In vielen amerikanischen Ländern wird am 12. Oktober die Ankunft von Kolumbus in „der Neuen Welt“ gefeiert. Für die Menschen, die bereits seit mehreren Jahrhunderten dort lebten, begann mit diesem Tag eine leiderfüllte Geschichte der Gewalt. Sie begehen ihn als „Tag des indigenen Widerstands”, an welchem sie des Völkermords, des Landraubs, der Sklaverei, der Vergewaltigungen gedenken und für ihre Rechte demonstrieren. Wie die Situation heute ist, erfahren wir im Gespräch mit einem Vertreter der Guarani Kaiowá aus Mato Grosso do Sul, Brasilien.
Der Amazonas brennt! Noch immer! Eine Katastrophe, die der indigenen Bevölkerung Brasiliens zunehmend ihre Lebensgrundlage entzieht. Indigene sind nicht erst seit Amtsantritt des rechtsextremen, neoliberal-autoritären Jair Bolsonaros von der massiven Umweltzerstörung ihrer Siedlungsgebiete betroffen. Sie setzen sich seit Jahrhunderten gegen Landnahmen zu Wehr. Eine der größten Bedrohungen ist seit mehreren Jahrzehnten die stetige Ausweitung der großbetrieblichen, industriellen Landwirtschaft. Dies betrifft nicht nur die Amazonasregion, sondern das gesamte Land.
Kampf um den dichten Wald
So lebt der Großteil der Guarani, die mit 85.000 Personen das populationsreichste indigene Volk Brasiliens darstellen, im Südwesten Brasiliens an der Grenze zu Paraguay. Vom einstigen Wald, der dem Bundesstaat „Mato Grosso do Sul“ (dt. „Dichter Wald des Südens“) seinen Namen gab, ist nicht viel übrig. Die ursprünglichen Bewohnerinnen und Bewohner des großen Waldes wurden auf 0,7 Prozent ihres ursprünglichen Territoriums zusammengedrängt. Der Großteil lebt in überfüllten Reservaten, viele aber auch in improvisierten Siedlungen auf jenem Land, von dem ihre Familien vertrieben wurden. Beinah alltäglich sind dabei Bedrohungen und gewaltvolle Übergriffe durch Großgrundbesitzer, die nicht selten mit dem Mord an indigenen Führungspersonen und Gemeindemitgliedern enden.
Kristina Kroyer hat sich für Mosaik mit Eliel Benites, indigener Lehrer, Akademiker und politische Führungsperson der Guarani Kaiowá, über die Auswirkungen der Entwaldung, die gegenwärtige brasilianische Politik und den Kampf für eine Zukunft, sowohl für die Guarani als auch für den Planeten, unterhalten.
Im Moment richtet die Welt ihre Aufmerksamkeit auf die Brände im Amazonasgebiet. Im Bundesstaat Mato Grosso do Sul geht die sukzessive Entwaldung bereits seit über 100 Jahren von statten. Was hat sich in dieser Zeit für die dort lebenden Guarani verändert?
Eliel Benites: Die Abholzung in unserem Gebiet war sehr intensiv und passierte vor allem in den 1960er und 1970er Jahren. Das Territorium der Guarani ist ein Gebiet mit nährstoffreichem Boden, auf dem es einen großen Wald gab, ähnlich wie der Amazonas: dicht und tropisch. Hier haben die Guarani ihre Lebensmittel angebaut und es gab viel zu jagen und zu fischen. Die Region dient heute zu großem Teil dem Agrarbusiness, der Produktion von Zuckerrohr, Soja sowie der Viehwirtschaft.
Der damit einhergehende Prozess war ein sehr gewaltsamer. Die Gewalt, die gegenüber den Guarani Kaiowá angewendet wurde, um diese Produktionsweisen zu etablieren, hat unser Volk tief geprägt. Die Auswirkungen führen zu Schwierigkeiten, eine gute Ernährung zu sichern und unsere Lebensweise und Sprache zu erhalten, und beeinträchtigen alle Aspekte unseres sozialen Lebens, unsere Gesundheit und den Erhalt traditioneller Werte. Das heutige Produktionsmodell in unserer Region ist die Konsequenz eines historischen Modells der Gewalt.
Die Verbreitung dieser Produktionsmodelle führte für die Guarani zum Verlust ihres Landes. Heute leben die meisten Guarani in Reservaten und kleinen Gebieten, die von den Feldern und Weiden der Großgrundbesitzer umgeben sind. Wie wirkt sich dies auf die Gemeinden aus?
Ab den 80er und 90er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts begannen die Guarani Kaiowá in ihr traditionelles Land zurückzukehren. Zu diesem Zeitpunkt lebte ein Großteil der Guarani bereits in acht vom Staat gegründeten Reservaten. Das sind sehr kleine Gebiete, die das Ziel hatten, die gesamte indigene Bevölkerung der Region zu konzentrieren, um das restliche Land von Indigenen zu befreien und für die kapitalistische Produktion zu öffnen. Heute nennen wir die Rückkehr auf traditionelles Land „retomadas“ [dt. Wiedereinnahme]. Es gibt sehr viele dieser Gemeinden, doch sind diese Gebiete heute zerstört: Es gibt keinen Wald mehr, nur importiertes Weidegras. Das macht es schwierig wieder ein Dorf aufzubauen und die ursprüngliche Reichhaltigkeit wieder herzustellen. Hinzu kommt der Rassismus und die Diskriminierung durch die restliche Gesellschaft, welche die „retomadas“ als Invasionen begreift. Diese Idee wird durch lokale und nationale Medien und heute sogar durch die Regierung selbst geprägt und verstärkt.
Seit Beginn des Jahres ist Jair Bolsonaro im Amt, ein Präsident der sich offen gegen die Interessen indigener Völker ausspricht. Wie hat sich der Regierungswechsel auf die Situation der Guarani Kaiowá ausgewirkt?
Vor dieser Regierung hatten wir eine relativ gute Perspektive, denn die FUNAI – die offizielle Behörde des Staates, die sich um die Anliegen indigener Völker kümmert – hatte bereits einige Territorien als indigenes Land deklariert. Dies ist der erste Schritt für die Legitimierung und Regulierung von traditionellem Land. Darauf folgt die Homologation [Genehmigung] und Demarkierung [definitive Grenzziehung] des Landes. Mit dem Regierungswechsel jedoch wurden diese Deklarationen annulliert und der damit verbundene Demarkierungsprozess in seiner Gesamtheit in Frage gestellt. Hinzu kommt die beinahe vollständige Zerstörung der zuvor etablierten Indigenenpolitik in Brasilien. Im Moment gibt es keine öffentliche Politik, welche die kulturelle Diversität, den Erhalt der Sprachen, den Schutz von Territorien fördert. Es gibt sie in der Gesetzgebung [Anm.: in der Verfassung von 1988 verankert], aber diese wird nicht in die Praxis umgesetzt.
Besonders in den „retomada“ Gebieten kommt es seitens der Landbesitzer oft zu Übergriffen auf indigene Gruppen. Hat sich das im letzten Jahr intensiviert?
Der Unterschied in Bezug auf die Gewalt hat mit dem Umgang der Regierung Bolsonaros mit der Indigenenfrage zu tun, und diese hängt mit der Umweltfrage zusammen. Schon zuvor wurde Gewalt ausgeübt, doch wurde diese von der Staatsspitze abgelehnt. Heute hingegen wird Gewalt gegen indigene Völker und ihre Umwelt nicht nur ausgeübt, sie wird sogar von der Regierung gefördert. Diese ermutigt zur Diskriminierung und stellt die gesamte indigene Agenda als kommunistisch, antidemokratisch und antibrasilianisch dar. Die Delegitimierung indigener Anliegen in der Öffentlichkeit normalisieren die Gewalt gegen indigene Völker. Wir haben noch keine Statistik, aber ich vermute, dass die Zahl der ermordeten indigenen Führungspersonen mittelfristig steigen wird, besonders bei den Guarani Kaiowá.
Bereits seit den 1980er Jahre existiert eine starke indigene Widerstandsbewegung bei den Guarani. Wie organisiert sich die Guarani Kaiowá Bewegung? Für was kämpft sie?
In der indigenen Bewegung der Guarani Kaiowá haben wir die sogenannten Aty Guasu (dt. „große Versammlung“) der Guarani Kaiowá Führungspersonen, die in den 1980er Jahren entstand. Darüber hinaus gibt es die Bewegung der Frauen (Aty Kunha), der Jugend (Aty Jovens), und der Guarani Kaiowá LehrerInnen. Angesichts des Abbaus der indigenen Rechte, den die derzeitige Regierung betreibt, besteht in der indigenen Bewegung unserer Region sehr viel Klarheit darüber, wo wir uns dabei verorten.
Wir haben viele stark politisierte Personen mit bewusster Ausdrucksweise und verfolgen die Strategie die Bewegung nach innen zu stärken, damit alle Personen die Wichtigkeit des Kampfes um unsere Rechte, um unser Land, um unsere Sprache und unsere traditionellen Werte verstehen. Ein Netzwerk von Personen und Unterstützenden hilft dabei, dass unsere Anliegen auch in der nationalen und internationalen Gesellschaft verstanden werden. Denn indigene Agenden sind nicht nur Anliegen der Guarani – die Frage des Amazonas und des Kampfes um unsere Umwelt sind von globaler Wichtigkeit. Der indigene Kampf zeigt einen alternativen Weg für unseren Planeten, der Lebensqualität bringt. Er ist nicht isoliert, sondern an vorderster Front wenn es um die Suche nach Lösungen für unsere, sich in einer Krise befindenden Gesellschaft geht.
Du sprichst die globale Umweltkrise an, in der wir uns befinden und für die es ein wachsendes Bewusstsein gibt. Was muss sich in Brasilien und Europa ändern, um die Krise zu bewältigen?
Das vorherrschende landwirtschaftliche Modell in unserer Region – die Monokultur von Soja und Zuckerrohr, die Massenproduktion von Rindfleisch – ist ein sehr räuberisches Produktionsmodell. Es zerstört die Umwelt. Durch Export und Import investiert Europa in das ökonomische Modell in Brasilien, was zu den Problemen führt, die wir hier haben. Jeder politische Standpunkt bezieht sich auf die Vision einer Gesellschaft. Eure Verantwortung ist es daher, sich für dieses Finanzierungssystem verantwortlich zu machen und zu einer verantwortungsvolleren Produktion hier in Brasilien beizutragen. Verändert sich die Produktionsweise in Brasilien, wirkt sich das positiv auf die Umwelt und die Einstellung der Gesellschaft aus.
Vom indigenen Kampf kann man dabei viel lernen. Das Produktionssystem der Guarani Kaiowá hat Jahrtausende durchlebt. Umwelt ist dabei Teil der eigenen Entwicklung. Das Ökosystem und die Lebensweise der Guarani Kaiowá bedingen sich gegenseitig. Unser Kampf sollte daher auf nationaler und internationaler Ebene verstanden werden. Auch die Amazonasregion ist keine isolierte Region im Norden von Brasilien, sie ist für zahlreiche Klimazonen in Brasilien und Lateinamerika verantwortlich. Wenn der Amazonasregenwald zerstört wird, wird unsere Region zur Wüste. Daher muss Amazonien in diesen größeren Zusammenhängen und in Verbindung zu den indigenen Völkern, die zur Stärkung dieses Ökosystems beitragen, verstanden werden. Ich denke, der indigene Kampf ist ein Weg, den wir erkennen können um eine Lösung für die Menschheit zu finden.
Bei der 2. Tagung der Guarani Ethnologie in São Paulo Ende September 2019, wurde von den zahlreich vertretenen Guarani Führerinnen und Führern ein Aufruf zum „Kampf gegen das Ende der Welt“ verfasst, der hier unterschrieben werden kann.
Kristina Kroyer studierte internationale Entwicklung und forschte zum Thema indigene Jugend in Brasilien. Sie arbeitet als Projektkoordinatorin in der Entwicklungszusammenarbeit.