Internationalismus hat als Grundlage linker Politik in den letzten Jahr(zehnt)en seine Strahlkraft verloren. Die Proteste gegen die European Gas Conference in Wien 2023 und 2024 waren ein Versuch, internationalen Aktivismus praktisch neu zu denken und verschiedene Strömungen zusammenzubringen. Eine Reflexion Beteiligter in zwei Teilen.
*** Dieser Beitrag ist der zweite Teil des siebten Artikels im Rahmen der Reihe mosaik strategy summer. Von Ende Juli bis Ende September veröffentlicht mosaik jede Woche einen Artikel zu strategischen Fragen linker/emanzipatorischer Bewegungen und Kämpfe. ***
Im ersten Teil unseres Artikels haben wir die lange Tradition internationalistischen Denkens beschrieben. Wir haben zwei Strömungen ausgemacht, auf die wir uns in unsere heutigen Praxis beziehen: den ‚revolutionären‘ und den globalisierungskritischen Internationalismus. Wir haben beide Strömungen in ihre Grundzügen sowie Stärken und Schwächen beschrieben. Dabei haben wir auch insbesondere eine Kritik am heutigen Internationalismus der Klimabewegung geübt. Am Ende kommen wir zu dem Schluss, dass ein starker Internationalismus (wieder) gemeinsame Kristallisations- und Interventionspunkte braucht. Außerdem benötigt er Austauschräume, in denen anhaltende Beziehungen geknüpft und langfristige Strategien entwickelt werden. Ein solcher Internationalismus sollte auf den Lehren der Strömungen aufbauen und sie gemeinsam weiterdenken. Die Proteste gegen die European Gas Conference in Wien 2023 und 2024 waren ein Versuch in diese Richtung.
Die European Gas Conference
2023 fand die European Gas Conference (EGC) in Wien zum 16. Mal statt. Als Host tritt der österreichische Erdöl-, Erdgas-, und Chemiekonzern OMV auf. Das Selbstverständnis der EGC ist es, Europas führendes und größtes Netzwerk zu Erdgas und zentralen Fragen um das Thema zu sein. Über drei Tage hinweg vereint die Konferenz CEOs der größten europäischen Gaskonzerne sowie Akteur*innen aus der Finanzwelt und Politik. Kurzum: Auf der EGC finden wichtige Weichenstellungen zur europäischen und globalen Energieversorgung statt. Dass diese Weichenstellungen uns eigentlich alle etwas angehen, ist der EGC herzlich egal. Im Zentrum stehen die Interesse der fossilen Akteur*innen. Die Öffentlichkeit und auch die Presse sind weitestgehend ausgeschlossen.
Klimakatastrophe, Kriegstreiber und soziale Frage
Als fossiler Brennstoff heizt Erdgas die Klimakatastrophe weiter an. Außerdem ist Gas bedeutender Spielball, bei der Aufteilung geopolitischer Einflusssphären und der Durchsetzung von Interessen. Die energiepolitischen Folgen des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine haben uns das in Europa noch einmal drastisch vor Augen geführt. Auch im Nahen und mittleren Osten ist Erdgas ein Kriegstreiber. Die europäische Strategie lautet aber nicht weg von Erdgas, sondern ‚Diversifizierung‘. Auf der Suche nach weiterhin billigem Gas wird sich entweder wieder in die Hände von Autokraten begeben – bspw. in Aserbaidschan oder Saudi-Arabien – oder das europäische Zentrum lässt seine imperialen bzw. post- und neokolonialen Muskeln spielen. Etwa indem Pipeline-Projekte am afrikanischen Kontinent oder an der europäischen Peripherie forciert werden.
Außerdem stellt sich bei (fossilen) Energieträgern wie Gas auch immer die soziale Frage. Denn Erdgas fließt nicht nur durch Pipelines, sondern kommt auch ganz direkt in unseren Küchen, Wohn- und Badezimmern an. Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Preise für Gas in die Höhe schnellen lassen. Doch bereits vor Februar 2022 waren die Preise durch einen liberalisierten EU-Energiemarkt deutlich angestiegen. Diskussionen um eine soziale und ökologische Energie-Grundsicherung als Alternative verbleiben bislang in der Nische. Unter anderem, weil die Akteur*innen, die bei der European Gas Conference zusammenkommen, schlicht nicht an solchen Debatten interessiert sind. Sie machen lieber weiter Profite mit Grundbedürfnissen, als sich tatsächlichen Lösungen zu widmen.
EGC als Kristallisations- und Interventionspunkt
Kristallisations- und Interventionspunkte dienen Bewegungen als Brennglas für die sozialen, politischen und ökologischen Probleme der kapitalistischen Logik. Anhand solcher Punkte lässt sich einerseits breites Mobilisierungspotenzial innerhalb von Bewegungen entfalten. Aufgrund der Zuspitzung, die sie darstellen, sind sie aber andererseits auch geeignet, eine größere Öffentlichkeit auf Themen aufmerksam zu machen. Durch das Intervenieren werden die Abläufe der entsprechenden Veranstaltungen, Infrastrukturen oder Vorhaben gestört. So wir ihrer – eigentlich absurden – Normalisierung etwas entgegengesetzt. Für Bewegungen ist das gemeinsame Arbeiten an diesen Punkten außerdem zentral, um in einer gemeinsamen Praxis Vertrauen und Beziehungen aufzubauen.
Im ersten Teil unseres Artikels haben wir kritisiert, dass der ‚revolutionäre‘ Internationalismus Kristallisationspunkten hinterherläuft bzw. diese nicht sucht. Die globalisierungskritische Strömung hält Erfahrungen erfolgreicherer Mobilisierungen und Interventionen vor allem an Orten globaler politischer Entscheidungen bereit. Die Klimabewegung hat sich in den letzten Jahr sehr viel auf Orte der Zerstörung konzentriert und damit (zu) viel Fokus auf das Lokale gesetzt. Mit der European Gas Conference machten wir im Frühling 2022 einen Kristallisationspunkt aus, der strategisch an Traditionen anschloss, aus der Vergangenheit lernte und den Umgang mit Kristallisationspunkten weiterentwickelte.
Erfolgreiche Gegenproteste
In unserem Protest begegneten wir der EGC mit einer Dreiteilung in Gegengipfel, direkten Aktionen und breiter Demonstration – ein bewährtes Mittel aus der Hochzeit der globalisierungskritischen Bewegung. 2023 fand am Wochenende vor der EGC der People’s Summit als Gegenveranstaltung statt. Bis zu 500 Personen beteiligten sich Freitag bis Sonntag an Workshops, Panels und Diskussionsveranstaltungen. Montag bis Mittwoch begleiteten Aktivist*innen die EGC selbst mit unterschiedlichsten Aktionen. Unangemeldete Demonstrationszüge zum Veranstaltungsort – einem Luxus-Hotel in der Wiener Innenstadt – sowie Abseilaktionen vom selbigen gehörten genauso zum Repertoire wie Blockaden der Gleiszufahrt sowie dem Haupteingang der OMV-Raffinerie im nahe gelegenen Schwechat.
Am letzten Abend crashten Aktivist*innen das Galadinner der EGC. Parallel dazu fand die abschließende Demonstration statt. An ihr beteiligten sich lokale Gruppen, große NGOs und auch internationale Akteur*innen. So sprachen am Demowagen Aktivist*innen, die eben noch die OMV-Gleise blockiert hatten, genauso wie Genoss*innen der Kampagne „Don‘t Gas Africa“.
2024 wurde diese Choreographie wiederholt. Wieder hielten Aktivist*innen eine dreitägige Gegenkonferenz ab. Direkte Aktionen erübrigten sich, weil die Veranstalter*innen die EGC kurzfristig auf unbestimmte Zeit verschoben. Offizielle Begründung war die Sorge vor erneuten Protesten. Dieser Erfolg wurde bei der gemeinsamen Demo am Dienstag gebührend gefeiert. Er zeigt, dass die EGC als Interventionspunkt gut gewählt war. Die EGC war ein Akteur, dem man tatsächlich weh tun konnte. Ein Akteur, der die Öffentlichkeit fürchtete, in welche er durch die Proteste gezerrt wurde. Dabei war auch entscheidend, welche Form des Protestes geschaffen wurde. Es war ein ausdrucksstarker Protest, der die richtigen Themen auf den Tisch brachte, der medial gut vor- und aufbereitet war und der einem internationalen Akteur auch einen internationalen Protest entgegensetzte.
Austausch am Gegengipfel unter klaren Vorzeichen
Ein neuer Internationalismus braucht aber nicht nur geeignete Interventionspunkte. Wir brauchen auch Austausch und Beziehungsarbeit sowie langfristige Strategien. Mit dem Gegengipfel haben wir den Anspruch gestellt auch selbst „Alternativen zu entfachen“. Aktivist*innen aus vielen Teilen Europas waren angereist, genauso wie Genoss*innen aus beispielsweise Simbabwe, Kanada, den USA und Russland.
Dabei war es ein Teil des Erfolgs, dass mit Gas als fossilen Brennstoff eine klare Klammer für den Austausch gesetzt war. Das hatte Mobilisierungskraft. Internationalen Gruppen und Kampagnen wie „Don‘t Gas Africa“ oder Genoss*innen aus Texas, die 2024 auf der Konferenz waren, konnte ein klares Angebot gemacht, warum sie den weiten Weg nach Wien auf sich nehmen sollten. Einer der eindrücklichsten Momente war das Eröffnungspodium des People‘s Summit 2024. Dort sprachen Vertreter*innen sogenannter „communities on the frontline“ – also Personen aus Gemeinschaften, deren Existenz von Gasprojekten ganz konkret bedroht oder beeinträchtigt ist. Geographisch reichte dieses Panel von Rumänien nach Russland, nach Simbabwe und Nordamerika und wieder zurück nach Österreich.
Die Klammer Gas hat aber nicht nur Menschen aus verschiedenen Regionen zusammengeholt und ins Gespräch gebracht. Es ist auch gelungen, Akteur*innen unterschiedlicher Enden des Protestspektrums zusammenzubringen. Etwa die NGO-Campaigner*innen, die schon jahrelang im Feld sind, für ihre Arbeit zum Thema Gas bezahlt werden und nicht zuletzt deswegen viel Wissen und auch Ressourcen mitbringen. Auf der anderen Seite waren – bereits 2023 und nochmals verstärkt 2024 – die bereits erwähnten Vertreter*innen der „communities on the frontline“ anwesend: Sie machten für alle greifbar, worum es bei diesen Themen geht – nämlich ums (Über-)Leben.
Und schließlich tummelten sich am Gegengipfel zahlreiche Aktivist*innen, aus unterschiedlichen klimapolitischen und sozialen Feldern, die durch die zahlreichen Workshops und Veranstaltungen ein zunehmendes Bewusstsein für die Zusammenhänge erhielten. Insbesondere 2023 war es auch gelungen, das Thema Wohnen und Energiepreise noch einmal stärker auf die Agenda zu setzen. Bspw. mit Gruppen wie „Don‘t Pay UK“ oder „The European Action Coalition for the Right to Housing and to the City“.
Anhaltende Beziehungen und langfristige Strategien
Die Organisation von Protesten – egal ob Aktionen, Gegengipfel oder Demonstrationen – hat immer das Potenzial, über sich selbst und den konkreten Anlass hinauszuwirken. Das ist dann der Fall, wenn es gelingt, anhaltende Beziehungen zu knüpfen und längerfristige Strategien zu entwickeln.
In diesem Sinne haben wir die Proteste in Wien von Anfang an innerhalb der aktivistischen Szene relativ breit aufgesetzt hatten. Unterschiedliche Gruppen und Personen waren an unterschiedlichen Enden in die Vorbereitungen und Durchführung eingebunden. So lernten sich Genoss*innen kennen und es entstand Vertrauen. Andererseits versuchten wir von Energiearmut sowie Gasbohrungen betroffene Menschen in Österreich einzubinden, um eine lokale Vernetzung zu schaffen und zu stärken, die nicht vom Stattfinden der EGC abhängig ist. Auf internationaler Ebene sind wir ähnlich vorgegangen. Von Anfang an sollte nicht nur von Österreich aus organisiert werden. Der dadurch anvisierte Beziehungsaufbau ist uns in manchen Bereichen besser, in anderen schlechter gelungen. Die Frage, wie anhaltend die Beziehungen sind, die geschaffen wurden, kann erst in Zukunft beantwortet werden.
In strategischer Hinsicht haben wir uns vor allem im Jahr 2024 vertieft. Neben der Dreiteilung in Gegengipfel, (geplante) Aktionen und Demonstration fand auch ein „Movement Building“ – also Bewegungsaufbau – statt. Ein ganzer Tag am Gegengipfel war der Frage nach gemeinsamen Strategien gewidmet. Als offizieller Teil des Programms konnten alle, die wollten, daran teilnehmen. In Anbetracht der aktuellen Lage beschäftigten sich die teilnehmenden Aktivist*innen vor allem mit der Frage, was in Zukunft mit der European Gas Conference passieren würde; welche anderen vereinenden Themen es gibt – bspw. Wasser-Knappheit – und wie wir uns gemeinsam gegen den aufkommenden Faschismus wappnen können.
Wie gemeinsam weiterdenken?
Es wird auch in Zukunft weiter solche offenen Räume des Austauschs brauchen. Wir müssen aber auch geschlossenere Räume rein für organisierte Gruppen schaffen, wo noch konzentrierte Diskussionen stattfinden – auch und insbesondere zwischen verschiedenen internationalistischen Strömungen.
Die Proteste rund um die EGC waren für diejenigen von uns, die sich im ‚revolutionären‘ Internationalismus verorten, eine Möglichkeit, die eigene Praxis eines Realitätschecks zu unterziehen. Gerade in Bezugnahme auf Kurdistan und Rojava kann das Thema Erdgas nicht vernachlässigt werden. Zu sehr sind politische Entwicklungen in der Region von fossilen und ökonomischen Interessen abhängig. Vertreter*innen des ‚revolutionären‘ Internationalismus müssen sich fragen, wie gut sie es aktuell schaffen, mit jenen Akteur*innen ins Gespräch zu kommen, die das Wissen zu diesen Themen haben und potenziell solidarisch sind.
Umgekehrt ist es begrüßenswert, wenn das Wissen um die konkrete und gelebte Praxis revolutionärer Kämpfe sowie ihre Tradition eingebracht wird. Die Kämpfe erinnern uns einerseits, bei all den Niederlagen, die wir immer wieder erfahren und den vielen scheinbaren Ausweglosigkeiten, dass eine andere Welt möglich ist. Andererseits sprechen sie aber auch eine Warnung aus, uns mit kleinen Erfolgen nicht vorschnell zufrieden zu geben, sondern anhaltend die Frage nach dem großen Ganzen zu stellen.
Flexibel bleiben entlang der Pipeline
Mit der Verschiebung der EGC haben wir die fossile Lobby nicht abgeschafft. Sie wird andere Wege finden, sich zu vernetzen und zu organisieren. Ausgerechnet während des Verfassens dieses Artikels haben wir erfahren, dass die Konferenz im Jänner 2025 in der rumänischen Hauptstadt Bukarest nachgeholt werden soll.
Deswegen muss unser Internationalismus entlang der Pipeline flexibel sein. Dazu brauchen wir lokal gut organisierte Gruppen und Vernetzungen, an denen internationale Netzwerke andocken können. Damit meinen wir nicht nur Gruppen, die inhaltlich arbeiten. Wir meinen insbesondere auch die, die sich um Essen kümmern, Awareness-Arbeit leisten oder gegen Repression kämpfen. Ohne sie hätten unsere Proteste in Wien niemals funktioniert bzw. wir hätten gar nicht damit beginnen brauchen. Wenn die EGC nicht mehr in Wien stattfindet, wird es für uns, die wir in Wien sind, schwieriger große Mobilisierungen zu planen. Auch das wird uns zwingen, Flexibilität als Kreativität zu denken und uns weiter zu entwickeln. Was gestern die EGC in Wien war, ist heute der World LNG Summit in Berlin und morgen vielleicht die erste Bohrung der OMV am Schwarzen Meer. Wir müssen in die Lage kommen, überall flexibel und in Verbindung mit lokalen Strukturen auftauchen zu können.
Ob uns dieses flexible Auftauchen tatsächlich gelingt, ist abzuwarten. Solange bleibt auch die Frage, wie nachhaltig die Proteste in Wien für uns als Bewegung(en) und im Aufbau eines neuen Internationalismus waren, unbeantwortet. Gewiss bleibt jedoch, dass es weiterhin aus 160 Jahren internationalistischer Geschichte zu lernen gilt – sowohl aus Fehlern als auch aus Erfolgen und einzulösenden Versprechen.
*** Dieser Artikel wurde von zwei Aktivist*innen verfasst, die in BlockGas bzw. der Organisierung des People‘s Summit against EGC aktiv sind. Der Text profitiert von gemeinsamen Reflexionen innerhalb der Gruppen, gibt aber insbesondere die Perspektive der Verfasser*innen wieder. Teil eins ist hier nachzulesen. Weitere Artikel des mosaik strategy summer findet ihr hier.***
Titelbild: Bianka Csenki