In Europa stellte 2019 einen Höhepunkt für die Klimabewegung dar: Ihre Themen waren in aller Munde. Millionen Menschen beteiligten sich an Aktionen. Fünf Jahre später befindet sich die Bewegung im Tief. Tamara Gruber mit einer Einschätzung, welche Fragen es jetzt zu stellen gilt.
2015 begann in der Klima(gerechtigkeits)bewegung eine neue Phase des konstruktiven Aufbaus. Der Prozess um das Pariser Klimaabkommen löste eine Dynamik aus, die viele zivilgesellschaftliche Akteur*innen auf den Plan rief. Außerdem tauchten Zusammenschlüsse wie Ende Gelände in Deutschland auf. Mit ihren radikalen Forderungen nach einem Kohleausstieg und dem Ende des Kapitalismus öffneten sie Spielräume für andere. So begann die deutsche und europäische Zivilgesellschaft über große CO2-Schleudern und Politik für eine sozial-ökologische Transformation zu reden. 2018 verstärkte sich die Bewegungsdynamik mit dem Aufleben von Extinction Rebellion und Fridays for Future. 2019 gipfelte die Bewegung in Massenmobilisierungen und zunehmenden realpolitischen Erfolgen.
Seitdem bilden Erfolge wie die Absage des Lobautunnels oder der European Gas Conference eine Ausnahme bzw. geraten diese Erfolge ins Wanken. Die Wohlgesonnenen meinen, die Corona-Pandemie und der Angriffskrieg auf die Ukraine hätten die Mobilisierung erschwert und das Thema Klima verdrängt. Die weniger Wohlgesonnenen verorten die Probleme in den strategischen und taktischen Entscheidungen der Bewegung. Das Urteil lautet dabei immer ähnlich: Die Menschen werden nicht mitgenommen. Seien es die Tesla-Arbeiter*innen in Grünheide bei Berlin, die französischen Kleinbäuer*innen, die Autofahrer*innen in Wien oder die streikenden Schüler*innen in Stockholm.
Unterschiedliche Flügel und (Selbst)-Kritik
In der Klimabewegung werden für gewöhnlich verschiedene Flügel unterschieden. Das geschieht beispielsweise anhand der Aktionsformen. Gruppen, die auf (massenhaften) zivilen Ungehorsam bzw. Sabotage setzen oder – wie die Letzte Generation – durch Straßenblockaden und andere ‚störende‘ Aktionen auffallen, werden oft als radikaler Flügel bezeichnet. Fridays for Future und große NGOs wie Greenpeace gelten als ‚Mitte der Bewegung‘. Ihre Mittel der Wahl sind Demonstrationen, Öffentlichkeitsarbeit und Appelle an die Politik.
Eine Analyse und Reflexion der Klimabewegung muss diese Unterscheidungen im Auge behalten. Genauso wie die Unterschiede, die sich innerhalb der verschiedenen Flügel zeigen. Gruppen im radikalen Flügel können etwa zusätzlich anhand ihrer inhaltlichen Positionen unterschieden werden. Hier lässt sich eine klare Differenz zwischen einer antikapitalistischen und – wenn es über das Thema Klima hinausgeht – laut Eigendefinition „unpolitischen“ Ausrichtung verschiedener Gruppen feststellen.
Das Thema Klima hält in den nächsten Jahren große Herausforderungen bereit. Das macht es umso wichtiger, genau darauf zu schauen, wer tatsächlich an wem Kritik übt und wie. Dazu gehört auch, die Bewegung als ganzheitliches Bild zu begreifen. Denn bis jetzt hat sich eine Kultur der (Selbst)-Kritik entwickelt, die zu wenig Solidarität und Konstruktivität zulässt: Zu gerne wird gegen die anderen und ihre taktischen Ansätze geschossen. Zu wenig wird miteinander und kollektiv reflektiert und zu wenig wird darauf geachtet, dass viele Aktivist*innen seit vielen Jahren am Limit aktiv sind.
Der antikapitalistische Flügel und die Klasse
Ein Vorwurf, den sich der antikapitalistische Flügel der Klimabewegung immer wieder anhören muss, ist, dass er Klassenkonflikte nicht richtig versteht bzw. nicht entsprechend dem Haupt-Widerspruch von Klasse gegen Kapital handelt. Zu diesem Flügel zählen Gruppen wie disrupt und Ende Gelände in Deutschland, System Change not Climate Change in Wien oder Soulèvements de la Terre in Frankreich. (Bewegungsinterne) Kritiker*innen dieser Gruppen vermischen dabei die Forderungen nach mehr Fokus auf soziale Gerechtigkeits-Aspekte („Wer kann sich schon bio leisten?“) und nach einer stärkere ideologische (marxistische) Fundierung.
Gerade mit der Forderung der ideologischen Fundierung droht die Bewegung jedoch in alt-linke Debatten abzurutschen. Diese ermöglichen erfahrungsgemäß keine konstruktive Weiterentwicklung einer Bewegung. Stattdessen wäre eine Diskussion über die Vorteile des undogmatischen Pragmatismus sinnvoll. Dieser hat die Klimabewegung immerhin zur lautstärksten Bewegung der letzten Jahre gemacht. Von einem solchen pragmatischen Verständnis ausgehend, lassen sich die Fragen nach Widersprüchen, Interventionspunkten, schlagkräftigen Bündnissen und Narrativen unserer Zeit auch konstruktiv stellen, anstatt sich an Klasse- und Arbeitsbegriffen aufzuhängen.
Der „unpolitische“ Flügel und die Individuen
Den sichtbarsten „unpolitischen“ Flügel des radikalen Teils der Klimabewegung stellt die Letzte Generation dar. Ihr wird vorgeworfen, mit ihren Aktionen jene zu vergraulen, die wir dringend auf unserer Seite bräuchten. Die Stimmung im Land würde kippen, wenn Einzelnen so regelmäßig ins Gesicht gesagt bekommen, dass sie Teil des Problems sind. Stattdessen hätten sie jene in den Fokus von Aktionen rücken sollen, die die Klimakrise befeuern – seien es fossile Unternehmen oder die Politiker*innen, die auf sie hören.
Während der antikapitalistische Flügel sich in Ideologiedebatten zu verlieren droht, könnte der „unpolitische“ Flügel also an seiner fehlenden Ideologie scheitern. Oder er ist es in Österreich vielleicht sogar schon: Die Letzte Generation hat offiziell ihre Auflösung bekannt gegeben und es ist noch keine Nachfolge in Sicht. Doch haben es sich die (bewegungsinternen) Kritiker*innen auch oft zu leicht gemacht. Lange und breit wurde der Letzten Generation vorgehalten, kein Verständnis dafür zu haben, wie gesellschaftliche Mehrheiten erkämpft werden. Darüber hinausgehende Fragen wurden jedoch selten gestellt: Wie viele Autos fahren tatsächlich aus sozialen Gründen über den Wiener Gürtel? Wie lassen sich Gespräche mit im Stau stehenden Autofahrer*innen führen? Warum haben die Aktionen der Letzten Generation gegen Privatjets und Yachten so viel weniger Aufmerksamkeit bekommen?
Die radikalen Flügel und ihre Aktionsformen
Die Kritik gegen die beiden radikalen Flügel richtet sich jedoch nicht nur gegen ihre grundsätzlichen Strategien, sondern auch gegen ihre Aktionsformen: Kleben ist entweder ineffektiv geworden oder so effektiv, dass Repression massiv gestiegen ist. Massenaktionen des zivilen Ungehorsams sind hochschwellig und auch immer repressionsanfälliger geworden. Und letztlich führten die wenigen Versuche der Sabotage zu wenig Veränderung. Sie blieben entweder im Verborgenen (z.B. Sabotage an einer LNG-Baustelle in Norddeutschland) oder stießen im öffentlichen Diskurs auf kein Verständnis.
Auch hier müssen wir neben der Kritik schauen, was wir lernen können. Was hat den Weg zur breiten Akzeptanz der Ende Gelände-Aktionen geebnet und was hat sich verschoben? Was ist der Letzten Generation mit ihren Aktionen auch gelungen? Und wie gehen wir mit steigender Repression bei Massenaktionen um? Denn Widerstand wird es trotz allem nach wie vor brauchen.
Die Mitte der Bewegung kommt zu gut davon
Sei es in internen Diskussionen oder in öffentlichen Artikeln: Es gibt erstaunlich viel über die radikalen Flügel, ihre Strategien und Aktionsformen zu sagen. Über die Mitte der Bewegung wird in diesen Debatten jedoch meist kaum ein Wort verloren wird. Warum wird über die (Un-)Sinnhaftigkeit des Klebens so viel mehr gestritten als des Streikens oder des Petitionen-Unterschreiben? Idealerweise eröffnen radikale Bewegungs-Flügel der Mitte Handlungsspielräume. Warum passiert in dieser Mitte seit geraumer Zeit so verdammt wenig?
Zu ihren Hochzeiten schaffte die Klimabewegung noch ein Schulterschluss zwischen dem (antikapitalistischen) Flügel und der Mitte – zum Beispiel beim Kohleausstieg in Deutschland oder LobauBleibt in Österreich. Aktuell findet dieser wenn dann nur noch sehr punktuell statt. Die Schwäche der Bewegung ist also nicht zuletzt eine Schwäche der Mitte. Sie macht keine Innovation jenseits von Klimastreiks und Petitionen für Delfine möglich.
Raus aus dem Tief: Organizing, solidarisches Preppen & Klima-Antifa
Vorschläge, wie die Bewegung aus dem Tief kommt, gibt es bereits. Neuen Kampagnen-Versuche wie Deutsche Wohnen & Co Enteignen in Berlin oder Wir Fahren Gemeinsam in Österreich werden hohe Erwartungen angehängt. Sie sollen Klima und Soziales durch Organizing-Methoden zusammenbringen. Aber dieser Brückenschlag bringt auch Nachteile mit sich, die vor lauter Zweckoptimismus gerne in den Hintergrund geraten. Wir sollten als Bewegung aber tiefer gehende Debatte zu den Grenzen reformistischer Volksbefragungs-Politiken und der Zusammenarbeit mit Gewerkschaften führen.
Zu diesen Versuchen des Organizing gesellen sich auch andere Ideen. Dazu gehören etwa der Ansatz sich verstärkt rund um aktuelle und zukünftige Naturkatastrophen zu organisieren („solidarisches Preppen“) oder Bestrebungen Klimabewegung und Antifa näher zusammenzubringen – wie etwa beim AfD-Parteitag in Hessen. Diese Diskussionen stecken verhältnismäßig noch in den Kinderschuhen. Die Ereignisse der letzten Monate machen jedoch deutlich, dass sie längst überfällig sind.
In fünf Jahren…
Können wir in Europa in den nächsten Jahren Mehrheiten für die Klimafrage gewinnen? Wenn ja, mit wem, zu welchem Thema und mit welchen Aktionsformen? 2019 hätten wir es wohl für unvorstellbar gehalten, dass wir fünf Jahre später an einem derartigen Tiefpunkt angekommen sein würden. Heute müssen wir uns trauen zu fragen, wo wir in fünf Jahren sein wollen – und nicht nur, wie wir die nächsten fünf Jahre am besten überstehen.
Dafür brauchen wir brauchen einen konstruktiveren Umgang mit (Selbst-)Kritik. Dieser soll weniger auf Fehlersuche in den einzelnen Ansätzen gehen, sondern die Bewegung ganzheitlich betrachten, nach Stärken suchen und auf Erfolgen aufbauen. Ziel muss es sein, weniger im Entweder-Oder zu denken und das Vertrauen ineinander zu stärken.
Fragen, die es zu stellen gilt
Warum hat der Bewegungsschulterschluss beim Kohleausstieg funktioniert – auch ohne dass sich die Bewegung daran gespalten hat, ob es einen Finger voller Bergbau-Gewerkschafter*innen gibt? Wieso haben diejenigen, die bei LobauBleibt eine Mobilitätswende gefordert haben, sich nicht der Tempo 100 Forderung der Letzten Generation angeschlossen? Warum funktioniert Organizing und Vergesellschaftung beim Thema Wohnen besser als beim Thema Energie? Wo sind die Menschen geblieben, die über die letzten fünf Jahre hinweg auf Klimastreiks unterwegs waren? Wären all diejenigen, die im Laufe der Zeit Petitionen für Delfine unterschrieben haben, bereit einen FPÖ-Parteitag zu blockieren?
Es gibt so vieles konstruktiv voneinander zu lernen. Anstatt in destruktive Kritik, Schuldzuweisungen und ideologische Richtungskämpfe zu verfallen, müssen wir anerkennen, was in den letzten Jahren geschafft wurde, und uns vor allem auch dem Wie widmen. Je länger wir damit warten, desto schwerer wird es, aus dem Bewegungstief wieder herauszukommen.
Titelbild: System Change not Climate Change | Christopher Glantzl