Letzten Freitag bestätigte der Verfassungsgerichtshof (VfGH) das Recht auf eine dritte Option beim Geschlechtseintrag. Bisher gab es nur „männlich“ und „weiblich“. Die Entscheidung geht auf eine Klage der intergeschlechtlichen Person Alex Jürgen* zurück. Luan Pertl, Paul Haller und Eva Matt von der Plattform Intersex Österreich erklären die Hintergründe.
„Zum ersten Mal werde ich als das anerkannt, was ich bin“, freut sich Alex Jürgen* in einer gemeinsamen Aussendung vom Verein intergeschlechtlicher Menschen Österreich (VIMÖ), der Plattform Intersex Österreich und der HOSI Salzburg am Tag der VfGH-Entscheidung. Eine Entscheidung, die Jürgen* nach langjährigem Aktivismus endlich eine rechtliche Existenz in der eigenen Geschlechtsidentität zusichert.
Seit den 1990er Jahren kritisiert die intergeschlechtliche Person den Umgang mit Menschen, deren Körper nicht in das enge medizinische Schema von „männlich“ oder „weiblich“ passen. Bekannt wurde Alex Jürgen* 2006 durch den biographischen Dokumentarfilm „Tintenfischalarm“.
Es geht um Menschenrechte
Seit 2015 kämpft Jürgen* auf dem Rechtsweg für die Anerkennung der eigenen Intergeschlechtlichkeit und einen dritten Personenstand neben „männlich“ und „weiblich“. Ein Antrag am Standesamt Steyr wurde mit der Begründung abgelehnt, dass das IT-Verwaltungssystem keine anderen Einträge als „männlich“ oder „weiblich“ zulasse. Nach einem Zug durch alle behördlichen Instanzen landete der Fall schließlich vor dem Verfassungsgerichtshof. Dieser bezog sich in seiner Entscheidung auf den Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der das Grundrecht auf Privat- und Familienleben schützt. Unter diesem Artikel ist auch das Recht auf die eigene Geschlechtsidentität geschützt.
Genau das zog der VfGH zu seiner Entscheidung heran und erkannte, dass intergeschlechtliche Menschen nicht durch das Personenstandsgesetz dazu gezwungen werden dürfen, als „männlich“ oder „weiblich“ eingetragen zu werden. Als alternative Bezeichnungen des Geschlechtseintrags erklärt der Verfassungsgerichtshof die Bezeichnungen „inter“ oder „divers“ dezidiert für zulässig.
Fortschrittliche VfGH-Entscheidung
Interessenverbände und NGOs jubeln über die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs. Positiven Zuspruch gibt es auch seitens der SPÖ, der Grünen, der Liste Pilz und der NEOS. Die erwartbare Ausnahme blieb die FPÖ; in einer Aussendung meinte der FPÖ-Verfassungssprecher Stefan Harald der VfGH habe „der Republik völlig ohne Not einen Bärendienst erwiesen“.
Rechtsexpert*innen und NGOs beurteilen die Begründung der Verfassungsrichter*innen als besonders fortschrittlich und umsichtig. Der VfGH erkannte, dass sich die Anerkennung der eigenen Geschlechtsidentität auch im Personenstand ausdrücken müsse. Intergeschlechtliche Menschen seien dahingehend zu schützen, „dass diesen Menschen eine selbstbestimmte Festlegung ihrer Geschlechtsidentität auch tatsächlich möglich ist“, so der VfGH.
Die große ungeklärte Frage ist, wer diesen dritten Personenstand in Zukunft in Anspruch nehmen darf. Selbstvertretungsorganisationen fordern „Selbstbestimmung statt Pathologisierung“. Das bedeutet, dass der Eintrag des Personenstands von der jeweiligen Geschlechtsidentität und nicht von medizinischen Diagnosen abhängig sein soll – denn noch immer werden Formen von Intergeschlechtlichkeit beziehungsweise Varianten der Geschlechtsentwicklung in der Medizin als „Diagnosen“ behandelt.
Noch nicht am Ziel
Alex Jürgen* äußerte sich in einer ersten Reaktion zur aktuellen Entscheidung freudig und kämpferisch zugleich: „Ich sehe den Kampf allerdings erst endgültig gewonnen, wenn auch geschlechtsverändernde Operationen an inter* Kindern gesetzlich verboten sind, Geschlechtseinträge in Dokumenten auf freiwilliger Basis und selbstbestimmt erfolgen und neun von zehn Leuten wissen was INTERSEX überhaupt ist!“
Damit zeigt Jürgen* weiteren Handlungsbedarf auf, unter anderem das Beenden von geschlechtsverändernden und nicht-konsensuellen medizinischen Eingriffen an intergeschlechtlichen Menschen. Seit den 1990ern kritisieren Intersex-Aktivist*innen Operationen an gesunden intergeschlechtlichen Körpern, die medizinisch nicht notwendig sind und oft lebenslanges Leid verursachen. Alex Jürgen* bezeichnet die erlebten Operationen im Dokumentarfilm „Tintenfischalarm“ als Verstümmelung. Ihr einziges Ziel ist es, vermeintlich „uneindeutige“ Körper zwangsweise in ein Mann-Frau-Schema zu pressen. Neben Operationen finden auch nicht gewollte Hormonbehandlungen statt.
Immer mehr Stimmen fordern eine Beendigung dieser medizinischen Praxis, zuletzt die Volksanwaltschaft und die Bioethikkommission – auf Letztere beruft sich der VfGH in der aktuellen Entscheidung.
Arbeitsgruppe im Gesundheitsministerium
Auch im Gesundheitsministerium beschäftigte sich im letzten dreiviertel Jahr eine Arbeitsgruppe mit dem Thema Intergeschlechtlichkeit. Ärzt*innen, Berufsgruppen und NGOs sollten unter Federführung des Ministeriums gemeinsam Empfehlungen für Leitlinien für die Behandlung von „Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“ erarbeiten.
Aus derzeitiger Sicht müsse man sich eingestehen, dass es ein Kompromissblatt werde, so der Verein intergeschlechtlicher Menschen Österreich. Nichtsdestotrotz hofft die Selbstvertretungsorganisation auf ein Eindämmen von medizinischen Eingriffen an intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen. Klar ist jedoch, dass in der Medizin ein Umdenken stattfinden muss – weg von einem traditionellen Geschlechterbild, das nur Männer und Frauen als Normgeschlechter kennt. Es bleibt zu hoffen, dass das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs dazu beiträgt.
Next Step: Sichtbarkeit
Am Weg zur völligen rechtlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung sowie zum Schutz von intergeschlechtlichen Menschen ist es notwendig, Intergeschlechtlichkeit sichtbar zu machen. Umso wichtiger ist die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, denn „die rechtliche Anerkennung ist auch ein wichtiger Anstoß für den Bildungsbereich“, so Martina Enzendorfer, Bildungswissenschaftlerin der Uni Wien. „Der Bildungsbereich ist wesentlich an der Formung von Geschlechterverständnissen beteiligt und wirkt bislang an der Unsichtbarkeit intergeschlechtlicher Personen systematisch mit. Die rechtliche Anerkennung bietet eine wichtige Grundlage, dieser Marginalisierung entgegenzuwirken und Geschlecht in seiner Vielfalt wahrzunehmen.“
Insofern bestätigt der Verfassungsgerichtshof mit seiner Entscheidung lediglich eine simple Wahrheit, die intergeschlechtliche Menschen schon lange wissen: Es gibt mehr als nur zwei Geschlechter. Nun liegt es an uns allen, dieses Wissen hinauszutragen, damit intergeschlechtliche Menschen in Zukunft weder für ihre rechtliche noch für ihre gesellschaftliche Anerkennung kämpfen müssen.
Luan Pertl ist Intersex-Aktivist sowie Obmensch des Vereins intergeschlechtlicher Menschen Österreich (VIMÖ) Zweigverein Wien.
Paul Haller ist Sozialarbeiter und Geschäftsführer der Menschenrechtsinitiative HOSI Salzburg.
Eva Matt ist Juristin und Rechtsexpertin zum Thema Intergeschlechtlichkeit. Alle drei sind Mitglieder der Plattform Intersex Österreich und freuen sich über den Erfolg von Alex Jürgen*.