Warum LGBTIQ*-Organisationen vom türkis-grünen Regierungsprogramm enttäuscht sind

Drei Jahrzehnte lang hat sich die ÖVP als Regierungspartei konsequent gegen jegliche rechtliche Verbesserung für LGBTIQ*-Personen in Österreich gestellt. Die Hoffnung, dass sich das mit einem grünen Koalitionspartner ändern würde, war groß. Die späteren Enttäuschungen über das türkis-grüne Regierungsprogramm auch, schreibt Paul Haller.

Ungewöhnlich scharf kritisieren LGBTIQ*-Organisationen nun seit Wochen das fehlende Bekenntnis zu langjährigen politischen Forderungen wie der Ausweitung des Diskriminierungs-Schutzes („Levelling-Up“) oder dem Schutz vor geschlechtsnormierenden medizinischen Eingriffen an intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen, die gesundheitlich nicht notwendig sind.

Grüne „Leuchttürme“

„LGBTI“ kommt als Begriff im 328-seitigen Regierungsprogramm ein einziges Mal vor – in der Außenpolitik. Dort will Türkis-Grün den „Kampf gegen die Verfolgung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität“ aufnehmen und sich für die Umsetzung der LGBTI-Guidelines für die EU-Außenpolitik einsetzen. Keine revolutionären Forderungen, sondern ein Festschreiben des Status Quo.

Selbst die Grünen müssen sich schwer getan haben, ihre so genannten „Leuchttürme“ in der LGBTIQ*-Politik aus dem Regierungsprogramm herauszufiltern. Das Ergebnis ist eine ernüchternde Ansammlung von Schlagwörtern, wie die Menschenrechtsorganisation HOSI Salzburg kritisiert. So meint das Grüne Leuchtturmprojekt „Personenstandsfreiheit für intergeschlechtliche Menschen“ lediglich die Umsetzung einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) aus dem Jahr 2018. Ist die Umsetzung einer VfGH-Entscheidung wirklich schon ein Leuchtturmprojekt oder nicht doch eine rechtsstaatliche Mindestanforderung? Hinzu kommt, dass die betreffende VfGH-Entscheidung bereits durch den damaligen Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) umgesetzt wurde. Ziel müsste es sein, die Fehler dieser katastrophalen Umsetzung zu beheben. Davon ist im Regierungsprogramm aber nicht die Rede.

Frauenministerin erteilt Absage an „Levelling-Up“

Eine weitere zentrale Forderung von LGBTIQ*-Organisationen ist die Ausweitung des Diskriminierungsschutzes aufgrund der sexuellen Orientierung („Levelling-Up“). Bis heute gibt es eine Ungleichbehandlung in der Anti-Diskriminierungs-Gesetzgebung. Während Menschen beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen nicht wegen Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit diskriminiert werden dürfen, fehlt dieser Schutz für die Merkmale Religion oder Weltanschauung, Alter und sexuelle Orientierung. Wenn zum Beispiel zwei lesbische Frauen aus einem Kaffeehaus verwiesen werden, bloß weil sie lesbisch sind, fehlt ihnen somit der rechtliche Schutz vor Diskriminierung.

Die Grünen bewerben die „Ausweitung der Antidiskriminierung“ als einen weiteren Leuchtturm ihrer Regierungsbeteiligung. Im Interview mit dem Standard erteilte Frauenministerin Susanne Raab (ÖVP) dem Levelling-Up aber eine Absage.

Abschaffung der unabhängigen Rechtsberatung

Besorgniserregend und menschenrechtlich unbegreiflich ist der türkis-grüne Kurs in der Asylpolitik. Es war ursprünglich eine Idee der FPÖ, die Asyl-Rechtsberatung durch unabhängige NGOs auszuhebeln und durch eine sogenannte „Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen“ (BBU) zu ersetzen. Türkis-Grün führt diesen Kurs nun fort und schreibt die Bundesagentur mit „den Tätigkeitsfeldern Grundversorgung, Rechtsberatung, Rückkehrberatung, Dolmetscherleistungen“ und „Menschenrechtsbeobachtung“ im Regierungsprogramm fest.

Eine verstaatlichte Rechtsberatung, die dem Innenministerium unterstellt ist, ist allerdings weisungsgebunden und kann daher niemals eine unabhängige Rechtsberatung ersetzen. „Vereinfacht ausgedrückt ist die gleiche Behörde für die Entscheidung und deren rechtliche Bekämpfung zuständig. Das ist eine rechtsstaatlich sehr bedenkliche Konstruktion, die europaweit ohne Beispiel ist“, erklärt Lina Čenić vom Diakonie Flüchtlingsdienst im Salzburger Menschenrechtsbericht. Derzeit werden laut Čenić über 40 Prozent der erstinstanzlichen Asylentscheidungen nach Beschwerde behoben oder korrigiert. Diese Zahl ist Sebastian Kurz ein Dorn im Auge, während die Grünen in der Asylpolitik sehr leise geworden sind.

Queer Refugees

LGBTIQ*-Menschen sind im Asylverfahren eine besonders vulnerable Gruppe. Die Erfahrungen, die sie in ihren Herkunftsländern machen mussten, sind oft grauenvoll. Aber auch in großen Asylunterkünften in Österreich sind sie besonders stark von Gewalt betroffen, müssen ihr LGBTIQ*-Sein verstecken – wenn sie können – und leben zum Teil in ständiger Angst. Das alles hat nicht nur negative Auswirkungen auf ihre Gesundheit, sondern erschwert auch den Zugang zu einem fairen Asylverfahren. LGBTIQ*-Organisationen arbeiten in der Regel über einen langen Zeitraum mit geflüchteten Menschen, die sich an sie wenden. Sie sind dabei auf die Zusammenarbeit mit unabhängigen Rechtsberatungen angewiesen, zu deren Aufgaben es gehört, fehlerhafte Asyl-Bescheide zu bekämpfen. Wie absurd diese Bescheide sein können, zeigen Recherchen der letzten Jahre.

Laut Regierungsprogramm soll die Qualität von erstinstanzlichen Entscheidungen durch Schulungen der Beamt*innen verbessert werden. Dabei sind Module zum „Umgang mit besonders vulnerablen Gruppen“ vorgesehen. Es bleibt zu hoffen, dass LGBTIQ*-Themen nicht unter den Tisch fallen, denn hier sind Fortbildungen und Sensibilisierung dringend notwendig. Wenn fachliche Kompetenz fehlt, wird im Asylverfahren nicht selten auf eigene Bilder und Vorurteile zurückgegriffen. Wie verhält sich ein Schwuler, wie spricht er, was zieht er an? Das darf nicht die Basis für Asylentscheide sein, bei denen es im wahrsten Sinne um Leben oder Tod geht.

Zivilgesellschaftlicher Widerstand

Die Grünen setzen in der LGBTIQ*-Politik ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel und werden derzeit in Menschenrechtsfragen von der ÖVP vor sich hergetrieben. Zugleich haben sie mit dem Justiz- und Gesundheitsministerium zentrale Ressorts, die sie nutzen können – zum Beispiel für den umfassenden Schutz von intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen bzw. Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale vor geschlechtsnormierenden medizinischen Eingriffen, die als Menschenrechtsverletzungen abzulehnen sind. Nichtsdestotrotz ist zivilgesellschaftlicher Widerstand unter Türkis-Grün für eine Menschenrechts-, Anti-Diskriminierungs- und Asylpolitik, die den Namen verdient, notwendiger denn je.

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