dass sich mein ganzes Leben nur noch darum dreht und ich mein individuelles Leben aufgebe. Wir wollen das Leben schätzen, unsere Liebe zu den Menschen, die wir um uns haben. Man kämpft für das Leben, weil man es liebt. Aber wir müssen fokussierter sein: Es geht darum, wie wir Entscheidungen treffen, wie wir wahrnehmen, was in jedem Moment, in jeder Sitzung, in jeder Aktivität, die wir tun, wichtig ist und wie wir konzentriert bleiben bzw. worauf wir uns konzentrieren.

Wie behalten wir den Ball im Auge und was ist der Ball? Sagen wir es mal so. Ich denke, das hat sich radikal geändert – definitiv. Und, ja, für mich ist das die größte Veränderung in diesem Sinne. Und dann gibt es natürlich ein gewisses Maß an Engagement, ein gewisses Maß an – wie sage ich es auf Englisch? – ‚entrega‘, sich der Sache hingeben, richtig? Das ist notwendig.

Max: Zum Schluss: Wie geht es weiter – wie wird diese Bewegung, von der ihr sprecht, lebendig? Und was wünscht ihr euch von den Leser*innen, dass sie tun?

Mariana: Dass sie den gleichen Ehrgeiz und die gleiche Vision haben wie Che oder Amílcar Cabral. Für deine erste Frage muss man das Buch lesen: Wir geben im letzten Teil des Buches an, wie eine Bewegung zum Stoppen des Kapitalismus in kurzer Zeit zum Leben erwachen kann. Wir stellen auch verschiedene praktische und organisatorische Werkzeuge auf unserer Website bereit. Dieses Buch ist ein Diskussions- und Umsetzungsinstrument für alle Menschen, die mit ihren Augen sehen, dass eine andere Welt möglich ist, und dass es nicht darum geht, diese Aufgabe an andere zukünftige oder abstrakte Menschen zu delegieren. Es liegt an uns, sie jetzt zu verwirklichen.

*** Mariana Rodrigues spricht am 13.02. um 18.30 Uhr zu ihrem Buch „All In: A Revolutionary Theory to Stop Climate Collapse“. Ort: radius, Dornerplatz 4/1, 1170 Wien. ***

Interview & Übersetzung: Max Hollweg
Foto: Climaximo/Guillaume Vieira

Autoren

  • Mariana Rodrigues

    Mariana Rodrigues ist Gen Z, geboren in Portugal. Sie ist Organizerin und Trainerin für soziale Bewegungen, mit Erfahrung in internationalen Netzwerken, einer starken Vorliebe für Teambildung und für revolutionäre intersektionale Ansätze.

    Alle Beiträge ansehen
  • Max Hollweg

    Max Hollweg ist Aktivist und in verschiedenen (internationalen) Vernetzungen aktiv. In den letzten Jahren arbeitete er insbesondere zu den Themen Energiedemokratie, Klimagerechtigkeit und globale Solidarität. Außerdem ist er Campaigner bei Attac Österreich (derzeit in Karenz).

    Alle Beiträge ansehen
 
Nach oben scrollen