Italien: Krise, Verfassungsreform und autoritäre Wende

Am 4. Dezember findet nicht nur die zweite Stichwahl für die Funktion des österreichischen Bundespräsidenten statt, sondern auch ein entscheidendes Verfassungsreferendum in Italien. Letzteres könnte ein politisches Erdbeben auslösen, das ganz Europa erschüttert, so Gernot Trausmuth:

Italien droht seit Monaten zum nächsten zentralen Krisenherd zu werden. Die hohe Staatsverschuldung, der angeschlagene Bankensektor, der unter der Last fauler Kredite nach Jahren der schwachen Konjunktur leidet: Das sind die Faktoren, die das Land zu einem der schwächsten Glieder des europäischen Kapitalismus machen. Die extrem arbeiterInnenfeindliche Arbeitsmarktreform (Jobs Act) der Mitte-Links-Regierung von Matteo Renzi hat entgegen deren Versprechen keinen positiven Effekt auf die Beschäftigung, vielmehr sinkt die Zahl der angebotenen Arbeitsplätze weiter.

Bedeutung der Verfassungsreform

Die Regierung reagiert auf diese schwierige ökonomische Lage mit dem Plan einer Reform der Verfassung. Die geplanten Änderungen deuten alle in dieselbe Richtung: Es geht um eine Stärkung der Machtbefugnisse der Regierung und um eine Einschränkung der Rechte des Parlaments.

Der Bevölkerung soll die Reform mit dem Argument schmackhaft gemacht werden, dass dadurch die „Kosten für das politische System“, z.B. durch die Abschaffung der zweiten Parlamentskammer, dem Senat, sinken würden. Wie so oft klaffen auch hier Realität und Propaganda weit auseinander. Der Senat wird nämlich gar nicht abgeschafft, sondern es ändert sich nur die Zusammensetzung. In Zukunft sollen die Senatsmitglieder nicht mehr direkt von den BürgerInnen gewählt werden, sondern aus den Reihen der Regionalräte sowie der BürgermeisterInnen kommen bzw. vom Staatspräsidenten nominiert werden. Die Kosten sinken dadurch kaum. Die Regierung muss sich zukünftig aber bei Vertrauensabstimmungen nicht mehr dem Senat stellen.

Die Macht der Regierung wird jedenfalls ausgeweitet. So soll es möglich werden, dass das Parlament von der Regierung aufgefordert werden kann, in einer bestimmten Sitzung Maßnahmen auf die Tagesordnung zu setzen, die sie für essentiell erachtet. Die Maßnahmen müssen dann prioritär im Parlament behandelt werden. Diese Verfassungsänderungen gehen Hand in Hand mit einem neuen Wahlgesetz, dem Italicum, die der stimmenstärksten Liste die absolute Mehrheit der Parlamentssitze garantiert.

Mit diesen Maßnahmen, die auf eine autoritäre Wende hinauslaufen, soll Italien „regierbarer“ gemacht werden. Wer ein Interesse daran hat, zeigt sich sehr deutlich an der Liste der BefürworterInnen der Verfassungsreform.

Die Interessen hinter dem „SI“

Angestoßen wurde die Debatte bereits 2013, am vorläufigen Höhepunkt der Euro-Krise. Damals hat der Finanzriese JP Morgan davor gewarnt, dass die Verfassungen in Südeuropa, die allesamt das Produkt antifaschistischer Massenbewegungen waren, „einen starken Einfluss sozialistischer Ideen zeigen“. Die italienische Verfassung entstand nach der Befreiung vom Faschismus und enthält eine Vielzahl sozialer und politischer Rechte. Auch wenn diese Verfassung nie zur Gänze in die Tat umgesetzt wurde, so stellt sie doch ein Hindernis bei der kapitalistischen Lösung der Krise dar.

Angesichts der tiefsten Wirtschaftskrise der Geschichte des Kapitalismus und der zunehmenden sozialen Instabilität ist es aus der Perspektive des Kapitals unerlässlich, dass die Möglichkeiten einer demokratischen Kontrolle der Regierungen eingeschränkt werden. Dem liegt die These zugrunde, dass es in den westlichen Staaten zu viel Demokratie gibt, was eine Umsetzung notwendiger „Reformen“ (sprich: Austerität ohne Ende und Angriffe auf die Rechte der Menschen) erschwert.

Neben JP Morgan, das in Italien wichtige Interessen verfolgt (z.B. bei der Abwicklung der Krise der Großbank Monte die Paschi di Siena), machen auch die Ratingagenturen Moody’s und Fitch Stimmung für ein „SI“ (ein Ja). Sie drohen recht ungeschminkt, dass Italien bei einem „Nein“ höhere Zinsen auf Staatsanleihen zahlen müsste. Die Financial Times hat auf den Punkt gebracht, worum es bei diesem Referendum geht: Die „wirtschaftsfeindliche“ Stimmung muss überwunden werden. Und auch das Who is Who der italienischen Großbourgeoisie von De Benedetti (Eigentümer der Industrieholding CIR) bis FIAT-Boss Marchionne hoffen auf ein „SI“. Eugenio Scalfari, Gründer der Tageszeitung „La Repubblica“, schrieb im Zuge dieser Debatte einen vielbeachteten Kommentar, indem er die Oligarchie als die „einzige Form der Demokratie“  bezeichnete. Nur wenn wenige am Lenkrad sitzen, und die Bevölkerung wie Passagiere führen, könne Demokratie funktionieren. Als Vorbild zitierte Scalfari sogar die Entscheidungsmechanismen der katholischen Kirche. Derart offene Worte über den Charakter der bürgerlichen Demokratie finden wir für gewöhnlich selten.

Politisches Erdbeben

Die Linke spricht sich mehrheitlich gegen die geplante Verfassungsreform aus und sieht im „NO“ ein wichtiges Mittel zur Verteidigung der Demokratie. Die Verfassung von 1947 wird dabei gerne auch glorifiziert, spiegelt sie doch die nach der Befreiung vom Faschismus für die Linke sehr günstigen Kräfteverhältnisse wider. Aus dieser Zeit stammt die in der Linken sehr starke Identifikation mit der Verfassung und den Institutionen der Republik. Auch wenn in der Außenwahrnehmung die italienische Linke oft mit einer starken außerparlamentarischen Opposition, mit großer Streikbereitschaft und Militanz in Verbindung gebracht wird, so gilt es doch nicht zu übersehen, dass die Orientierung auf Politik in diesen Institutionen ein ganz wesentliches Element der linken Parteipolitik war. Die Regierungsbeteiligungen in den letzten beiden Jahrzehnten erklären nicht zuletzt auch, warum die Linke in Italien heute in einer schweren Krise steckt.

Diese hat das Feld einem äußerst reaktionärem Populismus geöffnet. Neben der rassistischen Lega Nord sticht hier vor allem die „Bewegung 5 Sterne“ des Komikerstars Beppe Grillo hervor. Grillo könnte bei den nächsten Wahlen sogar stärkste Kraft werden und als künftiger Regierungschef von der jetzigen Verfassungsreform profitieren. Teile des Kapitals sehen dieses Szenario mit großer Sorge. Dies hat den „Economist“, der mehrheitlich im Eigentum der Agnellis (FIAT-Konzern) steht, vor kurzem dazu bewogen, ein Nein beim Referendum sogar als gar nicht so schlimme Perspektive zu bezeichnen. Immerhin könne man in diesem Fall nach dem Rücktritt Renzis erneut auf eine demokratisch nicht legitimierte Technokraten-Regierung setzen.

Trotzdem überwiegt derzeit vor allem die Sorge, dass dieses Referendum ein politisches Erdbeben auslösen könnte, bei dem Kräfte freiwerden, die das politische Establishment nicht mehr unter Kontrolle bringen kann. Investoren wie auch die politischen Eliten in der EU fürchten, dass das Referendum mit einem „Nein“ ausgehen könnte. Ein „NO“ zu den Regierungsplänen aber hätte zweifelsohne einen ähnlichen Effekt wie der Brexit, und würde die Instabilität in Europa weiter erhöhen.

Gernot Trausmuth ist ist aktiv bei Connect Donaustadt und Übersetzer des Buches Meine 7 Väter. Als Partisan gegen Hitler und Mussolini von Adelmo Cervi, das beim Mandelbaum Verlag erschienen ist.

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