Maximilian Robitsch war im ukrainisch-russischen Kriegsgebiet. Er wollte herausfinden, warum das Unfassbare nicht mehr fassbar ist. Für mosaik hat er seine Gedanken dazu festgehalten.
Vor drei Jahren bzw. vor mehr als 1.000 Tagen begann der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Der Krieg hat sich zu einem Abnutzungskrieg entwickelt. Mit dem Faktor Zeit übernehmen die russischen Streitkräfte zusehends das Kommando. Ihnen stehen mehr Waffen(-systeme), Truppen und Unterstützung ihrer Verbündeten zur Verfügung. In den letzten zwölf Monaten hat Russland knapp 4.500 km² ukrainischen Staatsgebiets eingenommen. Ukrainische Gebietsgewinne beschränkten sich auf 500 km². Zwar gelingt es der Ukraine mit Drohnenangriffen immer wieder Nadelstiche im russischen Landesinneren auf Raffinerien und Öldepots zu setzen, doch stehen auch diese „Erfolge“ in keinem Verhältnis zur Zerstörung kritischer ukrainischer Infrastruktur durch russische Angriffe. Doch was sind diese Zahlen und Meldungen eigentlich alles wert?
Wenig, meint Maximilian Robitsch. Er war im Mai 2024 nahe der ukrainisch-russischen Front. Zwei Wochen hat er sich zwischen Butcha und Saporischschja bewegt. Er hat erlebt, wie es ist, im Kriegsgebiet zu sein. Er hat mit Zivilist*innen gesprochen und mit Kindergartenkindern im Bunker ausgeharrt. Motiviert hat den ehemaligen Berufssoldaten und heutigen Kommunikationswissenschaftler ein großes Unbehagen. Warum gelingt es Medien nicht, das Unfassbare des Krieges fassbar zu machen und der gesellschaftlichen Abstumpfung etwas entgegenzusetzen?
Der wahre Schrecken bleibt unbegreiflich
Unsere Realität ist das, was unsere eigene Filterblase daraus macht – geformt durch selektive Wahrnehmung und beeinflusst von Medien. Was jenseits der eigenen Haustür geschieht, ist oft verzerrt durch ein Netzwerk aus Vorannahmen. Besonders in gewissen ideologischen Kreisen hält sich die Erzählung von einer vermeintlichen „Lügenpresse“, einer medialen Manipulation, die das Volk bewusst verblöden soll. Doch bereits der Begriff „die Medien“ als einheitliches Ganzes scheitert an der eigenen Unschärfe.
Was muss also guter Journalismus leisten, um der Realität möglichst nahe zu kommen? Zunächst muss man sich von der falschen Vorstellung verabschieden, dass es so etwas wie „die Wahrheit“ in absoluter Form gibt. Jeder journalistische Bericht ist eine Annäherung, eine Interpretation – nie eine vollständige Abbildung der Realität. Besonders deutlich wird dies in der Kriegsberichterstattung: Die Bilder der Zerstörung, die Toten auf den Straßen, die zerbombten Städte – all das wird medial vermittelt, doch bleibt der wahre Schrecken unbegreiflich. Der Krieg wird reduziert auf Zahlen, Daten und geopolitische Analysen. „Zehn Tote hier, hundert dort“ – die Berichterstattung folgt einem Zahlenschema, das das Unfassbare in eine abstrakte Statistik verwandelt. Die Diskussion, ob nun 5.000 oder 10.000 Zivilist*innen gestorben sind, wird zur grotesken Debatte.
Krieg als Zustand totaler Entmenschlichung
Ich war selbst vor Ort. Ich bin durch Kriegsgebiete gereist, um zu verstehen, was es bedeutet, inmitten dieses Chaos zu existieren. Mein Ziel war nicht nur, das Erlebte zu dokumentieren. Ich wollte auch Wege finden, wie unser Mediensystem besser mit Krieg und dessen Darstellung umgehen kann. Wie können wir berichten, ohne die Menschen entweder zu überfordern oder gleichgültig zu machen?
Doch was ist Krieg überhaupt? Anders als es manche konservative Erzählungen nahelegen, ist Krieg weit mehr als das klassische Bild zweier Armeen im Gefecht. Krieg ist ein Zustand totaler Entmenschlichung. Ich erinnere mich an eine Frau in Saporischschja, die mir sagte, dass hier keine Menschen mehr gegen Menschen kämpfen. Die unerträgliche Brutalität, der ständige Tod und das unaufhörliche Leid entmenschlichen die Kämpfenden. Vergewaltigungen, Exekutionen, Folter – all das wird zur täglichen Realität. In den heftig umkämpften Regionen scheint der Tod wie eine Erlösung, ein Ausweg aus einer Hölle, die kein Ende nimmt.

Doch wir haben den Krieg medial konsumierbar gemacht. Er wird gefiltert, eingeordnet, analysiert – und dabei entkoppelt von der eigentlichen menschlichen Erfahrung. Die Berichterstattung konzentriert sich auf militärische Entwicklungen, politische Strategien und diplomatische Verhandlungen. Doch was bedeutet es, in einem zerbombten Wohnblock zu sitzen, während draußen der Artilleriebeschuss nicht abebbt? Was bedeutet es, mit dem Wissen einzuschlafen, dass der nächste Luftangriff dein Haus treffen könnte? Diese Fragen lassen sich nicht in Zahlen ausdrücken – sie entziehen sich der logischen Struktur klassischer Berichterstattung.
Krieg als Hintergrundrauschen
Doch die Wurzeln dieses Problems reichen tiefer. Wir als Gesellschaft haben die Fähigkeit verloren, uns ernsthaft mit Krieg auseinanderzusetzen. Die Schrecken sind zu zahlreich, die Krisen zu alltäglich. Ein weiterer Angriff, ein weiteres Massaker – und doch bleibt kaum Raum, die Konsequenzen wirklich zu durchdenken. Diese Abstumpfung ist gefährlich, denn sie schafft ein Paradoxon, einen Widerspruch: Wir wollen den Krieg nicht ertragen, doch wir können ihn auch nicht verhindern. In einer multimedialen Welt stehen wir täglich vor der Entscheidung, welchen Krieg wir in welchem Medium konsumieren – und welchen wir ignorieren. Wir leben in einer Zeit, in der Medien durch die Mechanismen der schnellen, viralen Verbreitung gesteuert werden. Eine Welt, die durch Dopamin-Zyklen geprägt und von Algorithmen kontrolliert wird.
Die Medien spielen dabei eine ambivalente Rolle. Sie berichten über den Krieg. Doch sie schaffen es nicht, ihn in eine Form zu bringen, die das Grauen begreifbar macht. Die Bilder bleiben an der Oberfläche, das Leid bleibt abstrakt. Und so wird der Krieg zu einem Hintergrundrauschen – etwas, das zwar existiert, aber nicht mehr unsere volle Aufmerksamkeit erfordert.
Verborgene Geschichten
Diese Gleichgültigkeit ist ein Nährboden für das, was folgt: eine Welt, in der Krieg als Naturzustand betrachtet wird. Eine Welt, in der politische Entscheidungsträger*innen immer leichter in militärische Konflikte abdriften, weil die Bevölkerung längst aufgehört hat, sich zu empören. Eine Welt, in der das kollektive Gedächtnis für die Schrecken des Krieges schwindet, während neue Kriege beginnen.
Vielleicht ist das die größte Tragödie: dass wir, selbst wenn wir wissen, wie unmenschlich Krieg ist, ihn nicht mehr verhindern können – weil wir verlernt haben, ihn wirklich zu sehen. Ich erinnere mich an eine Szene in Kiew, einer Stadt, die zwischen Normalität und Katastrophe schwankte. Während wir durch das Zentrum schlenderten, begegneten wir einer Frau, die am Rand des Hauptplatzes saß. Vor ihr lagen kleine, handgefertigte Puppen, sorgsam ausgebreitet. Wir kauften eine, machten Fotos, wechselten ein paar Worte. Ihre Geschichte aber blieb uns verborgen – noch.

Nach diesem kurzen Gespräch fuhren wir mit der Bahn an den Dnipro, um etwas zu essen. Die Idylle war trügerisch. Plötzlich hallte der schrille Klang des Raketenalarms durch die Straßen. In Eile suchten wir Schutz in der U-Bahn, zusammen mit anderen, die schweigend ausharrten, während die Bedrohung über uns lauerte. Zwei Stunden später waren wir endlich zurück am Hauptplatz. Zufällig begegneten wir ihr erneut. Doch diesmal stand sie nicht mit ihren Puppen am Platz – sondern vor einer Wand, auf welcher sich Tausende Totenbekundungen in Form von Bildern und Zetteln stapelten. Sie winkte mich zu sich, nahm meine Hand, zeigte mit zittrigen Fingern auf ein Bild. Keine Worte waren nötig. Ich verstand. Ihr Sohn. Gefallen im Krieg. Mit dem Geld, das wir für die Puppe gegeben hatten, hatte sie Blumen gekauft – Blumen, die nun auf seinem Grab lagen. Ein Moment, der sich in meine Erinnerung brannte.
Zwischen Trauma und Aufklärung
Die Aufgaben für Medien ist paradox. Wie soll man die Bevölkerung über solch verstörende Ereignisse unterrichten, wenn sogleich das Verständnis ihrer bloßen Existenz unweigerlich mit einem Trauma einhergeht. Ist es die Aufgabe der Medien die Bürger*innen zu traumatisieren, nur um sie über eine Situation zu informieren, die sie in erster Linie, wenn überhaupt nur am Rande betrifft? Auf der anderen Seite flutet auch hierzulande ein ausgeprägter Sensationalismus, eine Gier nach reißerischen Darstellungen die traditionelle Medienlandschaft mit oberflächlichen Dramen. Wie Junkies wandert das Publikum von Tragödie zu Tragödie, nur um den nächsten Schuss aus den Medien zu entnehmen und ihn direkt in Dopamin zu wandeln.
Wir leben in einer Zeit, in der Nachrichten hyperinflationär verbreitet werden; einer Zeit, in der Medienvertreter mit Emotionalität um Kunden werben; eine Zeit, welcher die Gatekeeper-Verantwortung beim Individuum selbst liegt. Wir bestimmen eigenständig, was, wann und wie wir konsumieren – oder müssen zumindest bewusst entscheiden, was wir nicht konsumieren. Genau hierin liegt das widersprüchliche Dilemma. Es ist schwer, daraus einen Ausweg zu finden. Kritische Reflexion sowie eine ausgeprägte Medienkompetenz sind essenzielle Schritte auf dem Weg zu einer aufgeklärteren Gesellschaft und einem Bewusstsein, was Krieg bedeutet.
Einleitungstext: mosaik Redaktion
Titelbild: Fabrik in Hostomel | Maximilian Robitsch