Frau, Leben, Freiheit: Wie die Bewegung im Iran siegen kann

Solidaritätskundgebung für Proteste im Iran in Wien

„Das ist die letzte Warnung – unser Ziel ist der Sturz des gesamten Systems“ skandiert die Protestbewegung im Iran seit der Ermordung von Jina (Mahsa) Amini. Das iranische Regime erlebt die größte revolutionäre Erhebung seit seiner Existenz.

Ein Video von Schülerinnen, die einen Vertreter des Bildungsministeriums mit Flaschenwürfen lautstark aus ihrem Schulhof vertreiben zeigt, was sich gerade in weiten Teilen des Iran und Kurdistans abspielt. Überall im Land lehnt sich die Bevölkerung, allen voran Frauen und Jugendliche, gegen religiöse Kleidervorschriften, die Trennung von Geschlechtern im öffentlichen Raum, Gewalt, Repression, Unterdrückung und Ausbeutung auf.

Die Bewegung ist massiver Repression ausgesetzt: Das Regime hat gezielt Studierende der Sharif-Universität in Teheran und in Tabriz angegriffen. Studierende und Professor*innen wurden im Gebäude eingesperrt, einige erschossen, andere festgenommen niemand weiß, wo sie hingebracht wurden. In Zahedan (Belutschistan), vergewaltigte ein Kommandant des Regimes ein 15-jähriges Mädchen. Trotzdem kommt die Bewegung nicht zum Stillstand. Nach dem Vorfall in Zahedan strömten Massen auf die Straßen. Das Regime verübte dort ein weiteres Massaker und ermordete mindestens 67 Menschen.

Frauenunterdrückung als Säule des Regimes

Der Mord an Jina Amini war ein staatlicher Femizid. Dieser Mord durch die sogenannte  „Sittenpolizei“ hat einen Aufstand gegen die gesamte Diktatur ausgelöst. Die Unterdrückung von Frauen und LGBTQI+-Personen ist eine zentrale Säule der Islamischen Republik. Die Hijab-Pflicht ist nur ein Ausdruck für die tiefgreifende Kontrolle von Frauen und ihren Körpern. Das Regime braucht diese Unterdrückung, um Frauen in die eigenen vier Wände zu drängen und so das System zu festigen. Vergewaltigung und Gewalt in der Ehe wird in den meisten Fällen nicht verfolgt oder bestraft. Mädchen können ab 13 Jahren zur Heirat gezwungen werden. Gleichzeitig sind die religiösen Führer dieselben, die den größten Reichtum besitzen und die Arbeiter*innen und Arme ausbeuten. In kaum einem anderen Land ist es so offensichtlich, wie integral Frauenunterdrückung als Bestandteil des kapitalistischen Systems ist. Im Iran hat sie einige wenige Mullahs zu Superreichen gemacht.

“Ich bin die narzisstischen, konservativen Männer, die die Welt regieren, leid.” Solidaritäts-Kundgebung in Wien.

Bröckelnde Ideologie im Iran

Doch ihre Ideologie bröckelt. In den vergangenen Jahren haben die Massen das Vertrauen in die religiösen Institutionen verloren. Männer stehen solidarisch Seite an Seite mit den revoltierenden Frauen. Die Kleidervorschriften werden nur noch minimal unterstützt. Die Kombination von reaktionären Ideen, Frauenfeindlichkeit, LGBTQI+-Feindlichkeit, nationaler Unterdrückung, wirtschaftlicher Not (die Inflation lag schon letztes Jahr bei über 45 Prozent), Hunger und Armut ist eine explosive Mischung, die schon während der Pandemie zu historischen Streikwellen von Lehrer*innen, Ölarbeiter*innen, Busfahrer*innen und anderen geführt hat.

Die Parole „Frau, Leben, Freiheit“ aus der kurdischen Befreiungsbewegung ist zum Schlachtruf dieses Aufstandes geworden. Sogar in Regionen wie in Ost-Azerbaijan, wo Kurd*innen besonders unterdrückt werden, gehen die Menschen gemeinsam auf die Straße und rufen die Parole auf Kurdisch. Dass das iranische Regime kurdische Organisationen mit Drohnen angreift zeigt, dass es das revolutionäre Potential kennt. Dort haben Streiks bereits die ganze Region zum Stillstand gebracht.

“Jin Jiyan Azadi” – “Frau Leben Freiheit” auf einer Solidaritätskundgebung in Wien.

Öl vor Menschenrechten

Die westlichen Staaten sind vergleichsweise zurückhaltend. Sie müssen sich überall nach Alternativen zu russischem Öl und Gas umschauen. Wie wir in Saudi-Arabien sehen, schrecken sie dabei nicht davor zurück, Deals mit den brutalsten Diktaturen abzuschließen. Ihnen geht es nicht um Frauen- oder Menschenrechte. Der Iran ist eine zentrale politische und wirtschaftliche Macht in der Region. Durch die Unterstützung pro-imperialistischer Kräfte, wie die alte Schah-Familie, versuchen westliche Mächte Einfluss auf die Bewegung auszuüben. Die Sanktionen der letzten Jahre gegen den Iran treffen in erster Linie die Arbeiter*innen und Armen und nicht die Köpfe des Regimes. Dass EU-Staaten darüber reden, hochrangige Akteure des Regimes mit Sanktionen treffen zu wollen zeigt, wie stark der Druck momentan ist. Die Reichtümer und Vermögen des Regimes, die im Ausland lagern, müssen durch eine Solidaritätsbewegung von unten enteignet und übernommen werden.

Ausbreitung der Bewegung

Der Aufstand versetzt Herrschende überall in Angst und Schrecken. Schon jetzt breitet sich die Bewegung in der Region aus. Todesmutig protestieren auch junge Frauen und Mädchen in Afghanistan für ihr Recht auf Bildung. Ein Sturz des iranischen Regimes kann eine Welle in der ganzen Region auslösen. Die Revolution muss bis zum Ende gehen: Die entbrannte Wut und Entschlossenheit muss sich bündeln und organisieren. Die Bewegung braucht demokratische Strukturen, in Form von multiethnischen Selbstverteidigungskomitees, die eine echte Gegenmacht aufbauen können. Die Arbeiter*innenklasse und Jugend muss die Reichtümer und die Kontrolle über Industrie, Produktion und Gesellschaft übernehmen, damit die Rechte von Frauen, LGBTQI+-Personen und nationalen, ethnischen, religiösen Minderheiten sowie demokratische Rechte garantiert werden. Damit der unglaubliche Reichtum genutzt wird, um Armut und Hunger zu beenden und ein sozialistisches System im Interesse der großen Mehrheit in der gesamten Region aufzubauen.

Der internationalen Solidaritätsbewegung kommt dabei eine besondere Rolle zu. In Wien haben wir die Initiative zu linken, internationalistischen und feministischen Demonstrationen gesetzt. Das zeigt, wie wir die Möglichkeit zur Diskussion hier nutzen können, um eine Solidarität aufzubauen, die sich unabhängig von den Interessen des westlichen Imperialismus entwickelt. Das wird einen Effekt auf die Bewegung innerhalb des Landes haben und dazu beitragen, den Kampf für ein Ende der kapitalistischen Barbarei und für „Frau, Leben, Freiheit“ weltweit auszuweiten.

Anmerkung: Seit Sarah den Artikel verfasst hat, hat sich die Situation verschärft. Die Ermordung der 16-jährigen Nika Shakarami durch Sicherheitskräfte hat das Land erschüttert und die Bewegung weiter angeheizt. Unzählige junge Schüler*innen und Studierende sind verschwunden oder wurden ermordet. Sie sind alle zu Symbolen des Widerstands geworden.

Nächste Solidaritätsdemonstration in Wien: Samstag, 8. Oktober, 14 Uhr am Karlsplatz (bei der Karlskirche).

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