Wahlen im Irak: Der Kleriker und die GenossInnen

Ein Bündnis aus religiösen und linken Kräften siegt bei den Parlamentswahlen im Irak. Angeführt wird es vom schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadr. Über die Hintergründe dieser ungewöhnlichen Allianz und ihres Wahlerfolgs berichtet Tyma Kraitt.

Über 24 Millionen IrakerInnen wurden letzten Samstag zu den Urnen gerufen. Tatsächlich kamen aber nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten. Ein historisches Tief, das vor allem der Politikverdrossenheit junger Menschen geschuldet ist. 60 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre – eine verlorene Generation, die seit frühester Kindheit nur Krieg und Sanktionen kannte und wenig Hoffnung in die Politik setzt.

Dennoch ist das Wahlergebnis bemerkenswert. Der eigentliche Favorit, das Nasr-Bündnis (dt. „Sieg“) von Premierminister Haidar al-Abadi wurde zum großen Verlierer. Stattdessen gewann das „Bündnis der Revolutionäre für Reform“, kurz Sairun (dt. „wir marschieren“) – ein Zusammenschluss des schiitischen Ahrar-Blocks von Muqtada al-Sadr, der Kommunistischen Partei und kleineren säkularen Gruppen.

Sie gingen nach bisherigem Stand in sechs von 16 Provinzen als führende Kraft hervor und erhalten 56 der 329 Sitze im Parlament. Für die KommunistInnen hat sich die Zusammenarbeit ausgezahlt. Sie erhalten zwei bis drei der gewonnenen Mandate – davor hatten sie lediglich eines.

Korruption, Konfession und Krieg

Der Sieg al-Sadrs und seiner Verbündeten kam unerwartet, ist aber nachvollziehbar. Er speist sich aus der Unzufriedenheit vieler IrakerInnen mit dem politischen Establishment. Die Spaltung entlang konfessioneller Linien und das daraus resultierende Konfliktpotenzial überschatteten das politische und gesellschaftliche Leben des Iraks im vergangenen Jahrzehnt und trugen maßgeblich zum Aufstieg des „Islamischen Staates“ bei. Mit einer gesamtnationalen Agenda versucht das Sairun-Bündnis, eine Alternative jenseits von Kategorien wie SchiitIn oder SunnitIn anzubieten.

Eines der wichtigsten Wahlkampfthemen war die alles überwuchernde Korruption. Im Korruptionsindex von Transparency International befindet sich der Irak derzeit auf Platz 169 von 180 Staaten. Muqtada al-Sadr gelang es während des Wahlkampfes, die Anti-Korruptions-Stimmung innerhalb der Bevölkerung aufzugreifen. Sein Vorschlag, die Bildung einer TechnokratInnenregierung anstelle des bisherigen ethnisch-konfessionellen Proporzes, erhielt von vielen Seiten Zuspruch.

Hammer und Mondsichel – ein Zweckbündnis

Poltische Bündnisse sind keine Liebesbeziehungen, sondern werden aufgrund politischer Notwendigkeiten geschlossen. Dies gilt auch für die Sairun-Liste. Was die Annäherung von SadristInnen und Linken durchaus begünstigte: Beide Gruppen wurden während der Diktatur Saddam Husseins brutal verfolgt, sie teilen daher eine Unterdrückungserfahrung. Außerdem: Die Kernwählerschaft ähnelt sich. Beide buhlen um die Gunst der Unterschichten, was sich auch in ihrem Sozialprogramm niederschlägt.

Neben offensichtlichen ideologischen Widersprüchen gab es bisher auch genug andere Aspekte, die die AnhängerInnen al-Sadrs von den KommunistInnen trennte. Beispielsweise war die Irakisch Kommunistische Partei (IKP) seit den 1980ern eine Art „Exilpartei“, die sich zunehmend von den Bedürfnissen der irakischen Bevölkerung entfernte. So unterstützte die IKP etwa das verheerende UN-Embargo in den 1990er Jahren und nahm dabei den Tod von über einer Million Menschen aufgrund der Mangelversorgung in Kauf. Muqtada al-Sadr und seine AnhängerInnen in den Baghdader Armenvierteln hatten dieses Elend wiederum tagtäglich vor Augen.

Ein weiterer Gegensatz: Während die KommunistInnen nach dem Krieg 2003 mit der US-geführten Besatzung kollaborierten, führte al-Sadr einen erbitterten Widerstand gegen die amerikanische Fremdherrschaft an.

Al-Sadr: Vom gefürchteten Extremisten zum Vermittler

Wenige Jahre nach der US-Invasion zierte Muqtada al-Sadr das Cover des US-Magazins Newsweek mit dem Titel „The most dangerous man in Iraq“ („Der gefährlichste Mann im Irak“). Gefährlich war der aus einer einflussreichen Klerikerfamilie stammende al-Sadr, weil er sich mit praktisch jedem anlegte. Angefangen von der amerikanischen Zivilverwaltung unter Paul Bremer bis zum schiitisch-politischen Establishment, und letztlich auch weil seine „Mahdi-Armee“ während des Bürgerkriegs ab 2006 für ihr brutales Vorgehen gegen SunnitInnen berüchtigt war.

Nachdem ihm die Kontrolle über Teile seiner Gefolgschaft entglitten war, zog er sich zum Studium in die iranische Stadt Ghom zurück. Seit 2014 tritt er wieder als scharfer Kritiker der irakischen Regierung auf. Er gibt sich als geläuterter Nationalist und tritt für die Inklusion der sunnitischen Minderheit ein. Mit seinem Einsatz gegen die konfessionelle Spaltung des Iraks trifft er einen Nerv. Denn gerade in den letzten Jahren hat sich zunehmend Widerstand gegen den politischen Konfessionalismus formiert.

Dieser spitzte sich letztes Jahr im erfolgreichen Kampf der irakischen Frauenbewegung gegen ein neues religiöses Personenstandsrecht zu. Dieses hätte dramatische Verschlechterungen für Frauen bis hin zur Kinderheirat vorgesehen. Laut Gesetzesentwurf hätten Gerichte bei Fragen zum Personenstand religiöser Rechtsprechung zu folgen, und zwar je nach Konfession unterschieden. Dies hätte die Risse in der irakischen Gesellschaft wohl weiter vertieft. Das Gesetz konnte dank einer breiten Kampagne verhindert werden.

Gespaltete SchiitInnen

Ranghohe schiitische Kleriker, darunter auch der Vertreter von Großayatollah Ali al-Sistani, haben in den vergangenen Monaten mehrmals dazu aufgerufen, keine PolitikerInnen wiederzuwählen, die im Kampf gegen Korruption bisher versagt hatten. Deutliche Worte fand der Geistliche Rashid al-Husseini: „Ich traue eher einem gewissenhaften Christen als einem korrupten Schiiten. Eine Person, die nicht betet und fastet, der man aber das Geld der Menschen und der Nation anvertrauen kann, verdient meine Stimme. Ich kann für niemanden stimmen, der betet und fastet, aber stiehlt.“

Ein weiterer Streitpunkt ist die Rolle des Iran im Irak. Auffällig bei dieser Wahl war, dass selbst pro-iranische PolitikerInnen versuchten, das Thema Iran klein zu halten. Mit Teheran mag man zwar den IS schlagen, aber keine Wahlen gewinnen. „Wir werden nicht zulassen, dass Liberale und Kommunisten den Irak regieren“, polterte Ali Akbar Velayati, der außenpolitische Berater des iranischen Oberhaupts Ayatollah Ali Khamenei noch vor den Wahlen. Gemeint waren Muqtada al-Sadr und seine Liste, die eine deutliche anti-iranische Position einnehmen.

Kritik an iranischem Einfluss

Velayatis Aussagen zogen eine Welle der Empörung nach sich. Viele IrakerInnen lehnen mittlerweile das iranische Engagement in ihrem Land ab und fürchten, dass der regionale Konflikt zwischen Iran und Saudi-Arabien letztlich im Irak ausgetragen werden könnte.

Auch die hohe Geistlichkeit in Nadschaf distanziert sich zunehmen von iranischer Bevormundung, insbesondere dem Führungsanspruch der Mullahs über SchiitInnen in der gesamten Region. Subtile Kritik lässt sich auch aus dem bisherigen Verhalten des irakischen Großayatollahs Ali al-Sistani ablesen. Er sprach den pro-iranischen Kräften bei der Wahl keine Unterstützung aus. Ganz im Gegenteil verurteilte er sogar die Teilnahme von Teheran-nahen Milizen an den Wahlen. Gemeint ist das Fath-Bündnis (dt. „Eroberung“), das von Hadi al-Ameri, dem Chef der gefürchteten Badr-Brigaden, angeführt wird. Dieses kam auf Platz zwei und spiegelt den anderen Irak wider – ein Land, das in religiöser Gewalt zu versinken droht.

Weder Teheran noch Washington

Der Sieg Muqtada al-Sadrs wird vom Iran wie von den USA gleichermaßen mit Sorge aufgenommen. Gelingt es al-Sadr, eine breite Koalition zustande zu bringen, wird die künftige Regierung in Bagdad für beide Player schwer einzuschätzen und beinflussbar sein.

Wesentlich entspannter betrachtet man die Angelegenheit in Saudi-Arabien. Muqtada al-Sadr war in jüngerer Vergangenheit um ein besseres Verhältnis zu Riad bemüht. Er möchte zwischen Teheran und Riad eine Vermittlerrolle einnehmen. Ob dies von Iran und Saudi-Arabien gewünscht ist, ist aber zu bezweifeln. Auch die Ankündigung der Saudis, in der mehrheitlich von SunnitInnen bewohnten irakischen Provinz Anbar investieren zu wollen, dürfte Teheran reizen.

Vorsichtiger Optimismus

Noch ist allerdings nicht einmal klar, ob sich das Wahlergebnis in der neuen irakischen Regierung widerspiegeln wird. Insgesamt 87 Parteilisten traten bei den Wahlen an. Die Regierungsfindung gestaltet sich dementsprechend kompliziert und langwierig.

Alles in allem ist der Irak nach wie vor ein äußerst fragiles, gespaltenes Land. Der Sieg des Sairun-Bündnisses bietet aber auch Anlass für vorsichtigen Optimismus. Denn er zeigt, dass im Irak sehr wohl Politik jenseits von Konfessionen und Klientelismus möglich ist.

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