Vor zehn Jahren wurde die kurdische Stadt Kobanê in Nordsyrien zum Symbol des Widerstands gegen den Islamischen Staat. Damals wie heute gehen auch in Wien Menschen dafür auf die Straße. Warum?
Im Sommer 2014 erobert der Islamische Staat (IS) weite Teile des Iraks und Syriens und ruft sein Kalifat aus. Dabei dringt er bis nach Kobanê vor – einer mehrheitlich kurdisch bewohnten und an die Türkei grenzende Stadt im Norden Syriens. Die Welt sieht gebannt zu, als dem IS dort erstmalig erbitterter Widerstand entgegenschlägt. Geleistet wird der Widerstand insbesondere von Kämpfer*innen der kurdischen Einheiten YPG und YPJ, aber auch von internationalen Freiwilligen und regionalen, verbündeten Gruppen. Während im Oktober 2014 diverse westliche Regierungen die Stadt bereits für verloren erklären und nicht zum Eingreifen bereit sind, protestieren Kurd*innen und Linke in aller Welt in Solidarität mit den Menschen, die Kobanê verteidigen. Auch in Wien gehen tausende Menschen auf die Straße. Zwei Monate später gelingt es den Kämpfer*innen vor Ort, die Stadt zurückzuerobern. Unterstützt durch Luftangriffe der sogenannten Internationalen Koalition (USA und Verbündete) war es der erste Sieg gegen den IS.
Zehn Jahre später treffen wir Nurcan Güleryüz, Obfrau von Avesta dem kurdischen Frauenverband in Wien, in den Vereinsräumlichkeiten des Rates der kurdischen Gesellschaft in Österreich (FEYKOM). Gemeinsam mit ihr sprechen wir über die Bedeutung von Kobanê, warum es heute noch wichtig ist, dafür auf die Straße zu gehen, und über Perspektiven des Friedens.
mosaik: 2014 waren tausende Menschen in Solidarität mit Kobanê auf den Straßen Wiens. Wer war da alles dabei?
Nurcan: Sehr unterschiedliche Menschen. Kurd*innen, türkische Linke, aber zum Beispiel auch feministische Gruppen und auch Menschen, die mit der ganzen Sache sonst eigentlich gar nicht so viel zu tun hatten. Sie haben aber mitbekommen, dass da ein Unrecht passiert und dass in Kobanê die Freiheit verteidigt wird. Dass so viele Leute für Kobanê auf die Straße gegangen sind, hat den Menschen, die dort gekämpft haben, viel Mut gegeben. Und es hat Druck auf die Regierungen gemacht – vor allem auf die USA, die dann auch Luftangriffe auf IS-Stellungen geflogen hat.
mosaik: Kobanê hat Stand gehalten und hat bis heute eine starke Symbolkraft. Wofür steht Kobanê genau?
Nurcan: Dafür, dass die Menschen dort, und in anderen Teilen Rojavas, ein neues System aufgebaut haben. Inspiriert von den Ideen des Demokratischen Konföderalismus – einem Konzept des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan – wurden in Rojava seit der Revolution 2012 Volksräte, Frauenstrukturen, Kommunen und Kooperativen geschaffen. Die kapitalistischen Staaten haben damit allerdings ein Problem. Denn die Menschen in Kobanê und Rojava versuchen eine Alternative zum Kapitalismus zu bilden. Vor allem das türkische Regime steht Rojava feindlich gegenüber und hat damals den IS unterstützt. Es gibt Beweise dafür, dass das Erdoğan-Regime Waffen an den IS geliefert hat und dass türkische Kräfte IS-Kämpfer über die Grenze nach Rojava geschleust haben.
mosaik: Ihr wart damals viele auf den Straßen. Es gibt aber auch einige Menschen, die die kein Verständnis dafür haben, dass hierzulande für den Freiheitskampf in Rojava oder in anderen Teilen des Mittleren Ostens protestiert wird. Was würdest du ihnen sagen?
Nurcan: Es ist wichtig, den Leuten klar zu machen, was das ganze mit Österreich zu tun hat. Es heißt immer, Österreich sei neutral. Aber Österreich ist in der EU und die unterstützt das Erdoğan-Regime – zum Beispiel mit dem sogenannten Flüchtlingsdeal. Aber auch durch Waffenexporte. Aktive Neutralitätspolitik würde heißen, dass man sich für Frieden stark macht und gegen Regime wie das von Erdoğan. Außerdem hat man beim IS-Anschlag in Wien 2020 gesehen, was Daesh [der IS, Anm. der Redaktion] auch in Österreich anrichten kann. Der Kampf der Menschen in Rojava gegen den IS schützt auch die Menschen hier. Und dieser Kampf hat viele Opfer gekostet, tausende Kämpfer*innen sind gefallen. Wenn wir für Kobanê protestieren, dann tun wir das auch, um an sie zu erinnern. Auch wenn es 4.000 Kilometer entfernt ist. Dann sind das Menschen und es ist kein Spiel im Internet.
mosaik: Würdest du dir in dieser Hinsicht mehr von einer künftigen österreichischen Regierung, aber auch der Bevölkerung erwarten?
Nurcan: Nein, von einer Regierung erwarte ich mir nichts. Aber von der Bevölkerung schon! Ich würde mir wünschen, dass die Menschen hier mehr Interesse an anderen Völkern zeigen. Im Fall vom Krieg in Palästina zeigt sich ja, dass Menschen auf die Straße gehen, aber es müssen noch viel mehr werden. Und dabei ist es unsere Aufgabe, Bildungsarbeit zu machen, die Leute aufzuklären, und manchmal auch nervig zu sein. Jeder Mensch, den wir umstimmen können, ist einer mehr. Wir werden da nicht locker lassen! Gleichzeitig müssen wir aber auch für die Probleme in Österreich gemeinsam Lösungen finden. Wir Kurd*innen leben hier. Es ist kein Ort, an dem wir vorbeigehen werden. Deswegen müssen wir – egal von wo wer kommt – bei bestimmten Anliegen, Problemen und Konflikten zusammenkommen, um sie zu lösen.
mosaik: Bei welchen Anliegen und Fragen bräuchte es mehr Zusammenarbeit?
Nurcan: Bei ökologischen Anliegen sollten wir beispielsweise gemeinsam auf die Straße gehen. Zentral ist auch die Frage, wie wir hier leben und arbeiten. Nicht nur Kurd*innen, auch viele andere Migrant*innen machen in Österreich oft die Drecksjobs. Würden wir alle nur für drei Tage die Arbeit niederlegen, dann würden die Menschen sehen, was wir für eine Rolle in der Gesellschaft einnehmen. Leider trauen sich die Gewerkschaften nicht genug. Die müssten sich viel mehr einsetzen. Das wäre auch eine gute Antwort auf die FPÖ. Die Rechten wollen die Menschen spalten. Wenn man gemeinsam für etwas kämpft, kann man dem etwas entgegensetzen.
mosaik: Noch einmal zurück nach Kobanê und Rojava: Das türkische Regime bombardiert auch in diesen Tagen wieder die Selbstverwaltung. Gibt es überhaupt eine Perspektive auf Frieden?
Nurcan: Abdullah Öcalan hat immer wieder für eine friedliche Lösung geworben. Aber die Gegenseite greift die kurdische Freiheitsbewegung und die gesamte Bevölkerung permanent an. Das kurdische Volk hat das Recht auf Selbstverteidigung. Ohne Waffen wären wir schutzlos. Klar ist aber auch: Es braucht eine politische Lösung und je mehr Menschen dafür aktiv werden, desto besser.
Am Samstag den 02. November rufen Avesta und FEYKOM gemeinsam mit anderen Gruppen und dem Bündnis Defend Kurdistan Wien zur Demonstration „10 Jahre Welt-Kobanê-Tag“ auf. Treffpunkt ist um 14.00 Uhr am Votivpark.
Interview: mosaik Redaktion
Foto: FEYKOM