Seit fast 20 Jahren stürzt sich die Interventionistische Linke (IL) ins politische Handgemenge. Nach zehn Jahren hat sie ein neues Zwischenstandspapier verfasst. Sie wirft darin einen kritischen Blick auf den Zustand der gesellschaftlichen Linken und die eigene Praxis.
*** Dieser Beitrag ist der zweite Artikel im Rahmen der Reihe mosaik strategy summer. Von Ende Juli bis Ende September veröffentlicht mosaik jede Woche einen Artikel zu strategischen Fragen linker/emanzipatorischer Bewegungen und Kämpfe. ***
„Wir sind hier genau richtig!“, das hörte man in den letzten zehn Jahren oft bei linken Protesten in Deutschland. Egal ob bei Ende Gelände in der Kohlegrube oder bei der Blockade der Nazidemo, fast immer rief ihn eine IL-Genossin durchs Megaphon. Dieser Spruch ist in den letzten Jahren fast zum geflügelten Wort geworden, um die Politik der Interventionistischen Linken (IL) zu beschreiben – und auch um sich ein bisschen über uns und unseren manchmal aufgesetzten Optimismus lustig zu machen. Zu Recht. Denn aktuell ist die Lage der Linken nicht gut. Okay, die KPÖ hat in Österreich bei den Europawahlen Stimmen dazugewonnen. Aber bei der deutschen Linkspartei und auch bei vielen anderen linken Projekten ist das anders. Die gesellschaftliche Linke ist in der Krise, spätestens seit Corona und der „Zeitenwende“ des Kriegs in der Ukraine.
In dieser Situation haben wir uns als IL zusammengesetzt und uns gefragt: Stimmt das eigentlich noch, sind wir „hier noch genau richtig“? Was hat sich seit unserem ersten Zwischenstandspapier von 2014 getan in der Linken und in der Welt?
Die letzten zehn Jahre
Sicher scheint: Die politische Situation ist schlechter als vor zehn Jahren. Die Erderwärmung auf 1,5 Grad ist nicht mehr zu stoppen. Eine Krise jagt die nächste. Von dieser multiplen Krise profitieren vor allem die Rechten. Sie formieren sich international zu einem autoritären Block. In Deutschland findet die politische Polarisierung zwischen den GRÜNEN und der AfD statt. Die Linke droht darin unsichtbar zu werden. Die verbliebenen Neoliberalen in der Ampelkoalition, stellen die Wirtschaft auf neue Energieträger wie Wasserstoff um und erkennen „diversity“ symbolisch an. Sie versuchen, den Kapitalismus zu modernisieren und machen doch immer mehr rechte Politik. Auf den Punkt bringt es ein Wahlplakat der neoliberalen FDP: „Migration steuern. Sonst tun es die Falschen.“
Die linken Aufbrüche, von Arabischem Frühling, Occupy und den Anti-Austeritätsprotesten in Südeuropa prägten den Beginn der 2010er-Jahre. Sie wurden zurückgeschlagen. Formulierten diese Bewegungen einen gemeinsamen Horizont mit ihrer Forderung nach einem würdigen Leben und echter Demokratie ohne Kapitalismus, sind aktuelle soziale Kämpfe viel unterschiedlicher und unübersichtlicher. Doch sie verbindet die gemeinsame Frage des Lebens und Überlebens. In Deutschland hatten diese Kämpfe ein Mobilisierungshoch zwischen 2017 und 2019. Die Straßen waren voll mit Menschen, die für Seenotrettung, Klimaschutz und gegen Rechts protestierten.
Aber die Klimabewegung, Unteilbar, die Seebrücke und andere Initiativen konnten nur kurzzeitige Verschiebungen im öffentlichen Diskurs erreichen. Ihre konkreten Anliegen blieben oft auf der Strecke. Die gesellschaftliche Linke – als deren Teil auch wir uns begreifen – hat vielleicht viele Leute von ihren Ideen überzeugt. Gerade junge Menschen haben sich politisiert. Aber wir haben viel zu selten gewonnen. Warum? Weil wir zu viel auf symbolische Stärke durch große Demos und zu wenig auf materielle Erfolge und reale Gegenmacht wie Streiks, wirksame Blockaden und Basisorganisierung gesetzt haben.
Was tun, um zu gewinnen?
Was können wir tun, damit die nächsten zehn Jahre erfolgreicher werden? Was müssen wir als IL tun, um zu gewinnen? To be honest: Wir haben während unseres Strategieprozesses nicht die perfekte Antwort gefunden. Und die gibt es auch nicht. Auch wenn das einige Linke in Rückbezug auf einen dogmatischen Marxismus-Leninismus behaupten. Aber klar ist ja auch: Den Kopf in den Sand stecken, ist keine Option. Also: Was tun?
In unserem neuen, zweiten Zwischenstandspapier mit dem Titel „Gegenmacht aufbauen. Gelegenheiten ergreifen. IL im Umbruch“ werten wir unsere Erfahrungen in den Kämpfen von Mieter-Initiativen, feministischen Streiks, Klimagerechtigkeitsbewegung, Antifa und Kurdistan-Solidarität aus. Wir aktualisieren unsere Strategie und unsere Vorstellung eines revolutionären Prozesses. Eine Revolution in Europa scheint erstmal weit weg, das ist richtig. Was wir zuerst schaffen müssen, ist ein linkes Hegemonieprojekt zu bilden. Einen linken Block, der so viel gesellschaftliche Ausstrahlungskraft besitzt, dass er es mit Neoliberalen und Rechten aufnehmen kann.
So ein linker Block zielt natürlich auf die Mehrheit der Gesellschaft. Das bedeutet aber nicht, dass die radikale Linke nicht weiter emanzipatorische Positionen vertreten muss, die nicht von allen geteilt werden. Ernsthafter Einsatz gegen den entstehenden Festungskapitalismus, die sich ausbreitende Abschottungs- und Kriegslogik und für globale Klimagerechtigkeit? Das heißt auch Konflikt mit der real existierenden deutschen Mehrheitsgesellschaft. Denn die eskalierende Klimakrise führt dazu, dass die materiellen Voraussetzungen für globale Gerechtigkeit schwinden.
Vergesellschaftung und Gegenmacht durch Basisarbeit
Vergesellschaftung sehen wir als einen zentralen Ankerpunkt eines linken Blocks. Mit der Vergesellschaftung wichtiger sozialer Infrastrukturen können wir sowohl das Leben von vielen Menschen verbessern, Staat und Kapital zugunsten demokratischer Selbstverwaltung zurückdrängen und aufzeigen, wie wir uns das Leben in einer anderen Gesellschaft vorstellen.
Um Vergesellschaftung möglich zu machen und reale Gegenmacht aufzubauen, setzen wir in Zukunft stärker auf langfristige Organisierung und Basisarbeit, die materielle Interessen stärker einbezieht. Wir wollen nicht mehr nur über den Fernseher zu den Leuten ins Wohnzimmer, sondern mehr über Gespräche an der Haustür. Dann kommen sie auch leichter mit auf die Straße. Basisarbeit war in den letzten Jahren insbesondere in den Kämpfen gegen Mietsteigerungen ein wichtiger Faktor. Aber in Brandenburg hat auch die Klimabewegung während der Proteste gegen Elon Musks Gigafactory Haustürgespräche gemacht, um mit der lokalen Bevölkerung über Wasserverschwendung bei Tesla und die Klimakrise ins Gespräch zu kommen.
Kleine Brüche, Gelegenheiten und neuer Ungehorsam
Neben dem langfristigen Strukturaufbau müssen wir als Linke auch in sich auftuenden Gelegenheiten handlungsfähig werden. Durch die vielen Krisen entstehen immer öfter Gelegenheiten, also Ereignisse, in denen es für einen kurzen Zeitraum politisch mehr zu gewinnen oder zu verlieren gibt, als erwartet. Um die Doppelstrategie von langfristigem Strukturaufbau durch Basisarbeit sowie der Handlungsfähigkeit in Gelegenheiten in ein produktives Verhältnis zu bringen, haben wir das Kriterium der kleinen Brüche entwickelt. Kleine Brüche sind Kämpfe, die erstens den Horizont des Möglichen verschieben, zweitens reale Verbesserungen erreichen und drittens Organisierung schaffen. Erst durch die Verbindung dieser Dimensionen wird aus einem politischen Sieg ein kleiner Bruch. Am nächsten einem kleinen Bruch kommt die Bewegung zur Vergesellschaftung der Immobilienkonzerne in Berlin rund um Deutsche Wohnen & Co Enteignen.
Wichtig für unsere Praxis bleiben weiterhin Aktionen massenhaften Ungehorsams. Offen sagen, was wir tun – und tun, was wir sagen. Mut machen, widerständig und radikal zu kämpfen. Sich nicht einschüchtern lassen vom Staat und seinen Institutionen. Diesen Anspruch konnten wir einlösen: Massenhafter Ungehorsam hat sich etabliert. Was früher nur wenige gemacht haben, ist heute Standard. Das ist gut und schlecht zugleich. Aktionen haben sich ritualisiert. Ein Beispiel: Ende Juni haben 7.000 Menschen versucht, den Parteitag der faschistischen AfD mit Sitzblockaden zu verhindern. Das waren die größten ungehorsamen Aktionen gegen einen Parteitag der AfD in der Geschichte. Trotzdem konnte der Beginn des Parteitags nur um 30 Minuten verzögert werden. Wir waren zu berechenbar für die Polizei. Aus dieser Sackgasse wollen wir herauskommen und über neue Formen sprechen. Dabei inspirieren uns auch die Aktionsformen von Soulèvements de la Terre („Aufstände der Erde“) in Frankreich, die klimaschädliche Infrastruktur entwaffnen und unschädlich machen.
Die Wette auf die Revolution eingehen
Das Papier ist zwar fertig, aber die Neuformierung einer undogmatischen, radikalen Linken auf der Höhe der Zeit hat gerade erst begonnen. Deshalb wollen wir mit euch diskutieren und einen orientierenden Prozess in der radikalen Linken anstoßen, denn – um mit einen Zitat aus unserem neuen Zwischenstandspapier zu enden: „Wir wollen eine radikale Linke sein, die auch vor einem dunklen Horizont die Möglichkeit hochhält, dass es ganz anders sein könnte. Eine radikale Linke, die organisiert und im Alltag präsent ist, die Gelegenheiten erkennt und entschlossen eingreift. Die kleine Brüche zu großen ausweitet und die Wette auf die Revolution eingeht.“
Auf der Website der IL findet ihr das gesamte Zwischenstandspapier „Gegenmacht aufbauen. Gelegenheiten ergreifen. IL im Umbruch“ und den Call for Comments der Gruppe. Den ersten Artikel der Reihe mosaik strategy summer „mosaik – Politik weiterhin neu zusammensetzen“ könnt ihr hier nachlesen.
Titelbild: Interventionistische Linke