Österreich ist seit den Präsidentschaftswahlen ein gespaltenes Land. Zumindest, wenn man Medienberichten und Sonntagsreden von PolitikerInnen glaubt. Hans Asenbaum fordert dazu auf, sich das Streiten nicht verbieten zu lassen. Nur so können gesellschaftliche Ungleichheiten wie der Reichtum einiger Weniger überwunden werden.
Seit den Präsidentschaftswahlen ist die Rede von einem gespaltenen Österreich. Das Land sei in zwei Lager geteilt: die besser gebildeten, optimistischen Van-der-Bellen-WählerInnen und die bildungsfernen, pessimistischen Hofer-WählerInnen. Schon vor der Stichwahl wurde vor einem „Lagerwahlkampf“ gewarnt. Nach der Wahl müssen diese „Gräben zugeschütten“ und „Brücken gebaut“ werden.
Nennen wir Ungleichheiten beim Namen!
Medien beschwören die Schreckgespenster der blutigen Auseinandersetzungen zwischen der faschistischen Heimwehr und dem sozialistischen Schutzbund der Zwischenkriegszeit herauf. Tatsächlich gehen solche Untergangsszenarien vielen Menschen nah. Finanz-, Euro- und Flüchtlingskrise tragen dazu bei, dass wir die sozialen Umbrüche, in denen wir uns zweifellos befinden, deutlicher wahrnehmen.
Umso wichtiger ist es aber, dass eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Problemlagen nicht verboten wird. Denn Demokratie bedeutet Vielfalt! Vielfalt an Meinungen und Identitäten darf nicht im Namen des gesellschaftlichen Friedens und Zusammenhalts unterdrückt werden, da sonst der Status Quo der dramatischen kapitalistischen Ungleichheit erhalten bleibt. Wir müssen „die da oben“ und „die da unten“ klar benennen und dürfen auch vor verbalen Auseinandersetzungen nicht zurückschrecken. Nur so ist Fortschritt möglich.
Sozialer Frieden und Theaterdonner
Österreich streitet nicht gerne – jedenfalls nicht in der Zweiten Republik. Aus den blutigen Erfahrungen der Ersten Republik und dem Zweiten Weltkrieg hatte man gelernt, sich von Auseinandersetzungen fern zu halten. Die beiden Großparteien mitsamt Gewerkschaften, Verbänden und Kammern schmiedeten eine Allianz des sozialen Friedens. Die entstandene Koalition beschwor einen Konsens, der die Bruchlinie zwischen Kapital und Arbeit zudeckte. Streit fand zwar weiterhin statt, dieser war aber eher ein Theaterdonner, der dazu diente, Klassenkonflikte zu inszenieren, um alte Ideologien am Leben zu erhalten und zu mobilisieren.
Den Um- und Aufbrüchen der 60er- und 70er-Jahre hielt dieses Herrschaftsbündnis Stand. Erst durch den aufsteigenden Neoliberalismus der 80er begann der Konsens zu bröseln. Die sogenannten „GlobalisierungsverliererInnen“ verhalfen der FPÖ ab 1986 zum Aufstieg. Andere GlobalisierungskritikerInnen mit besseren Bildungschancen und mehr finanziellen Ressourcen trugen zum – wenn auch um einiges bescheideneren – Aufstieg der Grünen bei. Heute – genau dreißig Jahre später – stehen diese neuen Bruchlinien zwischen grün und blau im Zentrum der öffentlichen Debatte. Hegemonie und Konsens bröseln und wanken.
Der gewaltige Umbruch im österreichischen Parteiensystem kündigte sich bereits mit der schwarz-blau/orangen Koalition ab 2001 an. Mit den darauffolgenden immer kleiner werdenden großen Koalitionen schien alles wieder beim Alten zu sein. Das war es aber nicht. Durch die Neoliberalisierung Österreichs unter der ersten rechten Koalition in der Zweiten Republik und durch die anhaltenden Trends einer „wettbewerbsfähigen“ Wirtschaftspolitik, Reallohneinbußen und schließlich der Wirtschaftskrise ab 2008 wurde die rot-schwarze Regierung immer unbeliebter und die xenophobe Politik der FPÖ gewann wieder an Zuspruch.
Die Koalitionsparteien unter Gusenbauer und Molterer und später unter Faymann und Spindelegger/Mitterlehner versuchten sich zu profilieren. Doch die Handlungsspielräume waren von Neoliberalismus und Postdemokratie – und in praktischeren Begriffen: durch die EU-Mitgliedschaft und die Einbettung in Weltmärkte – verengt. Inhaltliche Auseinandersetzungen wurden nun nicht mehr als legitim und notwendig erachtet, sondern als Streit, der Reformen im Weg steht.
Streiten – etwas für dumme Kinder?
„Streit“ ist das neue „Pfui“-Wort disziplinierender Mediendiskurse. Streiten tun nur dumme Kinder. Streiten ist irrational und von Emotionen geleitet. Streit dient nur den Eigeninteressen und führt zum Stillstand. „Stillstand“ ist übrigens das zweite „Pfui“-Wort eines Disziplinierungsdiskurses, der die Überwindung der ideologischen Auseinandersetzung und damit die Überwindung von Ideologie selbst fordert. „Reform“ ist das Zauberwort – das Gegenmittel gegen Stillstand. Die Bevölkerung hat deshalb „vom Streit die Nase voll“, weil Medien den Streit für sozialen Abstieg verantwortlich machen. Es ist aber nicht die ideologische Auseinandersetzung, die Abstieg befördert, sondern neoliberale Politik!
Der neue Zusammenhalt in der Koalition, der durch Christian Kern als neuer Bundeskanzler hergestellt wird, kann erst mal die Medien befriedigen. Endlich Reformen! Was der Inhalt dieser Reformen sein wird, ist dabei jedoch völlig unklar. Wenn die Medien aufhören zu vermitteln, dass der Streit für die prekäre Situation der Menschen verantwortlich ist, dann gewinnen vielleicht die Koalitionsparteien wieder an Zuspruch und die FPÖ verliert. Um so mehr müssen wir uns erlauben, für unsere Anliegen zu streiten! Sozialer und demokratischer Fortschritt braucht Protest!
Streiten wir für eine bessere Gesellschaft!
Soziale Ungleichheit darf nicht des guten gesellschaftlichen Klimas wegen tabuisiert, sondern muss ins Zentrum öffentlicher Debatten gerückt werden. Rassismus, Sexismus und Homophobie müssen thematisiert und diskutiert werden. Ich finde nicht, dass man Weltanschauungen und Meinungen bekämpfen kann – diesbezügliche Aggressionsbekundungen richten sich oft gegen die Menschen, die diese Meinungen vertreten. Da diese Menschen aber in den allermeisten Fällen Opfer des Systems sind, geht es aus meiner Perspektive darum, diskriminierende Haltungen kritisch und argumentativ zu hinterfragen, zu überzeugen, zu diskutieren und – ja – zu streiten!
Zum Streiten gehört aber auch eine Streitkultur. Auch wenn dieses Wort – jedenfalls in meinen Ohren – konservativ klingt, so soll es hier darauf hinweisen, dass wir das Gegenüber in einer inhaltlichen Auseinandersetzung nicht dämonisieren sollten. Besonders im Internet fällt das oft schwer. Die Distanz, die Unbekanntheit des Gegenübers und die zu Missverständnissen führende verkürzte Ausdrucksform enthemmen und lassen Aggressionen schnell eskalieren. Es ist wichtig, sich die Nachteile digitaler Kommunikation vor Augen zu führen, sich aber auch der Möglichkeit der Vernetzung und der Kommunikation mit Andersdenkenden nicht zu entziehen. Respektvoller Umgang mit anderen Menschen gehört zu einer produktiven Streitkultur, die zu demokratischem Pluralismus beiträgt.
Um die neoliberale Hegemonie zu brechen, braucht es kontroverse Diskussionen und bunte Proteste. Dissens ist ein wesentlicher Bestandteil von Demokratie. Deshalb: Lasst uns für eine demokratische, soziale und solidarische Gesellschaft streiten!
Hans Asenbaum ist Politikwissenschaftler am Centre for the Study of Democracy an der University of Westminster in London.