Der spanische Staat reagiert mit offener Gewalt auf den Versuch, eine Volksabstimmung über ein unabhängiges Katalonien durchzuführen. Das ist schockierend. Aber darf man sich deshalb mit einem nationalistischen Projekt solidarisieren? Marcel Andreu über die demokratische Dimension der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung – und ihr fortschrittliches Potenzial.
Um zu verstehen, was in Katalonien geschieht, muss man sich von hierzulande vertrauten Vorstellungen von „Nationalismus“ verabschieden. Der katalanische Nationalismus ist nicht hauptsächlich von Wohlstandschauvinismus getrieben, er ist auch kein völkisch-rassistisches Projekt. Im Gegenteil: Alle Pro-Unabhängigkeits-Parteien unterstützten eine große Demonstration für die Aufnahme von Geflüchteten, erst unlängst forderten sie gemeinsam im Parlament die spanische Regierung auf, alle Schubhaftzentren zu schließen.
Republik gegen Diktatur
Symbolisch für seinen besonderen Charakter ist die Rolle des katalanischen Nationalismus in den bewegten 1930er Jahren. Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung war 1931 eine der stärksten Impulsgeberinnen für die Gründung der spanischen Republik. Die Republik markierte einen demokratischen Aufbruch gegen eine dahinsiechende Monarchie, die zuvor jahrelang eine Militärdiktatur geduldet hatte, um die sozialen Verwerfungen in Spanien in Schach zu halten.
Ab 1936 gehörte der katalanische Nationalismus zu den erbittertsten Gegnern der faschistischen Putschist*innen, deren Sieg später die Franco-Diktatur hervorbrachte. Dieser Putsch war gegen eine massiv erstarkende Linke, aber auch gegen die Autonomiebestrebungen in Katalonien und dem Baskenland gerichtet. Franco verbot die katalanischen Institutionen und die Sprache. Erst mit dem Ende der Diktatur Ende der 1970er Jahre konnte Katalonien wieder eine gewisse Autonomie erlangen.
Hier liegt aber auch der Kern des Problems: Nämlich in der völlig unzureichenden, unter Putschandrohung des Militärs am Verhandlungstisch paktierten spanischen Verfassung von 1978. Diese gestand den Nationen im spanischen Staat zwar Autonomierechte zu, aber nur so viele, wie nötig waren, um die katalanischen und baskischen Eliten ins Boot zu holen für einen sanften Übergang – und eben nicht radikalen Bruch – von Francos Diktatur zur Demokratie.
Franco Reloaded?
Die Regierung, die jetzt tausende Polizist*innen nach Katalonien schickt, um die Unabhängigkeitsbewegung niederzuschlagen, wird vom Partido Popular geführt. Die Partei ist das Auffangbecken der straflos davongekommenen franquistischen Eliten. Man könnte also meinen, dass hier abermals ein repressiver Zentralstaat von den fortschrittlichen Entwicklungen an seinen Rändern überholt wird und so reagiert, wie er es immer tut.
Ganz so einfach ist es aber nicht. Auch wenn es im spanischen Staat nach wie vor viele Kontinuitäten mit der Franco-Diktatur gibt, ist Ministerpräsident Mariano Rajoy doch kein faschistischer General. Und die Stärke der katalanischen Bewegung hat durchaus profanere Gründe als den unbedingten Willen des heldenhaften katalanischen Volkes nach Freiheit und Demokratie.
Warum gerade jetzt?
In den letzten Jahrzehnten waren die Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien relativ schwach. Um zu verstehen, warum sie jetzt wieder so sehr an Fahrt aufgenommen haben, müssen wir in die jüngere Geschichte zurückblicken. 2006, unter der ersten linken Regierung Kataloniens seit Ende der Diktatur, wurde eine Reform und Ausweitung des bestehenden Autonomiestatuts mit großer Mehrheit in einer Volksabstimmung beschlossen.
Dieses Statut wurde jedoch 2010 vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. Das war der Startschuss für die neue Unabhängigkeitsbewegung: Ein Scheitern des spanischen Staates, auf den katalanischen Wunsch nach Autonomie einzugehen.
Nationalismus von oben?
Ein weiterer Faktor ist die liberal-konservative langjährige de-facto-Staatspartei PDeCAT (früher unter dem Namen CiU in ihrer Bedeutung für Katalonien vergleichbar mit der CSU in Bayern, wenngleich deutlich liberaler). Nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, als sie wieder die katalanische Regierung stellte, geriet die Partei unter enormen Druck. Um von Korruptionsskandalen und drastischen Kürzungsmaßnahmen abzulenken, entdeckte sie das Anliegen der Unabhängigkeit wieder für sich. Nach dem Motto: Wenn die spanische Regierung uns nicht so viel Geld nehmen würde, dann müssten wir nicht so stark kürzen.
Deshalb stand die spanienweite, föderale Linke dem Wiederaufflammen der Unabhängigkeitsbewegung sehr skeptisch gegenüber. Vieles deutete darauf hin, dass es sich um ein Ablenkungs- und Erholungsmanöver einer Eliten-Partei handelte, die zuvor jahrzehntelang in Harmonie mit dem spanischen Staat gelebt hatte.
Getriebene Eliten in Katalonien
Falls das der Plan der PDeCAT war, dann ging er nur bedingt auf. Unter den parlamentarischen Kräften, die sich für die Unabhängigkeit einsetzen, wurde die PDeCAT trotz aller nationalistischen Bemühungen von der linksliberalen ERC überflügelt, die in den 1930ern die katalanische Republik ausgerufen hatte. Mit der linksradikalen CUP existiert in der separatistischen Koalition zudem eine Kraft, die mit der Unabhängigkeit die Forderung nach weitreichenden sozialen Umwälzungen verbindet. An der CUP wird der besondere Charakter des katalanischen Nationalismus besonders deutlich: Sehr offen benennt sie die Unabhängigkeit nicht als nationales Ziel an sich, sondern als strategische „Station“ zu einer besseren Gesellschaft.
Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung hat sich also zu einem gewissen Grad verselbstständigt. Sie kann längst nicht mehr als von oben inszenierte Polit-Show gesehen werden, als Rettungsmanöver der katalanischen Rechten. Die katalanischen Eliten wirken vielmehr selbst wie von den Ereignissen getrieben.
Unabsichtlicher Linksruck?
Ist die katalanische Unabhängigkeitsbewegung also aus Versehen zum gesamtgesellschaftlichen Linksruck geworden? Jein. Klar ist: Die katalanische Rechte hat es bis dato nicht geschafft, sich zu erholen. Die Unabhängigkeit spaltet das katalanische Kapital. Der Anschlag der spanischen Regierung auf die katalanische Demokratie bringt eine breite Bewegung von unten hervor, die sich – ob für die Unabhängigkeit oder dagegen – gegen den autoritären Geist des spanischen Staates auflehnt. Die katalanische Unabhängigkeit bietet die Möglichkeit für ein neues, demokratisches Staatsverständnis, für den endgültigen Bruch mit Franco nicht nur in Katalonien, sondern in ganz Spanien. Es handelt sich um eine offene Situation, die auch Spielräume für die Linke öffnet.
Gleichzeitig sollte man die katalanische Rechte nicht unterschätzen, der dieser Raum ebenfalls offensteht. Die Klassengesellschaft ist in Katalonien auch im nationalen Schulterschluss nicht aufgehoben. Es ist keineswegs sicher, dass die katalanische Linke in einer möglichen Neusortierung der Verhältnisse wirklich jene Macht bekommt, die sie sich erhofft, „um alles zu verändern“, wie ein bekannter Slogan der linksradikalen CUP lautet. Davon abgesehen, dass die demokratische Legitimität dieser Volksabstimmung auch unter Befürworter*innen des „Rechtes zu entscheiden“ umstritten ist. Nicht ganz zu Unrecht kritisierte die föderale Linke mangelhafte demokratische Garantien und gesellschaftliche Diskussionsprozesse im Vorfeld der Abstimmung. Und in Spanien selbst kann die nationalistische Polarisierung schlimmstenfalls zu einem weiteren Erstarken der Rechten führen.
Die große Chance
Was in den letzten Tagen aber deutlich geworden ist, dass diese Auseinandersetzung von keiner der beteiligten Kräfte mehr kontrollierbar ist. Das kann gut, aber auch mächtig schief gehen. Dass aber mit einer selbstorganisierten Bevölkerung in den letzten Tagen ein neuer mächtiger Player hinzugekommen ist, stellt gemeinsam mit dem klaren und deutlichen Übergang von einer nationalistischen zu einer demokratischen Auseinandersetzung eine neue Qualität dar. Diejenigen, die gestern und in den letzten Wochen ihre kollektive Macht spürten, mögen vielleicht bald enttäuscht werden. Aber ganz sicher entstehen hier auch wertvolle Erfahrungen, die die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der nächsten Jahre prägen können.
Katalonien ist kein antirassistisches Schlaraffenland. Es ist keine klassenlose Gesellschaft. Jede nationalistische Polarisierung bringt ihre Abscheulichkeiten mit sich, seien sie auch marginal. Aber die katalanische Bewegung ist bei allen Unsicherheiten die größte Chance auf einen Bruch mit der versteinerten Post-Franco-Monarchie seit langem. Dieser Bruch ist längst überfällig. Und mit diesem Anliegen sollten wir unbedingt solidarisch sein. Im besten Fall erreichen die Schockwellen dieser Entwicklung auch den Rest Europas.