„Die Öko-Bewegung kann nur mit Linkspopulismus gewinnen“ – Chantal Mouffe im Interview

Chantal Mouffe, emeritierte Professorin für politische Theorie, im Gespräch mit Florian Malzacher über die Rollen von Linkspopulismus in der Umweltbewegung, der Rechten in der Pandemie und der Kunst in politischen Strategien.

Florian Malzacher: Nur ein linker Populismus könne den Aufstieg der Rechten noch stoppen, hast du lange argumentiert. Du schlägst eine politische Strategie der leidenschaftlichen Kampagnen, klaren Aussagen und direkten Konfrontationen vor. Doch Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, Jeremy Corbyn in Großbritannien und Bernie Sanders in den USA haben allesamt Niederlagen erlitten. Ist die Zeit des Linkspopulismus vorbei?

Chantal Mouffe: Ich bin ganz und gar nicht der Meinung, dass die Zeit des Linkspopulismus vorbei ist. Oder dass es jetzt an der Zeit sei, zur traditionellen linken Politik, also zur Klassenpolitik zurückzukehren. Bei Podemos in Spanien sieht man: Die Erwartungen waren einfach zu hoch, die Hoffnung, dass sich alles sofort ändern würde. Das ist ein falsches Verständnis von Linkspopulismus. Linkspopulismus ist nicht als das zu verstehen, was Antonio Gramsci einen „Manöverkrieg“, einen schnellen Aufstand, nannte, sondern im Sinne eines „Stellungskrieges“, einer komplexen Auseinandersetzung, die Zeit braucht. Es geht um den Aufbau einer neuen Hegemonie.

Wir sehen das deutlich in Lateinamerika. Nach der „Rosa Flut“ gab es einen ziemlichen Rückschlag – aber jetzt beobachten wir in mehreren Ländern die Rückkehr der populistischen Bewegungen zur Macht. Was Europa betrifft, werden wir sehen… Aber ich bin überzeugt, dass dies die einzige Strategie ist, mit der die Linke gewinnen kann. Die einzige Art von Politik, die der aktuellen Situation entspricht.

Wie definierst du Linkspopulismus?

Es handelt sich um eine politische Strategie, bei der man im Wesentlichen drei Merkmale unterscheiden kann: Zunächst einmal muss man einen Gegner definieren. Man muss eine politische Grenze ziehen zwischen denen „unten“ und denen „oben“. Man könnte einwenden, dass dies die traditionellen Marxisten schon immer gesagt haben. Aber für einen traditionellen Marxisten verläuft diese Grenze zwischen der Arbeiterklasse und der Kapitalistenklasse. Die Interessen der Arbeiter sind wichtig, und die sozialistischen Parteien haben sie viel zu lange vernachlässigt. In unseren Gesellschaften gibt es auch viele andere wichtige Themen wie Ökologie, Feminismus, Antirassismus oder Forderungen der LGBT+-Bewegungen.

Das ist also das zweite Merkmal: Eine linkspopulistische Strategie zielt auf den Aufbau eines transversalen kollektiven Willens, in dem viele verschiedene demokratische Forderungen aus einer Vielzahl von Sektoren berücksichtigt werden. Man muss die Forderungen der Arbeiterklasse mit den Forderungen anderer sozialer Bewegungen in Einklang bringen, ein „Volk“ konstruieren. Eine Artikulation dessen ist, was Ernesto Laclau und ich in Hegemonie und radikale Demokratie eine „Äquivalenzkette“ zwischen verschiedenen demokratischen Forderungen genannt haben.

Das dritte wichtige Merkmal ist, dass bei der Konstruktion dieses kollektiven Willens die affektive Dimension, der Teil der gemeinsamen Affekte, den ich „Leidenschaften“ nenne, unbedingt berücksichtigt werden muss. Dieser kollektive Wille kann nicht allein auf der Grundlage von Argumenten und einem guten Programm entstehen. Wir müssen die entscheidende Rolle von Leidenschaft anerkennen – ich kann das nicht oft genug wiederholen. Die Linke ist viel zu rationalistisch und versteht nicht, dass richtige Ideen und eine gute Politik nicht ausreichen. Um Menschen zu begeistern und zum Handeln zu bewegen, muss man Affekte ansprechen, die mit ihren Wünschen und persönlichen Erfahrungen übereinstimmen.

Was bedeutet das für uns in dieser Zeit der Pandemie, in der alle möglichen Mobilisierungen der Rechten stattfinden?

Ich war nie davon überzeugt, dass die Pandemie ein Fenster für progressive Politik öffnen würde. Und heute bin ich eher pessimistisch. Die Pandemie hat ein starkes Bedürfnis nach Schutz geweckt. Sie schafft eine Situation, die den Rechtspopulisten zugutekommen könnte, wenn es ihnen gelingt, die Menschen davon zu überzeugen, dass ihr Schutz am besten durch einen exklusiven Nationalismus gewährleistet werden kann.

Ich befürchte, dass die Pandemie dem Neoliberalismus tatsächlich neues Leben einhauchen könnte. Einem transformierten Neoliberalismus, einem autoritären Neoliberalismus. Dieser könnte sehr wohl eine digitale Form annehmen – als ein „Screen New Deal“, wie ihn Naomi Klein beschreibt. Diejenigen, die aus dieser Pandemie gestärkt hervorgehen, sind die großen Digitalkonzerne. Und sie versprechen eine Lösung der Pandemiekrise durch Algorithmen, Gesundheits-Apps usw. Sie versuchen, uns davon zu überzeugen, dass alle unsere Probleme, auch die politischen, digital gelöst werden.

In seinem Buch To save everything, click here nennt Evgeny Morozov dies einen „technologischen Solutionismus“, der postideologische Maßnahmen befürwortet und Technologie einsetzt, um Politik zu vermeiden. Ich habe den Eindruck, dass dieser rein lösungsorientierte Diskurs unter den gegenwärtigen Bedingungen zunehmend positiv aufgenommen wird. Viele Maßnahmen, die noch vor einem Jahr mit großem Misstrauen betrachtet worden wären, werden heute weitgehend akzeptiert. Im Namen der Lösung der durch die Pandemie verursachten Probleme werden wir gezwungen, viele neue Formen der digitalen Kontrolle zu akzeptieren.

Kommen wir noch einmal auf den Aspekt der Leidenschaft zurück, denn hier kommen auch die Künste ins Spiel.

Ja, natürlich. Künstlerische Praktiken spielen eine wichtige Rolle. Das kulturelle Feld im Allgemeinen ist ein entscheidendes Terrain für die Mobilisierung von Leidenschaften. Deshalb sehe ich eine starke Verbindung zwischen linkem Populismus und kritischen künstlerischen Praktiken.

Viele Künstler sind Teil progressiver Bewegungen und sehen ihre Arbeit auch als Beitrag zu diesen Kämpfen. Welchen Beitrag kann die Kunst leisten?

Es geht darum, ein neues Imaginäres zu schaffen. Um Menschen zu mobilisieren, müssen wir ihr Begehren wecken. Für mich besteht die Rolle der Kunst in progressiven Kämpfen darin, neue Vorstellungswelten zu schaffen, mit denen sie die Menschen auf emanzipatorische Weise mobilisiert. Natürlich machen das die Künstler sehr unterschiedlich. Ich bestehe darauf, in Bezug auf künstlerische Praktiken und Ästhetik sehr pluralistisch zu sein. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass etwas, das schön ist, automatisch bürgerlich ist. Nein, das Schöne kann extrem subversiv sein. Und künstlerische Praktiken können auf viele verschiedene Arten eine politische Rolle spielen.

Vor allem ökologische Bewegungen haben oft Probleme, neue Vorstellungswelten zu schaffen. Einerseits ist die Krise sehr konkret, andererseits ist sie sehr komplex und abstrakt. So konzentriert sich ein Großteil des Imaginären auf die Darstellung der kommenden Katastrophe – nicht auf die Vorstellung von alternativen Zukünften.

Unsere größte Herausforderung ist in der Tat die ökologische Krise und die Linke muss es schaffen, die Menschen zu mobilisieren. Das kann nicht funktionieren, indem man nur Angst erzeugt. Man muss zeigen, dass es ein ökologisches Projekt gibt, das mehr Gerechtigkeit, ein besseres Leben für viele Menschen bringen könnte. Ich nenne das eine „grüne demokratische Transformation“: der ökologische Übergang als Prozess der Vertiefung der Demokratie. Diese „grüne demokratische Transformation“ adressiert das Schutzbedürfnis unserer Gesellschaft auf eine Weise, die Menschen befähigt und motiviert, anstatt sie in einen defensiven Nationalismus oder in eine passive Akzeptanz technologischer Lösungen verfallen zu lassen. Es ist ein Schutz für die Vielen, nicht für die Wenigen, der für soziale Gerechtigkeit sorgt und die Solidarität fördert.

Der Green New Deal von Alexandria Ocasio-Cortez ist ein gutes Beispiel für ein solches Projekt. Er verbindet die Reduzierung der Treibhausgasemissionen mit dem Ziel, soziale Probleme wie Ungleichheit und Rassismus zu beheben.

Künstlerische und kulturelle Praktiken können dazu beitragen, den Wunsch nach einem solchen Wandel zu schüren und Situationen zu schaffen, in denen sehr abstrakte Ideen über Ökologie auf eine andere Art und Weise begriffen werden können. Schließlich ist es der kulturelle Bereich in dem was Gramsci als „Zivilgesellschaft“ bezeichnete, in dem der common sense entsteht. Und wir brauchen dringend einen neuen common sense. Wir müssen ein neues soziales Imaginäres rund um eine grüne demokratische Transformation schaffen.

Das Gespräch entstand im Zusammenhang der brut-Reihe „Gesellschaftsspiele. The Art of Assembly“, kuratiert von Florian Malzacher. Infos dazu findet ihr hier.

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