Warum Saudi-Arabien den Ministerpräsidenten des Libanon zum Rücktritt gezwungen hat

Anfang November trat der libanesische Ministerpräsidenten Saad Hariri von seinem Amt zurück. Das tat er aber nicht in seinem Land, sondern in Saudi-Arabien. Inzwischen ist klar, dass Hariri vom saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman dazu gezwungen wurde, Hariri hat seinen Rücktritt im Libanon wieder zurückgenommen. Was steckt hinter dieser sonderbaren Episode? Ramin Taghian sprach darüber mit dem Politikwissenschaftler Helmut Krieger, der zum arabischen Raum arbeitet und gerade ein Buch dazu herausgegeben hat.

Der libanesische Ministerpräsident Saad Hariri wurde in Saudi-Arabien zum Rücktritt gezwungen. Warum wurde gerade jetzt der Libanon zum Schauplatz saudischer Einflussnahme?

Man darf Innenpolitik und Außenpolitik nicht als sauber getrennte Politikfelder verstehen. Aktuell zeichnet sich ein militärischer Sieg des syrischen Regimes im Syrien-Krieg ab. Der Begriff ‚militärischer Sieg‘ klingt brutal und ist es auch: Er bedeutet hunderttausende Tote, millionenfach vertriebene Menschen und die systematische Zerstörung des Landes.

Der Krieg in Syrien ist ein internationaler Krieg. Auf militärischer Ebene hat sich eine Achse aus Russland, Iran und Syrien durchgesetzt, mit der die libanesische Hisbollah verbündet ist. Der Kriegsverlauf in Syrien bedeutet, dass der Iran seine Einflusszonen im arabischen Raum ausgeweitet hat.

Das hat enorme Konsequenzen für den Libanon. Lange Zeit drohte das Land selbst direkt in den Krieg verwickelt zu werden. Aber letztendlich haben sich die verschiedenen politischen Fraktionen – vor allem die Hisbollah und der Block um Ministerpräsident Hariri – auf einen Kompromiss geeinigt.  Dieser politische Kompromiss sorgte dafür, dass das Land nicht im Krieg unterging. Die Hisbollah dient dabei als militärischer Schutzschirm für das Land, denn die libanesische Armee ist trotz Unterstützung durch die USA viel zu schwach dafür.

Das bedeutet jedoch, dass sich die politischen Kräfteverhältnisse zugunsten der Hisbollah verschieben. Geht man von dieser Einschätzung aus, klingt die Rechtfertigung von Hariri für seinen Rücktritt einfach nur absurd. Zu behaupten, sein Leben sei durch die Hisbollah und den Iran gefährdet, ist schlichtweg an den Haaren herbeigezogen.

Das war der Grund, den Hariri in seiner erzwungenen Rücktrittsrede in Saudi-Arabien angab. Er ist also nicht plausibel?

Das zeigt nur, wie schlecht die Fraktion um den saudischen Kronprinzen Reden schreiben kann. Weder der Iran noch die Hisbollah haben auch nur das geringste Interesse daran, Hariri als Ministerpräsidenten loszuwerden. Im Gegenteil: Der politische Kompromiss im Libanon ermöglichte es der Hisbollah, eigene Kräfte für den Krieg in Syrien abzustellen und zugleich an politischem Gewicht im Libanon zu gewinnen.

Exakt dieser politische Kompromiss zwischen den verschiedenen Machtblöcken im Libanon, zusammen mit dem Kriegsverlauf in Syrien, wird von der Fraktion um den saudischen Kronprinzen als Bedrohung ihrer regionalen Machtposition aufgefasst. Daher musste Hariri dazu gezwungen werden, eben diesen Kompromiss im Libanon zu beenden. Es soll also eine weitere Kriegsfront eröffnet werden. Dadurch hofft Saudi-Arabien, seine regionale Machtstellung zumindest ein Stück weit wieder zu erlangen.

Was ist der Hintergrund für diese Strategie in Saudi Arabien?

Die erzwungene Rücktrittserklärung von Hariri hat eine Machtverschiebung im saudi-arabischen Staat offengelegt. Nur wenige Stunden vor Hariris Rücktritt wurden verschiedene Mitglieder der Königsfamilie unter dem Vorwand der Korruption verhaftet – ganz so, als wäre Korruption in einem Staat wie Saudi Arabien nur eine persönliche Verfehlung und keine systemische Frage.

Die Verhaftungen markieren eine Verengung des Machtzentrums um den Kronprinzen Mohammed bin Salman, dessen Vater Salman bin Abdulaziz Al Saud bald als König abtreten wird. Das mag dessen Position kurzfristig gefestigt haben, kann jedoch längerfristig seine Schwächung bedeuten. Denn der traditionelle Weg des Ausgleichs zwischen verschiedenen Machtfraktionen zur Stabilisierung der gesamten Herrschaftsarchitektur in Saudi Arabien ist damit de facto beendet worden. Mit dieser Zuspitzung wird sich zweifellos eine interne Opposition innerhalb des herrschenden Machtblocks mit Unterstützung eines Teils der reaktionären sunnitischen Ulama (‚Rechtsgelehrte‘ des Islam, Anm.) formieren.

Warum ist es überhaupt zu einer derartigen innenpolitischen Verschärfung in Saudi-Arabien gekommen?

Manche KommentatorInnen verweisen auf die Unerfahrenheit und den impulsiven Charakter des Kronprinzen Mohammed bin Salman. Das greift zu kurz. Das jetzige Zentrum um den Kronprinzen versammelt die am stärksten militaristische Fraktion. Sie glaubt, eine hegemoniale Position Saudi-Arabiens im gesamten arabischen Raum könne nur mehr über Krieg hergestellt werden. Dabei richtet sie sich gegen den als Hauptfeind inszenierten Iran.

Das ist  die Konsequenz, die diese Fraktion aus den Entwicklungen seit den arabischen Revolten von 2011 gezogen hat. Dazu gehört auch die Intervention Saud- Arabiens in den Krieg in Syrien. Saudi-Arabien wollte das syrische Regime stürzen und damit die eigene Machtposition im arabischen Raum stabilisieren. Das ist gescheitert. Auch die Bombenangriffe und Hungerblockaden gegenüber der Bevölkerung im Jemen oder die Versuche, Katar politisch und ökonomisch zu neutralisieren, sind Teil dieser Strategie der Zuspitzung.

Dahinter steht die Logik: Wenn regionale Zonen des Einflusses und der Macht weiter verloren gehen, steht mittelfristig die Existenz des saudischen Staates selbst grundlegend in Frage – und das ist mit allen Mitteln zu verhindern.

Kurz gesagt: Von dieser Herrschaftsfraktion in Saudi-Arabien ist das Schlimmste zu befürchten. Das Machtzentrum um Mohammed bin Salman ist panisch, zudem gibt es tiefe soziale Spannungen im Land selbst.

Du spielst damit auf die sogenannte schiitische Minderheit im eigenen Land an.

Ja. Gerade die marginalisierte Minderheit im Osten des Landes wird leider vielfach als ‚fünfte Kolonne‘ wahrgenommen, über die sich Irans Einfluss vermeintlich bis ins Innere des Landes erstreckt.

Diese Minderheit lebt in den großen Ölfördergebieten des Landes. Was das an umfassenden Problemen bedeuten kann, hat der Staat bereits in den großen Arbeitskämpfen der 1950er und 1960er Jahre in der Ölindustrie im Osten des Landes erfahren.

Was folgt nun Deiner Meinung nach aus dem kurzfristigen Rücktritt von Hariri? Er selbst hat ihn ja nach seiner Ankunft im Libanon wieder zurückgenommen.

Die verschiedenen politischen Fraktionen im Libanon haben den Rücktritt Hariris einfach nicht akzeptiert. Auf diese Linie ist auch Frankreich eingeschwenkt. Frankreichs Präsident Macron hat Hariri Mitte November in Paris bewusst als amtierenden Ministerpräsidenten begrüßt.

Mit der Nichtanerkennung des Rücktritts haben die verschiedenen politischen Fraktionen innerhalb Libanons den politischen Kompromiss formell aufrechterhalten und zugleich versucht, Saudi-Arabiens Zwangsmaßnahme zu unterlaufen.

Für Hariri ist die Situation eine gefährliche Gratwanderung: Einerseits weiß er, dass bei einem endgültigen Rücktritt ein Krieg gegen den Libanon wahrscheinlicher wird. Andererseits ist ihm klar, dass er mit umfassenden persönlichen, familiären und wirtschaftlichen Konsequenzen zu rechnen hat, wenn er sich dem Druck Saudi-Arabiens nicht beugt.

Denn wir müssen grundsätzlich folgendes mitdenken: Saudi-Arabiens Druck bedeutet nicht einfach, dass Hariri abdankt und das war es dann. Der erzwungene Rücktritt soll den Kompromiss im Libanon aufbrechen und zu einer politischen Isolierung der Hisbollah führen. Dies wiederum wird von der militaristischen Fraktion um den saudischen Kronprinzen als Voraussetzung dafür gesehen, die Hisbollah militärisch zu bekämpfen.

An diesem Punkt schließt sich langsam der Kreis von geopolitischen Konflikten und Allianzen im arabischen Raum. Wenn wir die Geschichte der israelischen Kriege im Libanon sowie die konfrontative Stellung zwischen Hisbollah und Israel mit einbeziehen, lässt sich das Vorgehen Saudi-Arabiens auch als aktive politische Unterstützung eines weiteren israelischen Krieges gegen die Hisbollah verstehen. Nichts weniger als das wünscht sich das neue Machtzentrum um den saudischen Kronprinzen.

Du meinst also, dass ein neuer Krieg Israels gegen den Libanon wahrscheinlich ist?

In Israel gibt schon lange die Diskussion um einen als unvermeidlich verstandenen Krieg gegen die Hisbollah. Genau genommen seit dem letzten israelischen Angriff auf den Libanon im Jahr 2006. Im Kern geht es dabei um die militärische Eindämmung der Hisbollah, um – so die offizielle Position Israels – den Einfluss Irans im arabischen Raum zurückdrängen zu können. In den Monaten vor dem Rücktritt Hariris hat diese Diskussion wieder an Fahrt aufgenommen.

Die Hisbollah kann nach einem Ende der Kriegshandlungen in Syrien ihre Einheiten mit den Rückkehrern weiter verstärken. Der Machtblock in Israel will verhindern, dass die Hisbollah noch stärker wird und überlegt deshalb einen Angriff auf den Libanon in näherer Zukunft. Mit der politischen Unterstützung durch Saudi-Arabien könnte ein Angriffskrieg Israels gegen den Libanon auch im arabischen Raum diplomatisch abgesichert werden.

Damit beginnen sich also grundlegende politische Linien der Regionalmächte Saudi-Arabien und Israel miteinander zu verschränken.

Was aktuell gegen einen derartigen Krieg spricht, ist die Position Russlands, das die Ausdehnung der Kriegszone auf den Libanon zumindest bis zum Ende des Krieges in Syrien ablehnt. Russland hat die militärischen Kapazitäten in Syrien, zu befürchtende, massenhafte Bombenangriffe der israelischen Luftwaffe auf den Libanon effektiv zu stören. Das heißt, hier ginge es nicht nur um eine politisch-diplomatische Verurteilung eines israelischen Angriffs. Offen ist für mich allerdings, wie sich Russland nach einer weitgehenden militärischen Beruhigung der Lage in Syrien positionieren wird.

 

Der von Helmut Krieger herausgegebene Sammelband „Krise, Krieg und Revolte in der arabischen Welt“ ist gerade im Verlag Westfälisches Dampfboot erschienen.

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