Die verschenkte Amtszeit des Christian Kern

So hoffnungsvoll die Zeit von Christian Kern als SPÖ-Chef für viele begann, so enttäuschend endet sie nun. Sein Rücktritt richtet viel Schaden an, schwächt die ohnehin schwache Opposition weiter. Doch schon als Kanzler vergab er große Chancen und trug viel zum Rechtsrutsch in Österreich bei. Eine Analyse von Lukas Oberndorfer und Sonja Luksik.

Als Christian Kern gestern Abend schließlich fertig gesprochen hatte, huschte ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht. Sofortiger Rücktritt? Wechsel zu Gazprom? Mit diesen vorschnellen Meldungen hatten sich einige Medien schön blamiert. Kerns Flucht nach vorne, auf die SPÖ-Liste für die Wahl zum EU-Parlament, hatte alle überrascht. So endet also nach der kürzesten Kanzlerschaft der Zweiten Republik auch die kürzeste Zeit als Vorsitzender in der Geschichte der SPÖ. Werfen wir einen Blick zurück: zuerst auf die Umstände des Rücktritts, dann auf Kerns Amtszeit insgesamt.

Auf Kosten von SPÖ und ÖGB

Kern scheint zufrieden mit dem gestrigen Tag zu sein. Wie gerechtfertigt ist das? Erstens hat er seine Partei völlig überrumpelt. Die Landeshauptleute Peter Kaiser und Hans Niessl sagten zu Ö1, dass sie nicht vorab informiert wurden. Dasselbe gilt für die Nationalrats-Vizepräsidentin Doris Bures. Die SPÖ gibt nun ein noch schlechteres Bild ab als zuvor. Dazu kommt, dass Kern mit der Ankündigung seines Antritts bei der EU-Wahl die dafür zuständigen Partei-Gremien einfach übergangen hat. Er hat sich über alle innerparteiliche Demokratie hinweggesetzt und sich selbst zum Spitzenkandidaten gekürt. Das Argument, er habe aufgrund der Gerüchte keine andere Wahl mehr gehabt, überzeugt nicht. Ein einfaches Dementi „Kern schließt Rückzug aus der Politik aus“ hätte ausgereicht, um sich die nötige Zeit zu verschaffen.

Auch den Gewerkschaften hat dieses Vorgehen geschadet: Gestern trafen sich auf einer lang vorbereiteten Konferenz erstmals alle Kollektivvertrags-Verhandlungsteams, um gemeinsame Forderungen – etwa nach dem Recht auf eine Vier-Tage-Woche – festzulegen. Diesem Auftakt zum angekündigten „heißen Herbst“ der Gewerkschaften hat das Manöver die Öffentlichkeit gestohlen.

Warum dieser Zeitpunkt?

Diese Schäden waren für Kern bei der Wahl des Zeitpunkts offenkundig nebensächlich. Was sprach für diesen Termin? Zwei mögliche Argumente sind: Erstens treffen sich heute die Spitzen der sozialdemokratischen Parteien der EU in Salzburg. Kern kann sich ihnen nun sogleich als europäischer Spitzenkandidat anbieten, also seine Karriere fördern.

Zweitens scheint er mit seinem Manöver seine Nachfolge beeinflussen zu wollen – zugunsten von Pamela Rendi-Wagner. Denn soeben hat sich Hans-Peter Doskozil für das Burgenland entschieden und sagte folglich für den SPÖ-Vorsitz ab. Peter Kaiser will nicht nach Wien, Doris Bures hat ebenfalls kein Interesse. Die liberale Rendi-Wagner, die von Kern in die Politik geholt wurde, ist quasi die einzige verbleibende Kandidatin, die in der Öffentlichkeit einigermaßen positioniert ist. Mehr zu ihren Chancen später.

House of Cards für Selbstzerstörer

Fazit: Kern hat mit seinem Manöver die eigene Partei samt Verbündeten überrumpelt und damit beschädigt. Er schwächt sie zu einem Zeitpunkt, an dem Schwarz-Blau einen Angriff nach dem anderen auf die Rechte der arbeitenden Bevölkerung fährt und die Gewerkschaften versuchen, für den Herbst Tritt zu fassen. Kerns Vorgehen ist undemokratisch, unprofessionell und nützt letztlich vor allem der Regierung: House of Cards für Selbstzerstörer.

Start als Hoffnungsträger

Werfen wir nun einen Blick zurück auf die Amtszeit des Noch-SPÖ-Chefs. Als er am 17. Mai 2016 seine Antrittsrede hielt, war rasch klar: Kern hat Charisma und Eloquenz. Allein das war ein Fortschritt gegenüber Werner Faymann. Linksliberale in der SPÖ und den Medien waren verzaubert. Kern könnte in der Lage sein, so die Hoffnung, dem Umfragen-Höhenflug der FPÖ und dem Aufstieg von Sebastian Kurz in der ÖVP etwas entgegenzusetzen.

Damals war längst klar, dass Österreich rasant nach rechts rutschte. Nach dem Sommer der Migration 2015 feuerten FPÖ und Neue Rechte ihre lang vorbereiteten Erzählungen über ihre sorgfältig ausgebauten Medienkanäle und fanden damit immer mehr Anklang. Das alte Regierungsmodell des sozialpartnerschaftlich eingebetteten Neoliberalismus, das seit der Krise 2008 ins Straucheln gekommen war, war im Frühling 2016 endgültig am Ende.

Linksliberales Versagen

Doch Kerns Antrittsrede zeigte auch, dass er keinesfalls einen Linksschwenk plante: „Keine Sorge, ich will das inhaltliche Konzept von Corbyn und Sanders nicht abkupfern und nicht realisieren. Aber, wir können aus diesen Bewegungen lernen, wie man die Menschen einlädt, ein Stück des Weges mitzugehen, wenn man ihre Meinungen ernst nimmt.“ Sein Konzept lautete, wie schnell klar wurde: kein Bruch mit dem Neoliberalismus, sondern eine oberflächliche Modernisierung, um vor allem die SPÖ-Kanzlerschaft abzusichern. Kein Wunder: Kern hatte nicht die kämpferische Sozialisation eines Corbyn oder Sanders, sondern das Umfeld und die Lebensweise eines hochbezahlten Managers.

In diesem Moment versagten auch die Linken und Linksliberalen in der und rund um die SPÖ. Anstatt Druck auf den neuen Vorsitzenden zu organisieren, um ihn in die richtige Richtung zu zwingen, verfielen große Teile von ihnen in eine Anbetungshaltung. Etliche posierten unterwürfig als „Kernboy“ und „Kerngirl“. Auch als Kern im Oktober 2016 entgegen einem Mitgliederentscheid sein Ja zu CETA gab, rechtfertigte das etwa Robert Misik als „weitgehend schon richtig“.

Schwenk zum Neoliberalismus

Kern vergab damals eine riesige Chance. CETA hätte die perfekte Konfrontationslinie geboten, auch für eine Neuwahl: auf der einen Seite eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung, von Bauern und BäuerInnen bis zu den Gewerkschaften, von den Kirchen bis zu kleinen und mittleren Unternehmen; auf der anderen Seite die ÖVP und Industriellenvereinigung.

Christian Kern tat das Gegenteil. Statt die Mitterlehner-ÖVP mit einer Neuwahl unter günstigen Vorzeichen zu überrumpeln, erklärte er seine CETA-kritische Linie zum Fehler. Kern versuchte sich nun als neoliberaler Modernisierer zu positionieren. Das zeigte sich etwa am Plan A, den er im Frühjahr 2017 vorstellte. Der Verteilungsfrage ist auf den 148 Seiten ein einziger Absatz gewidmet. Stattdessen stellt er den ArbeitnehmerInnen-Schutz in Frage und spricht sich für eine Flexibilisierung der Arbeitszeit aus. Im Rückblick bereitete der Plan A den heutigen schwarz-blauen Angriffen den Boden.

Rechts von Faymann

Auf Basis des Plan A war es unmöglich, die soziale Frage in den Mittelpunkt zu rücken. Asyl, Migration und Menschenrechte blieben das bestimmende innenpolitische Thema. Kern setzte auf Opportunismus: Unter ihm wurde mittels Obergrenze das Menschenrecht auf Asyl per Notverordnung außer Kraft gesetzt. Dem EU-Türkei-Deportationsdeal, den UNHCR als menschenrechtswidrig einstuft, stimmte er euphorisch zu. Kern befürwortete das Abweisen von Flüchtlingen auf hoher See ohne Verfahren, was der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als klar grundrechtswidrig bewertete.

Im Wahlkampf schlug er gemeinsam mit Doskozil vor, alle Asylverfahren außerhalb Europas abzuwickeln und dazu Lager in Afrika zu bauen. Kern sprach sich sogar dafür aus, europäische SoldatInnen zur Bewachung dieser Lager einzusetzen. Er erntete dafür nicht dieselbe Empörung wie ein Jahr später der FPÖ-Abgeordnete Reinhard Bösch für einen nur geringfügig schlimmeren Vorschlag. Schließlich ebnete Kern sogar den Weg für eine Koalition mit der FPÖ, zu der es aber nicht kommen sollte.

Mit all dem stand Christian Kern deutlich rechts von Werner Faymann. Dabei war dieser gerade wegen seiner Umfaller in dieselbe Richtung zurecht aus dem Amt befördert worden. Durchgesetzt hatten den Obmannwechsel der liberale Block in der SPÖ und die kleingewordene Linke in der Partei. Weil sie sich aber nicht organisiert hatten, um weiterhin Druck auf den neuen Vorsitzenden auszuüben, hatten sie dessen Abrutschen nach rechts nichts entgegenzusetzen und wurden mitgeschleift.

Kurz tat, was Kern nicht schaffte

Wie sehr Christian Kern versagt hat, wird im Vergleich mit Sebastian Kurz deutlich. Kurz hat die Krise der alten Ordnung verstanden. Er wusste, dass er einen Bruch mit ihr setzen muss, so symbolisch dieser auch sein mag, um davon zu profitieren. Er inszenierte sich als Anti-Establishment, färbte die ÖVP türkis, setzte in der chronisch uneinigen Partei seine Ein-Mann-Herrschaft und ein rechtes Staatsprojekt im Interesse von Reichen und Konzernen durch.

Kern war zu einem vergleichbaren Bruch nach links, etwa beim Thema CETA, nicht bereit. Sein Zurückschrecken vor Neuwahlen nützte Kurz machtbewusst aus. Mit immer neuen Vorstößen, teilweise durchgeführt von seinem Zuarbeiter Innenminister Wolfgang Sobotka, zerrte er das politische Feld nach rechts. Jetzt triumphiert Kurz endgültig: Er hat Kern nicht nur das Kanzleramt abgenommen. Die Opposition ist nun, nach der Selbstausschaltung von Strolz, Pilz und Kern, mehr oder weniger ohne Führung und hat der Regierung nichts entgegenzusetzen.

Die Chancen von Rendi-Wagner

Wie kann es nun weitergehen? Nach den Absagen von Doskozil, Kaiser und Bures stehen die Chancen gut, dass Kern seine Wunschnachfolgerin Pamela Rendi-Wagner durchsetzen kann. Zweifellos könnte sie sich, gerade als erste Frau an der Spitze der SPÖ, auf einige Fans und öffentliche Zuneigung stützen. Doch gerade das schmälert die Chancen auf den nötigen Druck von unten, den Linke und Linksliberale in der SPÖ schon unter Kern nicht zustande brachten.

Wahrscheinlicher ist, dass Rendi-Wagner, die in der Partei nicht verankert ist, laufend Kompromisse mit dem rechten Lager in der SPÖ schließen muss. Damit laufen sie und ihre Unterstützer_innen Gefahr, die Politikmuster von und unter Christian Kern zu wiederholen.

Als Spitzenkandidat wie als Kanzler

Und Kern? Sollte er sich als EU-weiter sozialdemokratischer Spitzenkandidat durchsetzen, dürfte er auf eine demonstrativ „proeuropäische“ Linie setzen. In seiner gestrigen Rede bezeichnete er Europa als „leuchtende Stadt auf einem Hügel“, einem Sprachbild aus dem US-amerikanischen Nationalismus und kündigte eine große Schlacht um die EU an.

Romantik und Verteidigung des Status Quo, wo Kritik und Bruch mit dem Neoliberalismus und der autoritären Verhärtung der EU gefragt wären? Kern dürfte als Spitzenkandidat der SPÖ und allenfalls als Nummer 1 der Sozialdemokratischen Partei Europas auf dieselbe Linie setzen, mit der er schon als Kanzler und SPÖ-Chef gescheitert ist.

Lukas Oberndorfer ist Wissenschafter in Wien und arbeitet zur Frage, wie es seit der Krise in Europa zu einer autoritären Wende kommt, die Demokratie und Grundrechte einschränkt, um neoliberale Politik zu vertiefen. Du kannst ihm auf Twitter und Facebook folgen.

Sonja Luksik ist Politikwissenschafterin und arbeitet als politische Erwachsenenbildnerin.

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