Fünf Gründe, warum Italien Europas Zukunft ist (wenn wir nichts dagegen tun)

Ein kaputtes Parteiensystem, eine versagende Staatselite und ein Volk, das sich von seiner Politik abwendet. Was als „italienische Krankheit“ gilt, ist in Wirklichkeit nur die Zuspitzung einer Entwicklung, die sich überall in der Europäischen Union vollzieht. mosaik-Redakteur Camilo Molina hat fünf Aspekte zusammengetragen, die Italiens Misere erklären. Sie zeigen, dass in Italien nur am deutlichsten zu Tage tritt, was im Rest Europas unter der Oberfläche schwelt.

1. Die anhaltende ökonomische Stagnation

Die Wirtschaft Italiens ist die drittgrößte der Eurozone, doch sie wächst seit Jahrzehnten kaum noch. Die Mächtigen in Italien reagieren darauf seit den 1990er Jahren immer gleich: Sie „sanieren“ Banken und Unternehmen mit öffentlichen Geldern (sprich: sichern Profite der heimischen Kapitalgruppen und Großaktionäre), senken die Löhne und bauen ArbeiterInnenrechte ab (wie im sogenannten „Jobs act“).

Die Folgen sind: Die Staatsverschuldung steigt und begrenzt den politischen Spielraum. Mit diesem Argument wiederum kürzt die Politik nicht nur Sozialleistungen und Pensionen, sondern hungert die gesamte öffentliche Infrastruktur aus.

Die verschiedenen Regierungskonstellationen der letzten Jahrzehnte gelten als „gemäßigt“, weil sie alle diese Politik verfolgt haben – mit dem Versprechen, Italien zu „modernisieren“. Die Hoffnung nach einem entbehrungsreichen „Aufschließen“ zu den entwickeltsten Ländern Europas hatte die italienische Bevölkerung lange Zeit zu einer der „EU-freundlichsten“ gemacht. Seit der Finanzkrise haben sich die „europäischen Partner“ hingegen verstärkt als Einpeitscher dieser ausweglosen Politik hervorgetan und ein allgemeines Gefühl des Niedergangs macht sich breit.

2. Die Korruption der staatstragenden Eliten

Der Name Berlusconi wurde weltweit zum Inbegriff für Korruption und die Vermischung privater und öffentlicher Interessen. Weniger bekannt ist, dass Berlusconi trotz all seiner nachgewiesenen Verbrechen immer wieder vor Konsequenzen bewahrt und politisch am Leben erhalten wurde – im Namen der „politischen Stabilität“. Auch von seinen politischen GegnerInnen in der „linken“ Partei PD (Partito Democratico).

Denn Berlusconi wurde stets als notwendiger Partner für das Projekt gesehen, die neoliberale Politik mittels eines Zwei-Parteien-Systems nach US-Vorbild einzuzementieren. Dadurch sollten alternative politische Projekte dauerhaft an den Rand gedrängt werden. Nicht zuletzt die EU-Bürokratie, immer auf der Suche nach „proeuropäischen“ Partnern, wurde vor den jüngsten Wahlen plötzlich freundlich zu Berlusconi.

Die Schamlosigkeit, mit der führende „StaatsdienerInnen“ ihre Ämter für persönliche Vorteile nutzen und mit der alle Arten von Verbrechen aufgrund „realpolitischer“ Erwägungen gedeckt werden, ist in ganz Europa ein Thema. In Italien selbst ist es eine Grundlage für den Erfolg des oppositionellen Movimento 5 Stelle („5-Sterne-Bewegung“), das als „dritter“ politischer Block nun abermals das Projekt eines stabilen politischen Systems über den Haufen geworfen hat.

3. Der zerbröselnde Konsens der „Mitte“

Der Spagat zwischen Politik für Kapitalinteressen einerseits und der Erzeugung politischer Zustimmung andererseits ist in allen europäischen Ländern eine fragile Angelegenheit. Doch in keinem anderen Land Westeuropas wurde so oft das Wahlgesetz umgeschrieben wie in Italien.

Mit der Zuspitzung der schwelenden Finanzkrise ist die Verbindung von Entdemokratisierung und politischer Instabilität auf ein neues Niveau gehoben worden: Zunehmend kümmert sich der aller Kritik enthobene und nur alle sieben Jahre vom Parlament gewählte Staatspräsident darum, dass die politischen Grundlinien in Übereinstimmung mit den europäischen und internationalen Partnern eingehalten werden. Der Präsident kann Regierungen absetzen, Expertenregierungen ernennen, Parlamentsmehrheiten schmieden, Wahlen verzögern, usw. All das, ohne vom Volk direkt gewählt worden zu sein.

Für die Regierungskoalitionen seit Berlusconis Absetzung 2011 war eine demokratische Legitimierung durch Wahlen eher die Ausnahme. Nach der Wahlniederlage der „gemäßigten“ Kräfte 2013 kam es allerdings zu einem unerhörten Schritt: Die erstmalige offizielle Koalition zwischen den vermeintlichen Erzfeinden des mitte-linken Partito Democratico und den mitte-rechten Truppen Berlusconis. Sie bereiteten damit ihre noch viel größere Niederlage bei den jüngsten Wahlen vor. Das Ergebnis ist, dass sie nun auch zusammen kaum mehr mehrheitsfähig sind.

4. Der Erfolg von „Anti-System“-Kräften

Die Sieger der letzten Wahl heißen Lega und Movimento 5 Stelle (M5S). Beide Parteien sprechen die Sprache des abstiegsbedrohten, oder am Aufstieg gehinderten, italienischen Kleinbürgertums. Beide waren imstande, auch weite Teile der politisch verwaisten ArbeiterInnenklasse für die Wahl zu mobilisieren. Denn abgestimmt wurde bei der letzten Wahl nicht über Weltanschauungen oder Identitäten, auch nicht über Traditionen oder Zukunftsentwürfe. Es ging um ein Ja oder Nein zum gegenwärtigen Regime.

Der Erfolg der Lega entspricht weitgehend dem in ganz Europa beobachtbaren Aufstieg rechtsextremer und neofaschistischer Kräfte. Dieser ist wiederum eng verbunden mit dem Versuch der herrschenden Politik, die imperialistische Konkurrenz als Kulturkampf zu inszenieren und sich die fehlende Zustimmung mit einer Sündenbockpolitik gegenüber MigrantInnen zu verschaffen. Diese schiefe Ebene nach rechts kennen wir in Österreich nur zu gut.

Während die „pro-europäische“  Regierung Italiens die Rettungsaktionen im Mittelmeer behinderte und Sklavenlager in Lybien mitorganisierte, konnte die unter Salvini weit nach rechts gerückte und „erneuerte“ rassistische Oppositionspartei Lega nur allzu leicht die kollektive Hysterie gegen MigrantInnen weiter anfachen und damit den Wahlkampf dominieren.

Damit konnte sie Erfolg haben, weil auch alle anderen wesentlichen politischen Kräfte die Bekämpfung der Migration als politisches Ziel akzeptierten (nur eben „gemäßigter“). Das trifft auch auf den anderen Wahlgewinner, die Partei M5S, zu.

Die Zugkraft des M5S beruht allerdings auf einer anderen Grundlage. Die mit einem doppelt so großen Stimmanteil wie jenem der Lega mittlerweile stärkste Einzelpartei hat sich vor allem demokratische Erneuerung und die Ersetzung von käuflichen ProfipolitikerInnen durch VerwalterInnen mit Sachverstand und Bürgersinn auf die Fahne geschrieben. Wenn nötig auch gegen den von Deutschland und der EU-Bürokratie diktierten „europäischen“ Konsens.

Wer bei dieser Wahl gegen korrupte Eliten, EU-Diktate aber auch gegen die extreme Rechte stimmen wollte – und darunter befindet sich ein großer Teil ehemaliger LinkswählerInnen – hat „Fünf Sterne“ gewählt. Für die Situation nach der Wahl ist eine der zentralen Fragen, wie gut sich diese Bewegung mit ihrem wenig definierten politischen Profil hin zu Kompromiss und Komplizenschaft mit den herrschenden Kräften im Lande biegen lässt.

5. Die Krise der Linken

Das bringt uns zum letzten zentralen Punkt, der nicht nur Italien betrifft: Das selbstverschuldete Verschwinden des linken Lagers und der ArbeiterInnenbewegung als politischen Faktor.

Vor nicht allzu langer Zeit galt Italien noch als Heimat sozialer Kämpfe. In den „roten“ Jahren zu Beginn des Jahrtausends verstärkten sich Globalisierungskritik, gewerkschaftliche Kämpfe und Anti-Kriegs-Bewegung gegenseitig; die italienische Partei Rifondazione Comunista („Kommunistische Neugründung“) war mit fast hunderttausend Mitgliedern und bis zu zweieinhalb Millionen Stimmen die stärkste linksradikale Kraft in Europa. Damit forderte sie die sozialdemokratische Hegemonie in der Linken heraus. Als sie 2006 für symbolische Zugeständnisse und einige gut dotierte Staatsposten in eine Koalitionsregierung unter der Führung des späteren Partito Democratico ging, war ihr Aufstieg zu Ende. Das Ausmaß der Desillusionierung – auch und gerade gegenüber ihrem „radikalen“ Flügel – hat der Linken in Italien wohl so schnell wie nirgendwo anders den Boden unter den Füßen weggezogen.

Ein damit verbundener wichtiger Aspekt ist auch, dass sich die einst so mächtige italienische Gewerkschaftsbewegung seit Jahren in einer Spirale aus Passivität und Ohnmacht befindet. In keinem vergleichbaren Land (siehe Frankreich oder Griechenland) hat die ArbeiterInnenbewegung dermaßen kampflos bei der Demontage mühsam errungener Rechte zugeschaut.

Aus Loyalität zur staatstragenden Linken hat die Gewerkschaftsführung die Aufhebung des symbolträchtigen Artikel 18 zum Schutz vor ungerechtfertigter Kündigung, die Beschränkung des Streikrechts und die Kürzung der Pensionen hingenommen. Der fortschreitenden Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse hatte sie nichts entgegen zu setzen. Gewerkschaftliche Organisationen sind diskreditiert.

Bei der letzten Wahl sind zwei nennenswerte linke Kandidaturen angetreten. „Liberi e Uguali“ („Freie und Gleiche“) besteht vor allem aus von Renzi entmachteten Teilen des Partito Democratico. Gegenüber Renzis Drang zur „extremen Mitte“ im Stile des französischen Präsidenten Macron, haben sich LeU, u.a. unter Rückgriff auf den Corbyn-Slogan „For, the many not the few“, einen sozialdemokratischen Anstrich verpasst. Dass darin ehemals führende PD-PolitikerInnen wie Ex-Premierminister Massimo D’Alema eine Rolle spielen, nimmt diesem Erneuerungsversuch viel von seiner Glaubwürdigkeit. So auch die Ankündigung der Liberi e Uguali im Vorfeld der Wahl, falls notwendig für eine große Koalition mit Berlusconi zur Verfügung zu stehen. Zwar hat diese Formation gerade noch eine Handvoll Mandate für ihr Spitzenpersonal erringen können, doch ist sie ihrem Ziel, das Gleichgewicht im Mitte-links-Lager in die eigene Richtung zu verschieben, entfernter denn je.

In deutlicherer Abgrenzung dazu gründete sich in den letzten Monaten vor der Wahl die linke Sammlungsbewegung „Potere al Popolo“ („Macht dem Volke“). Sie orientierte sich an Kampagnen von Momentum in Großbritannien und Jean-Luc Mélenchon in Frankreich und versammelte damit heterogene Fragmente der gewerkschaftlichen und basisorientierten Linken. Nicht zuletzt angesichts der Konkurrenz durch die Fünf-Sterne-Bewegung blieb Potere al Popolo mit ihren 1 Prozent bzw. ca. 300.000 Stimmen aber deutlich unter den selbstgesteckten Zielen.

Im besten Fall kann sich Potere al Popolo in den nächsten Monaten zu einem organisatorischen Hebel für landesweite Initiativen gegen die Verarmungspolitik der kommenden Regierung und die Ausbreitung rassistischer Mobilisierungen entwickeln.

Der Weg dorthin ist lang, doch zeigt der italienische Fall eines deutlich: Abkürzungen gibt es nicht. Linke Erneuerung – als politische Unabhängigkeit der vielfältigen ArbeiterInnenklasse von heute – geht nur über Aktivität von unten.

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