Frankreich steht kurz vor den Präsidentschaftswahlen, eine zweite Amtszeit von Emmanuel Macron ist wahrscheinlich. Julien Trevisan, Student und Aktivist bei der linkspopulistischen Partei „La France Insoumise“ spricht mit mosaik-Redakteur Fabian Hattendorf über die vergangenen fünf Jahre und die Parteienlandschaft vor den Wahlen.
Am 10. April ist in Frankreich die erste Runde der Präsidentschaftswahlen. Fünf Jahre ist Emmanuel Macron mit seinem liberalen Wahlbündnis „La République en Marche“ schon im Amt. Welche Bilanz ziehst du aus Macrons Regierungszeit?
Macrons neoliberale Politik hat knallhart in das Leben der Franzosen und Französinnen eingegriffen. Die Liste ist lang: schlechtere Arbeitsbedingungen, Schwächung der Gewerkschaften innerhalb der Unternehmen, Privatisierung der SNCF (ehemals staatliche Eisenbahngesellschaft, Anm. d. R.), Neoliberalisierung der Universitäten und Abbau des Sozialstaates durch Kürzungen bei den Wohnungsgeldern und der Arbeitslosenversicherung. Macron steht für die Rückkehr zum Gesetz des Dschungels, für den Krieg zwischen allen und jedem, für die Verrottung der republikanischen Institutionen. Die Benalla-Affäre und nun der McKinsey-Skandal sind dafür nur die Symptome.
Haben sich diese Tendenzen durch die Corona-Pandemie verschärft?
Bereits vor der Pandemie ist die Armut gestiegen, prekäre Arbeitsverhältnisse haben zugenommen und das öffentliche Gesundheitssystem stand kurz vor dem Zusammenbruch. In der Pandemie hat die Regierung beträchtliche Summen ausgegeben, um das System „koste es, was es wolle“ über Wasser zu halten. Der Großteil dieser Gelder ging an das Kapital. Dennoch wurden die sozialen Konflikte durch einmalige Zahlungen vorläufig befriedet. Diese Zeiten sind nun vorbei.
Die steigenden Preise, sei es für Grundnahrungsmittel oder Energie sowie die Kürzungen der öffentlichen Dienstleistungen treffen die Schwächsten hart. Macron hat für seine nächste Amtszeit bereits eine Austeritätspolitik angekündigt, wie von der EU für den Zeitraum 2022 bis 2027 vorhergesehen. Damit ist klar, dass die unteren Bevölkerungsschichten den Preis für das „koste es, was es wolle“ zu bezahlen haben.
Am stärksten ist der schwelende Klassenkonflikt in Frankreich während der Gelbwesten-Proteste 2018 zu Tage getreten, denen mit massiver Polizeigewalt begegnet wurde. Hat Macron die Proteste letztlich erfolgreich ausgesessen?
Das würde ich so nicht sagen. Zunächst einmal waren die Gelbwesten-Proteste eine Reaktion auf Macrons scheinheiligen Versuch, durch die höhere Besteuerung von Benzin soziale und ökologische Anliegen gegeneinander auszuspielen. Diese Maßnahme ist besonders ungerecht, da sie in erster Linie die unteren Bevölkerungsschichten trifft. Diese können nicht auf das Auto verzichten, solange die öffentlichen Verkehrsmittel so schlecht ausgebaut sind. Außerdem sind nicht sie für die katastrophale CO2-Bilanz Frankreichs verantwortlich. Das sind die großen Unternehmen und die Reichen, die mit ihren Privatflugzeugen durch die Gegend jetten, wann immer es ihnen gefällt.
Die Gelbwesten haben zum Höhepunkt der Bewegung, im Dezember 2018, eine Millionen Menschen mobilisiert. Das ist beachtlich. Zwar konnte die Bewegung am Ende ihr Ziel, die Regierung zu stürzen und alternative Institutionen aufzubauen, nicht erreichen. Das ist aber auf den Einsatz von Polizeikräften zur Unterdrückung der Bewegung und systematische Medienkampagnen gegen die Gelbwesten zurückzuführen. Immer wieder wurden sie zu Unrecht beschuldigt, antisemitisch, rassistisch und gewalttätig zu sein. Dennoch musste Macron einlenken: Er zog seine Steuerpläne zurück und musste kurzfristige Sozialmaßnahmen durchsetzen (sog. Macron-Prämien, Anm. d. Red.).
Die französische Rechte ist in Bewegung. Mit Eric Zemmour ist ein neuer ultrarechter Kandidat aufgetaucht, der in einigen Umfragen zeitweise an dritter Stelle stand. Auch die Partei der Rechtspopulistin Marine Le Pen, “Rassemblement National”, orientiert sich neu. Welche Tendenzen lassen sich erkennen?
Zemmour vereint im Wesentlichen den wirtschaftsliberalen, aber rassistischen Teil der wohlhabenden Schichten und einen Teil der unteren Schichten, die über identitäre Politik mobilisiert werden können. Er verkörpert damit den neuen identitären Pol des Neoliberalismus, der dem globalisierungsfreundlichen Neoliberalismus Macrons entgegengesetzt ist. Marine le Pen versteht ihr “Rassemblement National” als Volkspartei, bei der die soziale Frage eine viel größere Rolle spielt als bei Zemmour. Das lässt sich historisch erklären, denn das “Rassemblement National” (früher “Front National”) begann seinen Aufstieg in den 1980er Jahren parallel zum Niedergang der Kommunistischen Partei, von der viele Wähler*innen zum FN überwanderten.
Le Pen bietet also ein Programm mit einem starken identitären, aber auch sozialen Inhalt an. Trotzdem besteht aufgrund von Le Pens Herkunftsmilieu und ihrer politischen Vertrauten kein Zweifel daran, dass sie Macrons neoliberale Politik fortsetzen würde. Wenn auch zweifellos etwas sanfter. Dagegen wären dem offenen Rassismus die Tore geöffnet. Um einen zweiten Wahlgang zwischen Macron und Le Pen zu verhindern, muss die Linke den Teil der sozial eingestellten Wähler*innen von Le Pen überzeugen. Das sind die berühmten „fachés mais pas fachos“ (“wütend, aber nicht faschistisch”).
Die parlamentarische Linke in Frankreich ist dieses Jahr so zersplittert wie selten. Gleich sechs Präsidentschaftskandidat*innen von der Kommunistischen Partei bis zu den Sozialdemokrat*innen haben sich dieses Jahr aufstellen lassen. Versuche der Initiative „Primaire Populaire“, die Linke hinter einer gemeinsamen Kandidatin zu vereinen, sind gescheitert. Woran liegt diese Zersplitterung und müsste sich die Linke nicht breiter aufstellen?
Viele politischen Kommentator*innen führen das auf ein zu großes Ego der verschiedenen Kandidat*innen zurück. Natürlich haben sie ein großes Ego, das ist eine notwendige Bedingung im gegenwärtigen System, um eine Machtposition zu erlangen.
Ich glaube allerdings, dass die „linken“ Parteien auch politisch Einiges trennt. “La France Insoumise” (die Partei des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon, Anm. d. R.) verkörpert den anti-neoliberalen Pol, der für einen starken demokratischen Staat im Dienst der Bürger*innen eintritt. Sie knüpft an bestehende Bewegungen seit der Französischen Revolution an: die Montagnards, Kommunarden und Jauressianer.
Auf der anderen Seite haben wir Parteien wie die Grünen und die Sozialistische Partei, die sich vor einer deutlichen Kritik des Neoliberalismus sträuben. Die Grünen beispielsweise schaffen es nicht, die EU in ihrer jetzigen Form zu kritisieren, obwohl sie das Hauptinstrument zur Aufrechterhaltung des Neoliberalismus gegen den Willen der Völker ist, aus denen sie sich zusammensetzt. Die Sozialistische Partei ist noch schlimmer, da sie Macron zur Macht verholfen hat.
Bleibt noch die Kommunistische Partei, bei der es in der Tat sehr traurig ist, dass sie eine Kandidatin aufstellt, die uns von “La France Insoumise” gegenübersteht. Die Kommunist*innen sind unsere Genoss*innen. Zweifellos ist die Kandidatur der KPF ein Überlebensreflex der Partei. Aber sie ist auch ein Zeichen für das Scheitern des Dialogs innerhalb des anti-neoliberalen Pols. Ich bin jedoch weiterhin zutiefst davon überzeugt, dass die Bande der Brüderlichkeit wiederhergestellt werden und sich die KPF uns anschließen wird, um eine zweite Amtszeit Macrons zu verhindern und gemeinsam das Land wieder aufzubauen.
Interview: Fabian Hattendorf