Jedes fünfte Kind ist in Österreich von Kinderarmut betroffen und leidet damit stärker unter den Auswirkungen der Corona-Krise. Doch auch ohne Pandemie haben Kinder aus armuts- und ausgrenzungsgefährdeten Familien gesundheitliche Nachteile, wie Judith Ranftler und Hanna Lichtenberger zeigen.
Armut beeinflusst den gesamten Lebensverlauf und jeden Lebensbereich. Und damit auch die Gesundheit und das körperliche und psychische Wohlbefinden. Auswirkungen finden sich sowohl im Bereich der Mortalität, der Sterblichkeit, wie auch in der Morbidität, also der Art und Häufigkeit von Erkrankungen. Der Zusammenhang zwischen Sterblichkeit und Einkommenssituation ist zweifelsfrei belegt. 2004 kam etwa eine Studie der Wiener Ärztekammer zum Ergebnis, dass Frauen im Wiener Bezirk Rudolfsheim-Fünfhaus mit durchschnittlich 78.5 Jahren deutlich früher sterben als Frauen aus der Josefstadt (81 Jahre).
Die Gründe dafür sind vielfältig. Neben den Effekten körperlicher Arbeit, der schlechteren Wohnqualität (feuchte, schimmelige, laute Wohnungen, verringerte Luftqualität), fehlender sozialer Netzwerke, Stress und dem beeinträchtigten subjektiven Wohlbefinden zählen etwa die Häufung von Diabetes, depressiver Symptomatik und Adipositas dazu. Egal ob über Einkommen, Bildungsgrad und/oder berufliche Stellung erfasst – ein sogenannter „niedriger sozialer Status“ hat jedenfalls negative Auswirkungen auf die Gesundheit.
Finanzielle Nachteile trotz Versicherung
Im Detail lassen sich Ungleichheiten und unterschiedliche Belastungen erkennen. Auch wenn die Gesundheitsversorgung in Österreich allen versicherten Menschen einen guten Zugang zu medizinischer Versorgung ermöglicht. Etwa, wenn es um kostenpflichtige Behandlungen (z.B. Kosten für diverse zahnmedizinische Leistungen) und Behelfe für Kinder (z.B. Brillen oder orthopädische Einlagen) geht, um Selbstbehalte bei Therapiekosten, Sehbehelfe oder auch Medikamente, die nicht verschreibungspflichtig sind. Diese stellen zum Teil eine massive Herausforderung für armutsbetroffene Familien dar. Viele armutsbetroffene Eltern haben außerdem zu wenig Informationen über gesundheitliche Versorgung, ihre Rechte im Gesundheitssystem, Fördermöglichkeiten, die gesundheitliche Regelversorgung und entsprechende Anlaufstellen. Auch weil viele dieser Informationen nicht in verschiedenen Sprachen vorhanden oder nur schwer zugänglich sind.
Bei armutsbetroffenen Kindern und Jugendlichen wird dabei nicht nur die objektive Gesundheit, sondern auch ihr subjektives Wohlbefinden beeinträchtigt. Einen besonders auffälligen Zusammenhang mit dem Familieneinkommen gibt es mit der Häufung von Unfällen und Verletzungen. Außerdem mit einer beeinträchtigten Mund-/Zahngesundheit, geringer Bewegung und Essstörungen, psychischem Wohlbefinden sowie Defiziten im Bereich der Früherkennung und Prävention. Armutsbetroffene Kinder sind darüber hinaus häufiger von chronischen Krankheiten betroffen und gehen öfter krank in die Schule.
Kein Sport wegen Kinderarmut
Die Freude an bewegungsorientiertem Spiel wird vielen Kindern bereits im Kleinkindalter vermittelt. Aber das passiert in unterschiedlichem Ausmaß: Armutsbetroffene Kinder und Jugendliche machen weniger häufig intensiven bis moderaten Sport. Die Gründe dafür finden sich in der Statistik: 9 Prozent aller Haushalte können sich keine Sport-, Spiel- und Freizeitgeräte für draußen leisten. Bei der Gruppe der Mindestsicherungsbezieher*innen sind es 17 Prozent, für die Roller, Fahrräder und Co unleistbar sind. Ein Drittel aller Haushalte mit Mindestsicherungsbezug kann sich Freizeitaktivitäten der Kinder, die mit Kosten verbunden sind, nicht leisten. Dazu gehören etwa Schwimmbadausflüge oder die Mitgliedschaft in Sportvereinen. Letzte haben, wie Expert*innen betonen, eine hohe Relevanz in der Prävention kindlicher Adipositas.
Kostenfreie oder günstige, niederschwellige und mehrsprachige Angebote fehlen insbesondere in ländlichen Regionen Österreichs. Die Möglichkeiten der von Kinderarmut Betroffenen, an bewegungsorientierten Freizeitangeboten teilzunehmen, hängt also in besonderem Maße vom Erhalt und dem Ausbau öffentlicher Infrastruktur ab. Diese litten und leiden besonders unter den Sparmaßnahmen von Städten und Gemeinden nach der Wirtschaftskrise 2008.
Mehr Unfälle und häufiger Schmerzen
Auch die Häufigkeit von Unfällen und Schmerzen ist bei armutsgefährdeten Kindern und Jugendlichen erhöht. So haben Kinder aus Haushalten, die den unteren 20 Prozent der Einkommensverteilung zugerechnet werden, ein signifikant höheres Verletzungserleben. Zahlen aus Deutschland zeigen, dass Kinder und Jugendliche mit niedrigem Sozialstatus seltener schwimmen können als Gleichaltrige mit hohem Sozialstatus. Das ist brisant, da jeder siebte tödliche Unfall bei Kindern unter 14 Jahren in Österreich durch Ertrinken passiert. Chronische Rückenschmerzen plagen von Kinderarmut betroffene Mädchen und Burschen häufiger als andere. Regelmäßige Schmerzen und Schlafschwierigkeiten wirken nicht nur auf das Wohlbefinden, sondern haben auch Effekte auf die schulische und soziale Teilhabe.
Kinderarmut in der Corona-Krise
Die Corona-Krise verschlimmert den Zusammenhang von Kinderarmut und Gesundheit noch weiter. Am Beispiel der Bewegungsmöglichkeiten im ersten Lockdown zeigt sich: Während Kindern aus bessergestellten Familien eine bewegungsorientierte Freizeitgestaltung mit eigenen Fahrrädern oder Lauf- und Ballspielen im Garten möglich war, traf armutsbetroffene Kinder und Jugendliche die Sperre von Parks und öffentlichen Erholungsräumen besonders. Zusätzlich leben 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in überbelegten Wohnungen. Armutsbetroffene Kinder und Jugendliche sind auch häufiger von psychosozialen Belastungen in der Corona-Krise betroffen.
Eine Umfrage unter 100 armutsbetroffenen Familien, die von der Volkshilfe Österreich durchgeführt wurde, zeigt, dass sechs von zehn Kindern (61%) laut ihren Eltern einsamer als vor der Corona-Krise sind. Mehr als die Hälfte der Mütter und Väter (57%) schätzen ihre Kinder jetzt trauriger ein. Eine aktuelle Studie der Universität Salzburg bestätigt, dass armutsbetroffene Kinder härter durch die Corona-Krise getroffen werden. Während in der allgemeinen Befragung zwei von zehn Kindern trauriger und einsamer sind, liegt der Anteil im Segment der Armutsbetroffenen drei Mal so hoch.
Ausbau der Versorgung dringend nötig
Die Corona-Krise hat gezeigt, wie wichtig Investitionen in ein öffentliches Gesundheitssystem für uns alle sind. Armutsbetroffene Kinder und Jugendliche sind aber in noch höherem Maße auf öffentliche Infrastruktur und Versorgung angewiesen, weil ihre Eltern mangelnde Ressourcen des Gesundheits- oder Bildungssystems nicht auf eigene Kosten ausgleichen können. Damit alle Kinder in Österreich die besten Möglichkeiten für ein Leben in psychischem und physischem Wohlbefinden haben, müssen wir um den Ausbau gesundheitlicher Infrastruktur kämpfen.
Dazu gehören etwa der Ausbau psychotherapeutischer Therapieplätze, die solidarische Kostenübernahme von Logopädie, Ergotherapie und Förderung bei Lese-Schreib-Rechtschreib-Schwächen. Langfristig braucht es eine eigenständige finanzielle Absicherung aller Kinder über eine Kindergrundsicherung, die vorhandene Benachteiligungen bei materieller Versorgung, Bildung und Soziales ebenso ausgleicht wie jene Benachteiligungen, die armutsbetroffene Kinder und Jugendliche im Bereich der Gesundheit erleben.