Ein Jahr tobt der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Hunderttausende sind auf beiden Seiten gestorben, der Krieg ist längst normalisiert. Die Kriegsspirale dreht sich weiter, während große Teile der Linken so tun, als gäbe es sie nicht.
Die erste und lauteste Reaktion auf den Überfall durch den russischen Staat war moralische Empörung. Sie zog sich von den sozialen Medien über Politiker*innen bis hin zu großen Kundgebungen auf der Straße. Das war verständlich – wie sollte man sonst darauf reagieren, wenn ein Staat einen anderen überfällt? Doch bis heute verdeckt diese Reaktion das größere Bild. Die öffentliche Debatte wird von Moralismus dominiert – genau der verbirgt aber die kühlen Erwägungen imperialistischer Politik, die staatliches Handeln sowohl in Russland wie auch im Westen beherrschen. Die Frage, wie dieser Krieg beendet werden kann und unter welchen Bedingungen, spielt dabei keine Rolle.
Moralisch ist die Sache einfach
Moralisch ist die Sache ja zunächst einmal einfach: Ein autoritärer Staat überfällt zu Unrecht die Ukraine und bedroht sie in ihrer staatlichen Existenz. Menschen fliehen massenhaft vor einem Krieg, der ihr Leben unmittelbar bedroht. Daraus schließt der moralistische Standpunkt: Das Einzige, was hier zählt, ist wer im Recht ist. Der Angriff ist Unrecht, ungerecht und schließlich böse. Daraus folgt, dass es mit dem Verbrecher keine Verhandlungen geben darf. Alles ist recht und notwendig, was das fortwährende Verbrechen nicht nur stoppt, sondern das Recht wiederherstellt und den Verbrecher möglichst noch bestraft.
Während sich moralisch scheinbar leicht bestimmen lässt, wer hier der „Böse“ ist, stellt sich eine andere Frage: Warum entfaltet die Moral ausgerechnet in der Ukraine so eine große Wirkmächtigkeit? Als Linker weiß man: Es gibt unendlich viele Verbrechen, die unsere Weltordnung hervorbringt. Warum empört der Überfall Russlands auf die Ukraine mehr als beispielsweise der nun schon fast acht Jahre dauernde Krieg im Jemen, der andauernde Krieg der Türkei gegen Kurd*innen, der Überfall Aserbaidschans auf Armenien oder die Ermordung von Indigenen in Peru? Der Grund für die unterschiedliche Gewichtung ist nicht nur Rassismus, sondern vor allem, dass in der Ukraine geopolitische und geoökonomische Interessen sowie moralische Empörung zusammenfallen. Das erst verleiht dem Moralismus seine Macht.
Empörung als politisches Instrument
Nach einem Jahr Krieg sollte deutlich werden, dass aus echter Empörung längst ein politisches Instrument geworden ist. Der Moralismus des herrschenden Liberalismus rechtfertigt alles, angefangen von Panzer-Lieferungen bis hin zur Abschaffung von Feiertagen zur Steigerung des Rüstungsbudgets. Dabei geht jedwede historische Dimension verloren. So kann in der liberalen Zeit schon mal der „totale Sieg“ über Russland gefordert werden. Und zwar auf den Tag genau 80 Jahre, nachdem Göbbels in seiner berüchtigten Sportpalastrede zum „totalen Krieg“ aufrief. Die Medien vergleichen Panzermodelle in anschaulichen Infografiken, als handele es sich um die neuesten Handymodelle. Die Forderung des ukrainischen Staates nach der Lieferung von völkerrechtlich geächteter Streumunition und Phosphorwaffen wird lapidar als „sehr umstritten“ bezeichnet.
Während die Logik des Krieges unsere Medien beherrscht, ist von Alternativen zum Krieg kaum die Rede. Das Leid der Ukrainer*innen wird thematisiert, oft scheint es aber so, als diene das vor allem der Rechtfertigung des Krieges. Und es wird nur thematisiert, solange es in das eigene Narrativ passt. Die Situation von jungen Ukrainern, die vor dem Militärdienst fliehen, kommt ebenso selten vor, wie die globalen Folgen des Kriegs. Etwa die Hungerkrise, die durch den Ukrainekrieg 2022 massiv verschärft wurde.
Zynische Kriegsgegner*innen
So billig wie der liberale Hypermoralismus daherkommt, so problematisch sind seine lautesten Widersacher. Dieses Spektrum ist ideologisch diffuser. Es setzt sich aus Linken zusammen, die schon vor längerem falsch abgebogen sind, und nostalgisch im autoritären russischen Kapitalismus die Sowjetunion wiederzuerkennen glauben. Genauso tummeln sich hier Rechtsextreme, wie AFD oder FPÖ, die vom russischen Staat finanziell gefördert wurden. Was das Spektrum eint, ist sein Zynismus.
Während der liberale Moralismus ökonomische und geopolitische Interessen verbirgt, erklärt die Gegenseite diese zum naturgegebenen Prinzip. Sie stellts ich dabei wissentlich oder unwissentlich auf den Standpunkt neorealistischer Theorien der internationalen Beziehungen. Diese gehen davon aus, dass Staaten nun einmal von Natur aus im Konflikt miteinander stehen und um Macht und Einfluss kämpfen. Jene, die Waffenlieferungen und eine weitere Eskalation des Krieges ablehnen, fordern nur allzu oft, die vermeintlich legitimen Interessen der konkurrierenden Imperialismen anzuerkennen. Man möge die Welt in Einflusssphären aufteilen, dann sei hoffentlich endlich Ruhe.
Die Ukraine als Verschubmasse
Russland ist aus dieser Perspektive eine Großmacht und hat ein legitimes Interesse daran, seine Einflusssphäre militärisch und politisch zu dominieren. Der Versuch des Westens, seinen Einflussbereich und seine Dominanz immer weiter nach Osten auszudehnen, habe einen Konflikt provoziert. Der Krieg könne nur beendet werden, wenn ein Kompromiss über die neuen Grenzen der Einflusssphären getroffen werde und dabei die russischen „Sicherheitsbedürfnisse“ respektiert würden.
In dieser „anerkennenden“ Perspektive werden die Ukraine und ihre Bevölkerung zur Verschubmasse im Konflikt der Großmächte. Dabei ist es kein Zufall, dass sich diese „Kritik“ an der Kriegspolitik aus denselben Milieus wie die Coronaleugner*innen speisen. Gemein ist ihnen der Wunsch, dass im Angesicht der Katastrophen ihr Leben bitte ungestört weiterlaufen soll.
Linkes Schweigen
Was hingegen fehlt, ist eine eigenständige linke Auseinandersetzung mit dem Krieg. Die Linke existiert in erster Linie nur als Anhängsel der liberalen Position. Aus Angst davor, als Putinversteher*innen dargestellt zu werden, überlässt man die Kritik an Militarisierung und Kriegstreiberei den krudesten Stimmen, wie Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer.
Die Linke hat jetzt ein weiteres Thema, über das sie lieber nicht redet, weil es schmerzliche Klärungsprozesse erfordern würde. Stattdessen versucht man andere Themen und Kampagnen zu finden. Man organisiert Sozialproteste gegen die Inflation, die nicht vom Fleck kommen und wehrt sich gegen fossile Projekte. Daran ist nichts grundlegend falsch. Aber es wird zunehmend schwierig, weil fast alle aktuellen Themen mit der Frage nach Krieg und Frieden verbunden sind. Durch den Verzicht auf eine Positionierung wird die Linke nur noch mehr marginalisiert.
Es braucht Debatte und Position
Was es braucht, ist eine offene linke Debatte über den Krieg, in der wir unsere eigenen Kategorien, Methoden und Analysen an den Krieg anlegen. Das müsste damit beginnen, den Krieg und seine Ursachen aus den inneren Klassenverhältnissen und Dynamiken der Ukraine und den innerimperialistischen Widersprüchen zu verstehen. Eine einheitliche linke Position wird auch aus solchen Debatten kaum entstehen, aber es könnte sich eine Position herausbilden, die die Linke wieder als eigenständige Kraft etabliert.
Für eine Linke, die gleichermaßen gegen Krieg und Imperialismus auftritt, gäbe es genug Anknüpfungspunkte. Von der Unterwerfung der Ukraine unter westliches Kapital im Zuge ihrer Einbindung in den sogenannten Westen; über die sich verstärkenden autoritären Tendenzen nicht nur in Russland, sondern auch in der EU; zu den ökonomischen Interessen, die vom Krieg profitieren, oder der Notwendigkeit den Kampf für den Frieden mit sozialen Themen zu verbinden. Eine eigenständige linke Position bietet auch real die Chance, wieder relevant zu werden. Denn es gibt quer durch Europa zumindest große Minderheiten, die den Krieg und die damit verbundene Politik ablehnen. Derzeit finden sie aber nur die krudesten Erklärungen und Angebote vor.
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