Kinder in der Pandemie: Durchseuchung und Leistungsdruck

Die Kapitulation vor dem Corona-Virus bedeutet eine Durchseuchung von Kleinkindern, auf Schüler*innen wird weiterhin massiver Leistungsdruck ausgeübt. Kinder sind eindeutig die Verlierer*innen in der Corona-Krise.

„Das Wort Durchseuchung ist ein negativ behaftetes Wording, ein Begriff, der Angst macht.“, meinte Katharina Reich, Leiterin des Krisenstabs GECKO, vor wenigen Tagen. Die Omikron-Variante sei so ansteckend, dass sich alle früher oder später damit infizieren – es sei denn, man ist durch die Impfung geschützt.

Wen Katharina Reich nicht erwähnte: Kinder unter fünf Jahren. 433.755 von ihnen lebten 2021 in Österreich. Sie können sich nicht impfen lassen. Und über sie sprechen wir seit Beginn der Pandemie kaum. 

Humankapital und Superspreader

Während Schüler*innen als „Humankapital“ (ehemaliger Bildungsminister Faßmann in einem Ö1-Interview im Mai 2020) unter Leistungsdruck gesetzt werden, sind Kindergartenkinder mit ihren Eltern und Kindergartenpädagog*innen in der Pandemieregulierung der Bundesregierung quasi unsichtbar.

Im ersten Lockdown waren die Kindergärten de facto geschlossen. Eltern, vor allem aber Mütter, füllten die Lücke durch Reduktion oder Verschiebung der Lohnarbeit in die Nacht- und frühen Morgenstunden. Kinder und Jugendliche galten in der ersten Welle der Corona-Krise als „Superspreader“, die ihre Großeltern gefährden.

Auf Grund der Schul- und Kindergartenschließungen, aber auch aller kinderrelevanter Freizeiteinrichtungen waren die Corona-Zahlen bei Kindern niedrig. Schnell entstand der Mythos, sie könnten gar kein Corona bekommen oder der Verlauf bei Kindern sei immer besonders mild.

Zugang zu Impfungen und Tests

Während Schüler*innen heute zumindest theoretisch Zugang zur Corona-Schutzimpfung haben, ist dieser für Kindergartenkinder kaum möglich. Kaum – denn wer über ausreichend soziales Kapital verfügt, kann sich unter der Hand die Liste jener Ärzt*innen erfragen, die auf Wunsch der Eltern Unter-Fünfjährige off-label impfen.

Flächendeckende Testungen von Kleinkindern sind österreichweit nicht vorhanden, das Burgenland ist hier Vorreiterin. Wer einen Lollipop-Test aus der Apotheke kauft, muss tief in die Tasche greifen und bekommt dafür am Ende lediglich einen Antigen-Test.

Durchseuchung bei Kindern und Jugendlichen

Spätestens im Herbst 2020 musste klar sein, dass Kinder das Virus nicht nur weitergeben, sondern selbst auch an Covid erkranken können. Zwischen 15 und 36 Prozent der Kinder haben gar keine Symptome, andere zeigen mildere Symptome als Erwachsene, unter anderem weil sie seltener Vorerkrankungen aufweisen.

Doch auch Kinder erleben gravierende gesundheitliche Belastungen während und nach einer Corona-Erkrankung. Besonders kritisch ist das PIMS/MISC-Syndrom, eine Überaktivierung des Immunsystems, die die Organe schädigt. Auch ist längst bekannt, dass Kinder an Long Covid erkranken können.

Dass schwere Verläufe in höheren Maße Risikokinder betreffen, darf kein Argument zur Durchseuchung sein, sondern ist angesichts von Kinderrechten ein weiterer gewichtiger Aspekt für scharfe Schutzmaßnahmen aller Kinder. Zahlen aus Südafrika zeigen, dass die Hospitalisierungsrate bei Kindern in der Omikron-Welle keineswegs zurückgehen, sie liegt sogar höher als in den vorangegangenen Wellen. Auch die USA melden erhöhte Hospitalisierungen.

Psychische Belastung

Covid ist auch ein Risiko für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen – ein Bereich, der bereits vor der Pandemie zu wenig beachtet und mit zu wenigen Ressourcen ausgestattet wurde. 62 Prozent der Mädchen und 38 Prozent der Burschen in Österreich weisen zurzeit eine mittelgradige depressive Symptomatik auf.

Doch worin liegen die Ursachen dieser Belastung? Vor einem Jahr haben wir im Rahmen eines Projekts der Volkshilfe Österreich 100 armutsbetroffene Familien gefragt, was Kinder besonders belastet. Die Ergebnisse sind einen zweiten Blick wert. Denn vor allem von liberalen Kräften wird die Schulschließung als Ursache für die psychische Belastung herangezogen, um die Umstellung auf das Distance Learning zu verhindern.

Sorgen und Ängste

Die Umfrage zeigt, dass sich ein Drittel der Befragten gesundheitliche Sorgen macht. Kinder haben Sorge, ihre Eltern, Geschwister oder Großeltern anzustecken. Gerade in armutsbetroffenen Familien gibt es noch häufiger chronische Erkrankungen und Hochrisiko-Fälle.

Jede fünfte Familie gibt an, dass ihre Kinder finanzielle Ängste haben – zum Beispiel wegen Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit der Eltern. Jene die am lautesten nach Schulöffnungen schreien, erwähnen diese Ängste nie. In der Studie der Volkshilfe Österreich äußern 50 Prozent Sorgen um Schule und Freundschaften. Leistungsdruck, fehlende technische Ausstattung und zu wenig Rückzugsmöglichkeiten in der Wohnung nennen Befragte in diesem Zusammenhang.

Die Studie unterstreicht, was Schüler*innen auch in der Öffentlichkeit kritisieren: Der Blick auf die psychische Belastung bleibt eindimensional, wenn nur offene oder geschlossene Schule zur Debatte stehen. Die Corona-Krise hat psychische und physische Belastungen für Kinder und Jugendliche verstärkt. Die Antwort darauf sollte die Auseinandersetzung mit einer Neugestaltung eines Schulsystems sein, das Kinder und Jugendliche schützt und fördert, nicht Durchseuchung.

Individualisierung der Pandemie

Die Strategie der Durchseuchung ist eine Kapitulation vor dem Virus. Die Entscheidung, ob man Kinder am Höhepunkt der Omikron-Welle in den Kindergarten oder in die Schule schickt, wurde individualisiert. Die Frage, ob man als berufstätiger Elternteil Homeoffice neben einer Zweijährigen machen kann, wurde individualisiert. Die Frage, wie man damit umgeht, wenn man kein Homeoffice machen kann, wurde individualisiert.

Das passt zu einem Familienbild, in dem die Sorgearbeit für Kinder allein in der Verantwortung der Eltern, meist aber der Frauen liegt. Wer als Alleinerziehende oder Armutsbetroffene keine Mittel hat, sich Schutzmaßnahmen für die Kinder zu organisieren, bleibt auf der Strecke.

Kinder haben Rechte, auch in der Pandemie. Eines der Prinzipien der Kinderrechtekonvention ist, dass das Wohl des Kindes immer Vorrang hat: Wann immer Entscheidungen getroffen werden, die sich auf Kinder auswirken können, muss das Wohl des Kindes vorrangig berücksichtigt werden. Sie haben das Recht auf Gesundheitsversorgung, auf Bildung, auf Freizeit – und auf Beteiligung. Nichts davon beachtete die Politik in der Pandemie nennenswert.

Bildung sicherer machen

Es wäre möglich, Schulen und Kindergärten sichererzu machen. Gerry Foitik, Michael Wagner und andere Expert*innen haben Empfehlungen und Grundregeln für den Infektionsschutz gegen die Übertragung von Covid in Schulen abgegeben.

Sie empfehlen darin, was schon lange hätte umgesetzt werden können:

  • dichtsitzende FFP2/FFP3-Masken
  • Maskenpausen bei offenem Fenster und Abstand zwischen den Schüler*innen
  • intervallartiges Stoßlüften während des Unterrichts und in den Pausen
  • CO2-Messgeräte in jedem Unterrichtsraum
  • Abluftventilatoren oder mobile Luftreiniger in den Klasse als Ergänzung zum Lüften
  • mindestens drei Mal wöchentlich verpflichtende PCR-Tests von Personal und Schüler*innen und das Vorliegen der PCR-Ergebnisse vor Unterrichtsbeginn, Quarantäne für betroffene Gruppen und Lehrkräfte ab zwei positiven Tests (sofern alle anderen Maßnahmen eingehalten wurden).

Für Kindergärten könnten neben den Aspekten der Luftqualität auch schärfere Test-Regelung für das Personal und die Eltern (dort, wo es für die Kinder noch schwierig möglich ist) geben. Die Abgabe von Lollipop-Tests für Kleinkinder wäre eine weitere Möglichkeit.

Kinder besser schützen

Was es außerdem bräuchte sind eine Corona-Sonderkarenz für Eltern, Rechtsanspruch auf Sonderbetreuungszeit, Long Covid-Programme für Kinder, Ausbau der Kinderpsychiatrien und Kinderpsychotherapieplätze auf Krankenschein, sowie den verstärkten Einsatz von  Schulpsychologie und -sozialarbeit. Die Politik muss den Leistungsdruck für Schüler*innen verringern und die Matura erneut entschärfen. Und es wäre notwendig, auf ein gut vorbereitetes Distance Learning umzusteigen – hier hat die Politik einmal mehr ihr Zeitfenster verpasst.

Wir können Kinder besser schützen, als wir es jetzt tun. Wenn (alle) Kinder für die Bundesregierung Priorität hätten.

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