Katalonien: „Die Unterdrückung stärkt die Bewegung nur“

Kann Katalonien heute abstimmen oder nicht? In jedem Fall nützt die Repression der Zentralregierung der Unabhängigkeitsbewegung und potenziell der Linken in ganz Spanien, sagt Pablo Elorduy.

Heute will Katalonien über seine Unabhängigkeit abstimmen – und der spanische Staat tut alles, um das zu verhindern. In den letzten Wochen ließ er Mitglieder der katalonischen Regierung verhaften, Wahlurnen und Stimmzettel beschlagnahmen. Tausende Polizist*innen aus ganz Spanien wurden in die Region verlegt. Auch die Linke Rest-Spaniens blickt gespannt nach Katalonien. Fabian Hillebrand und Jonathan Welker sprachen in Madrid mit Pablo Elorduy, leitender Politikredakteur der Zeitung „El Salto“.

Der spanische Staat hat versucht, mit einer Welle der Repression das Unabhängigkeits-Referendum zu verhindern. Hat dich diese harte Reaktion überrascht?

Doch, das hat mich erstaunt. Es gab ja noch ein offenes juristisches Verfahren – also eigentlich keinen Anlass für eine derartige Zuspitzung. Nicht, dass man so etwas dem Staat nicht zugetraut hätte. Aber es überrascht mich doch, dass die spanische Regierung so unfähig ist, eine demokratische, eine politische Antwort zu geben.

Sie versucht, ein politisches Problem mit Gewalt zu lösen. Damit meine ich nicht nur, dass es Festnahmen gab und die Polizei in den Straßen präsent ist. Ich überhaupt die Vorstellung, dass man solche Probleme mit Gewalt lösen könnte.

Die repressiven Maßnahmen sind also wirkungslos?

Nicht nur das. Die Repression ist nicht nur völlig unverhältnismäßig, sie ist auch strategisch sehr unklug. Vor wenigen Monaten war das Referendum praktisch bedeutungslos. Vielleicht wäre es sogar gescheitert.

Die Unterdrückung weckt jetzt die Sympathien aller, die denken, dass die Leute selbst über ihr Schicksal bestimmen dürfen. Sie hat die Bewegung für die Unabhängigkeit in eine zur Verteidigung der Demokratie verwandelt und stärkt sie damit nur. Jetzt verteidigen Menschen das Referendum, die vorher nicht an eine Abstimmung geglaubt haben.

Wie konnte es überhaupt zu dieser Zuspitzung kommen?

Um das zu verstehen, muss man die letzten zehn Jahre betrachten. Schon 2006 versuchte die Unabhängigkeitsbewegung das sogenannte „Estatut“ durchzusetzen, ein Autonomieabkommen für Katalonien. Damals war sie in einer absoluten Minderheitenposition, hatte vielleicht 10 Prozent der Bevölkerung hinter sich. Doch die Zentralregierung in Madrid reagierte mit harter Repression. Sie brachte das „Estatut“ vor das Verfassungsgericht, wo es verboten wurde.

Das war der Moment, in dem viele Menschen in Katalonien gesagt haben: „Wir haben genug von den Erniedrigungen und Beleidigungen der Zentralregierung!“ Von da an begann die Unabhängigkeitsbewegung zu wachsen.

Die katalonische Unabhängigkeit hat also nicht immer eine so große Rolle gespielt wie aktuell?

Nein, auf keinen Fall. In den 1990er Jahren, als ich politisch aktiv wurde, spielte die katalonische Unabhängigkeit nahezu keine Rolle. Damals war es die baskische Unabhängigkeitsbewegung, zu der man Position beziehen musste. Die Bewegung in Katalonien war sehr klein. Der „Katalanismus“ beschränkte sich auf Brauchtumspflege und forderte mehr Mitsprache ein.

Warum dieser große Unterschied zwischen dem Baskenland und Katalonien?

Die baskische Linke war zu dieser Zeit sehr stark. Sie war sozial verankert, hatte mächtige eigene Gewerkschaften. Diesen Rückhalt gab es in Katalonien nicht. Auch damals ging es im Grunde um einen Bruch mit dem „Regime von ’78“.

Als Regime von ’78 bezeichnen wir den gesellschaftlichen Kompromiss, der nach dem Ende der Franco-Diktatur ausgehandelt wurde. Dieser Kompromiss ist von zahlreichen faschistischen Kontinuitäten gezeichnet. Viele Linke sind der Meinung, dass ein Bruch mit ’78 eine notwendige Voraussetzung ist, um das Land verändern zu können. In Katalonien stellte sich diese Frage politisch aber lange Zeit gar nicht. Die Unabhängigkeitsbewegung spielt erst seit relativ kurzer Zeit eine wichtige Rolle, auch für die katalonische Linke.

Das hat sich aber durch die aktuellen Entwicklungen geändert, oder? Steht jetzt der Bruch mit dem Regime von ’78 auf der Tagesordnung?

Lange hielt das kaum jemand für realistisch. Auch Podemos hat sich lange um diese Frage gedrückt und sich stattdessen darauf konzentriert, die Opposition zur konservativen PP zu bilden. Die aktuelle Situation in Katalonien setzt die Notwendigkeit eines solchen Bruches erstmals wieder auf die Tagesordnung.

Denn jetzt wird deutlich: Die Verfassung funktioniert weder in Katalonien, noch im Rest des spanischen Staates. Dadurch geraten viele politische Konstanten ins Wanken, und das ist gut so.

Was würde denn im Rest Spaniens passieren, sollte Katalonien wirklich unabhängig werden?

Eine unabhängige Republik Katalonien würde eine Kettenreaktion auslösen. Andere republikanische Bewegungen würden sehen: Das funktioniert, ohne Mord und Totschlag auf den Straßen.

Die Bewegung im Baskenland würde sicher versuchen, einen ähnlichen Weg einzuschlagen. In dieser Hinsicht birgt die Situation in Katalonien eine große Chance für die Linke im Rest des Staates. Denn sie ruft die Frage nach einem konstituierenden Prozess wieder auf.

Was meinst du mit konstituierendem Prozess?

Seit Jahren ist klar, dass sich in ganz Spanien Grundlegendes ändern muss. Das bezeichnen wir als „konstituierenden Prozess“. Das bedeutet nicht nur, dass es eine neue Verfassung geben muss. Die Grundfesten des gesellschaftlichen Konsenses müssen neu entwickelt werden.

Wir müssen in allen Bereichen der Gesellschaft demokratisch neue Vereinbarungen aushandeln. Dazu gehört selbstverständlich auch die Frage der Autonomie der unterschiedlichen Nationen im spanischen Staat.

Hätte eine Unabhängigkeit Kataloniens denn keine Nachteile für die restliche spanische Linke?

Doch, sicherlich. Hier in Madrid etwa ist die Situation komplex. Eine Unabhängigkeit Kataloniens und des Baskenlandes würde Madrid mit dem Rest Spaniens, also den konservativsten Teilen des Landes, alleine lassen. Trotzdem sehe ich die aktuellen Entwicklungen als Chance.

Es wird überhaupt wieder über die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen geredet. Das ist großartig. Außerdem schaden die Entwicklungen der Monarchie und der spanische Regierung. Ihre Macht wird in Frage gestellt. Das ist auch der Grund für die starke Repression. Ich fürchte, dass das Regime alles tun wird, um das Referendum zu verhindern.

Pablo Elorduy (@pelorduy) ist leitender Politikredakteur der linken Zeitung El Salto in Madrid.

Fabian Hillebrand (@Linksbuendig) macht sich an der Uni und in der Zeitung Gedanken zu sozialen Bewegungen und Südeuropa.

Jonathan Welker ist stadtpolitisch in Berlin aktiv und studiert Geschichte. Wenn er Zeit hat arbeitet er gerne journalistisch mit Text und Video.

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