Die Krisen der letzten Jahre machten die lange bestehenden Schwachstellen im globalen Lebensmittelsystem sichtbar. Das Projekt La Vía Campesina setzt auf eine radikale Alternative, bei der Menschen und Umwelt im Fokus stehen.
Lebensmittelkonzerne und internationale Handelsorganisationen haben in den letzten Jahrzehnten das Bild verfestigt, dass der globale Hunger ausschließlich durch erhöhte Produktion bekämpft werden kann. Die Lebensmittelherstellung steigt seit den 1990er Jahren, sogar schneller als das Bevölkerungswachstum. Der globale Hunger nimmt seit 2017 allerdings wieder kontinuierlich zu. Lebensmittelverschwendung und ernährungsbedingte Krankheiten sind mittlerweile zu einem ernsthaften Problem geworden. Zudem warnen Wissenschaftler*innen seit Jahrzehnten, dass Extremwetter wie Überflutungen, Dürren und Hitzewellen zunehmen werden und damit die Herstellung beeinträchtigen. Großkonzerne bleiben dennoch bei ihrer Produktionssteigerungsideologie und sehen in den Entwicklungen der Klimaforschung sogar ein lukratives Businessmodell. Sie versprechen durch den Einsatz von Pestiziden, Gentechnik und moderner Technologie dagegenwirken zu können.
La Vía Campesina sieht genau in diesen Lösungsvorschlägen das Problem. Sie setzen bei den Wurzeln an und fordern ein demokratisches Lebensmittelsystem, in dem die Machtverhältnisse in Angriff genommen werden. Die Bewegung orientiert sich an den Menschenrechten und klärt über diese sogenannten falschen Lösungen auf. Sie sehen das Problem im Kapitalismus und den damit einhergehenden Privatisierungen und in den Marktliberalisierungen, die seit der Öffnung zum Freihandel durch die WTO 1995 zu beispielloser Marktkonzentration geführt haben.
Kleinbäuer*innen werden systematisch verdrängt und kriminalisiert. Emissionen in der Landwirtschaft steigen rasant, während die Biodiversität schwindet und prekäre Arbeitsbedingungen entlang der Lieferketten herrschen. La Vía Campesina versammelt Menschen rund um die Welt, die unter diesen Entwicklungen leiden, sich wehren und solidarisch dagegen mobilisieren wollen. Doch wie kam es dazu, dass Kleinbäuer*innen, die sich gegen die Konsequenzen der kapitalistischen Globalisierung im Ernährungsbereich zusammengetan haben, nun auf eine globale Solidarisierung angewiesen sind, um ihre Lebensgrundlage zu sichern?
Globalisierte Abhängigkeit
Die Landwirtschaft hat seit jeher einen besonderen Status. Ohne die Erzeugung von Überschüssen wäre es unmöglich gewesen, außerhalb der Landwirtschaft zu arbeiten und Städte zu entwickeln. Im modernen Kapitalismus ist die Verfügbarkeit von günstigen Lebensmitteln zentral, um Arbeiter*innen zu versorgen und urbane Widerstände zu vermeiden. Industrienationen haben früh erkannt, dass sie ihre Landwirtschaft unterstützen und schützen müssen, um Profite durch Handel und Export erzielen zu können. Während der Kolonialzeit hat die Ausbeutung von Land und Menschen einigen Staaten zum Imperium verholfen.
Seit Anfang des 20. Jahrhunderts haben europäische Staaten Kredit- und Finanzinstitutionen errichtet, um ihre landwirtschaftlichen Handelswaren zu subventionieren und rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen, die private Finanzakteure in ihrem Einfluss auf den landwirtschaftlichen Warenhandel einschränken. Diese Praktiken haben sich schnell in den Vereinigten Staaten und Kanada verbreitet. Infolgedessen florierte der Handel mit Agrarrohstoffen, da die subventionierten Getreideüberschüsse aus diesen Ländern in die ganze Welt verschifft wurden. Die Vorherrschaft des Markts hat sich auf den amerikanischen Kontinent verschoben.
Durch globale Kooperationsabkommen und Nahrungsmittelhilfeprogramme garantierten die USA den Absatz ihrer Überschüsse. Viele Länder, die gerade ihre Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft erlangt haben, gerieten somit wieder in eine Abhängigkeit, da ihre Landwirt*innen nicht mit den künstlich verbilligten Waren konkurrieren konnten. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Maximierung der Effizienz zum Mantra in der landwirtschaftlichen Produktion und im Vertrieb geworden. Um die Versorgung einer wachsenden Bevölkerung mit Lebensmitteln sicherzustellen, entstand ein globales Lebensmittelsystem, das durch industrielle Produktion, Spezialisierung und komplexe globale Lebensmittellieferketten, die von privaten Konzernen geführt werden, gekennzeichnet ist. Die Regelungen, die private Finanzakteure in ihren Spekulationen mit landwirtschaftlichen Gütern eingeschränkt hat, wurden gelockert oder komplett abgeschafft. In Verbindung mit der Entwicklung neuer Finanzinstrumente in den frühen 2000ern ermöglichte dies eine Firmenkonzentration am internationalen Markt, die vorher nicht möglich gewesen wäre.
Die Grenzen der Versorgung
Rund 30 Jahre nach dieser Marktöffnung hat sich das globale Ernährungssystem zum Oligopol entwickelt: wenige, riesige Konzerne bedienen die weltweite Nachfrage. Während die Menge der produzierten Lebensmittel global kontinuierlich ansteigt, sinkt die unabhängige Lebensmittelversorgung einzelner Länder. Immer größer werdende Agrarbetriebe in Industriestaaten erzielen Rekorderträge durch Monokulturen, hohen Pestizideinsatz, prekäre Arbeitsbedingungen und den Einsatz teurer Technologie zur digitalen Datenerfassung und Ausmessung. Das Paradoxe daran: trotz Rekordmengen an Lebensmitteln wächst der globale Hunger wieder in den letzten Jahren. Unterdessen steigen ernährungsbedingte Krankheiten wie Fettleibigkeit, Diabetes Typ-2 sowie Herz-Kreislauferkrankungen. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind in vielen Ländern der Welt explodiert und die Zahl der Menschen, die auf Lebensmittelspenden angewiesen sind, steigt. Gleichzeitig ist die globale Lebensmittelindustrie für mehr als ein Drittel der global emittierten Treibhausgase verantwortlich.
Dieser Missstand in der Lebensmittelversorgung hat 1993 zur Gründung der Bewegung La Vía Campesina geführt. Sie fordern ein demokratisches Ernährungssystem, das auf den Prinzipien der Ernährungssouveränität und der Agrarökologie basiert. Das bedeutet, dass systemische Fragen der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit adressiert werden. Die Bewegung fordert dafür, dass die Rechte zur Nutzung und Bewirtschaftung von Land, Gewässern, Saatgut, Vieh sowie biologischer Vielfalt bei den Lebensmittelproduzent*innen liegt und somit selbstbestimmt und kulturell angemessen ist. Marginalisierte Gruppen werden aktiv eingebunden, ihre Kämpfe sichtbar gemacht und ihre Rechte beansprucht. La Vía Campesina zeigt damit die Zusammenhänge der kapitalistischen Ausbeutung und die damit einhergehenden umfassenden Schäden auf. Von Hunger über ungleichen Zugang zu Gesundheit bis zur verschmutzten Umwelt.
Ein neuer Weg
Das meist gebrachte Argument gegen ein antikapitalistisches und demokratisches Ernährungssystem ist, dass das utopisch sei. Das sollte jedoch kein Grund dafür sein, einem Versuch für Veränderung keine Chance zu geben. Was treibt uns Menschen an, wenn nicht der Wunsch nach verbesserter Lebensqualität? Im Kapitalismus: Geld. Jedoch sollte das nicht unsere Vorstellungskraft von einem anderen und gerechteren System beeinträchtigen. Um tatsächlich gerecht zu sein, muss diese Utopie die Wurzel der ungleichen Machtverteilung packen und demnach die Klassenfrage beinhalten. La Vía Campesina macht es vor: das Konzept der Ernährungssouveränität entstand aus der Notwendigkeit heraus, die multiplen Krisen unserer Zeit anzugehen. Das kann nicht funktionieren, wenn die profitorientierten Ansprüche der Konzerne und Weltmärkte Priorität über die Wünsche und Bedürfnisse derjenigen haben, die die Lebensmittel herstellen, vertreiben und konsumieren.
Der erste Schritt zur Durchsetzung ist die Vorstellung. Das langfristige Mittel ist die Selbstorganisierung. La Vía Campesina ist mehr als eine Bewegung des Widerstands: es ist eine Bewegung mit Vision. Sie deuten auf die Wurzeln der Ungleichheit hin und leisten Aufklärungsarbeit über die falschen Versprechen der Hungerbekämpfung durch Großkonzerne. Gleichzeitig, verkörpert die Bewegung eine Alternative und bietet eine Plattform, Ausbildungsmöglichkeiten, sowie Solidarität für Kleinbäuer*innen und gibt ihnen eine Stimme in multilateralen Foren. Durch die zunehmende Vernetzung ist La Vìa Campesina mittlerweile die größte Agrarbewegung der Welt.
Die Aussichten sind gerade düster. Wachsender Hunger, ungleicher Zugang zu Nahrung und Gesundheit, geopolitische Spannungen, die Ausbreitung autoritärer Tendenzen und eine sich zuspitzende Klimakrise. Doch das Konzept der Ernährungssicherheit lässt immerhin insofern Hoffnung schöpfen, als dass es alle diese Schwierigkeiten gleichzeitig adressiert. Eine starke Zivilgesellschaft war historisch gesehen schon immer die Voraussetzung für politische Veränderung. Da die Marktkonzentration der letzten Jahre immer dystopischere Züge annimmt, wird aus der utopischen Vorstellung der Ernährungssouveränität vielleicht in den nächsten Jahre sowieso die einzige Möglichkeit die multiplen Krisen anzugehen. Verlieren würden in diesem Szenario nur die großen Agrarkonzerne.